Michaela Schwentner
Im Dazwischenliegenden, Beweglichen schwingt etwas Unbestimmtes mit
Michaela Schwentner malt über die Ohren Bilder in den Kopf. Was im Clubkontext mit einer Begeisterung über technische Möglichkeiten begann, hat die Künstlerin und Filmemacherin zu PhilosophInnen, Eiskunstläuferinnen und wilden (ausgestorbenen) Vögeln geführt. Sie nähert sich zeitgenössischen Themen durch Veränderung der Ordnung, überführt sie in Schönheit und schafft damit mögliche Ausblicke. Ein Spaziergang von orange nach grün.
Du hast Theaterwissenschaft, Philosophie und Publizistik studiert, machst aber Kunst und lehrst Videokunst und konzeptuelle Fotografie, aktuell an der TU Wien. Woher kommen die Skills dafür?
Ich wollte Anfang der 1990er Jahre Filmtheorie studieren, was in Wien noch nicht möglich war. An der FU Berlin gab es diese Studienrichtung bereits, aber ich wollte mein wachsendes Netzwerk hier in Wien nicht aufgeben, sondern das Angebot mitentwickeln und -gestalten. Letztlich hat mir die Theorie allein nicht genügt, ich wollte sie in die Praxis umsetzen und habe begonnen, mit befreundeten, damals nur männlichen Sound Artists für Soundvisualisierungen zu kooperieren. So entstanden kollaborative Projekte mit Radian, Pure, Peter Rehberg; später mit Electric Indigo und Pia Palme, mit denen ich auch eine Inszenierung für Wien Modern dokumentiert habe. Heute verhandle ich theoretische Überlegungen und Aspekte in meinen filmischen Arbeiten und habe so beide Ansätze in meiner künstlerischen Praxis vereint. Ich sitze sozusagen zwischen den Stühlen. das entspricht auch meiner grundsätzlichen Haltung gegenüber Einordnungen, Zuschreibungen, Kategorisierungen … Ich bewege mich gern in diesen Zwischenbereichen, und ich probiere gern Neues aus, so wie ich begonnen habe, Filmscripts zu schreiben. In naher Zukunft möchte ich meine Filme auch für’s Radio adaptieren und Hörspiele machen. Auch performative Umsetzungen im Ausstellungskontext wären denkbar, um sie wieder in ein anderes Format und einen anderen Raum zu übersetzen.
Und dein Lehrauftrag?
Ich unterrichte am Institut für Kunst und Gestaltung an der Fakultät Architektur und Raumplanung. In meiner Lehrveranstaltung sollen Studierende im zweiten Studienabschnitt ein künstlerisches Projekt umsetzen und so ein stärkeres Bewusstsein für Kunst entwickeln.
In den 1990ern gab es einen fixen Kreis von „Elektronikern“ in Wien, Frauen kamen etwas später dazu, darunter Electric Indigo, Angélica Castelló und Billy Roisz. Hast du sie damals schon gekannt?
Von Electric Indigo hatte ich nur gehört, Billy Roisz habe ich bereits gekannt, jedoch in einem komplett anderen Kontext, als sie noch Mitglied bei Vis Plastica war. Erst 1998 begegneten wir uns dann über die experimentelle elektronische Musik im Wiener rhiz. Damals bestand dort eine enge Community, in der alle fast alles gemacht haben, vom Barbetrieb übers Djing bis hin zu audiovisuellen Live Performances – eine schöne, dichte, nahrhafte Situation, ein guter Nährboden für die Implementierung dieser Musikszene, die heute immer noch blüht. Mit Electric Indigo hatte ich dann durch female:pressure mehr zu tun, ich habe sie auch für IMAfiction portraitiert. Angélica Castelló hat später auf unserem Label mosz records ihr Album Bestiario veröffentlicht.
Was hat dich das Label mosz gründen lassen?
Es gab Anfang 2000 in Österreich noch wenige Labels, die experimentelle elektronische Musik veröffentlicht haben. Stefan Németh und ich wollten den vielen aktiven Musiker*innen in unserem Umfeld, die so spannende Musik produziert hatten, eine Plattform bieten und gründeten 2003 das Label mosz. 2008 hat Stefan das Label verlassen, ich habe noch bis 2013 weiter veröffentlicht, seither schlummert es. Die Arbeit an meinen Filmen und die Lehrtätigkeit nehmen meine gesamte Zeit in Anspruch. Ich entwickle allerdings gerade ein neues Projekt:
ich möchte die Filmscores von Komponistinnen in einer sehr kleinen Auflage auf 7” releasen, etwa Maja Osojniks adaptiertes Material für re-BIRDING und Julia Purginas Material für re-GEO. Auch ein Release von Gischt aka Ursula Winterauer ist geplant. So kämen meine künstlerische Arbeit mit der kuratorischen und der Labelarbeit und zusammen.
Was war deine Herangehensweise, Sound zu visualisieren? Der Umgang mit elektronischer Musik brachte dich ja zu ganz anderer Aktivität als dem Musikmachen …
Ich bin in der Realisation eher bild- als tonaffin, aber Musik und Klangerzeugung sind essenziell wichtig für mich. Sehr wichtig waren für mich neben meiner Vorliebe für die Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts, vor allem Dadaismus und Bauhaus, die Kunststücke, eine Late Night-Fernsehreihe in den 1980ern im ORF, in der Kunstfilme präsentiert wurden – das war für mich DIE Begegnung mit dem Anderen, dem Neuen, Spannenden, dem über konventionelle Bildsprache Hinausgehenden. Ich etabliere zur Aneignung von Wissen immer eigene Strukturen, so habe mir sozusagen meine eigene Filmschule eingerichtet und täglich mehrere Stunden im Österreichischen Filmmuseum verbracht. Praktischerweise habe ich gleich nebenan, in der Spiegelgasse, gewohnt. Ich habe dort die verschiedenen Filmgenres studiert, das Expanded Cinema, die US-amerikanischen B-Movies der 1960er und 1970er Jahre, das deutsche Kino der 1970er Jahre, Direct Cinema, Nouvelle Vague, Neorealismo, das New American Cinema, Filme von Lazlo Moholy-Nagy, Viking Eggeling und Oskar Fischinger, die frühe russische Avantgarde, internationales Arthouse Kino. Es war schließlich der Experimentalfilm, dessen Möglichkeiten in Form und Sprache, seine poetische Form mich am meisten beeindruckt haben. Ich habe sie gewählt, weil sie mir auch einen Spielraum lässt. Im Dazwischenliegenden, Beweglichen schwingt etwas Unbestimmtes mit.
Und nach dem Filmmuseum ging es an die Turntables?
Anfang der 1990er hab ich im damals noch existierenden Ikar und in der Bluebox Platten aufgelegt. Meine wichtigsten musikalischen Einflüsse waren Krautrock, New Wave, Postpunk, Minimal Music, dann natürlich HipHop, Rave, Techno und Ambient. Zur gleichen Zeit hatte ich mit Stefan Németh, damals noch Mitglied von Radian, heute Teil von Innode, im Wiener Veranstaltungslokal B.A.C.H. den Club LINK gehostet. Schon damals lag der Schwerpunkt auf experimenteller elektronischer Musik und Soundvisualisierung, die zur damaligen Zeit noch relativ neu war. In meiner damaligen Wohnung installierte ich 1995/96 den Offspace Jadengasse mit Konzerten und Ausstellungen, jeweils nur für einen Abend. Es gab damals sehr viel Zulauf und Anfragen, weil eine solche Art von Events noch rar war, es kaum Offspaces oder Art spaces gab. So entwickelten sich Vernetzungen in den Bereichen Sound und Bildende Kunst.
Und damit wurden dann die Clubs bespielt …
Wir wollten für unsere Veranstaltungen immer eigene Räume schaffen bzw. den vorhandenen Raum für das jeweilige Live-Set adaptieren. So schufen wir spezielle Installationen aus textilen Geweben oder bauten ganze Landschaften oder Kulissen und projizierten Super-8-Loops darauf bzw. hinein. Es war uns dabei immer wichtig, unsere auf den Sound abgestimmten Projektionen nicht als Visuals zu bezeichnen und uns vom VJing in den Clubs abzugrenzen. Die Super-8-Filme konnten natürlich nicht vom Sound gesteuert werden, weshalb wir auch schnell davon weggekommen sind. Meinen ersten eigenen Computer habe ich gekauft, um Bildmaterial digital zu produzieren. Das war ein Mac mit einer 6 GB Festplatte und 256 MB RAM! Die ersten externen Festplatten waren riesige Geräte in Abmessungen von kleinen Möbelstücken, unglaublich viel Material für wahnsinnig wenig Speicherplatz. Ich produzierte zunächst noch nicht soundgesteuertes, sondern dem Sound und der Klangstimmung angepasstes Bildmaterial, arbeitete mich nach und nach in diverse Realtime-Animationssoftware ein und hab schließlich für audiovisuelle Live Performances mit MusikerInnen soundgesteuert gearbeitet.
Und Jade Enterprise gemahnt also gar nicht an den grünen Edelstein?
Nein, das war meine damalige Adresse, die Jadengasse im 15. Wiener Gemeindebezirk, von der ich meinen Künstlerinnennamen abgeleitet habe. Mit dem club jade bin ich gleich nach dessen Eröffnung ins Wiener Gürtellokal rhiz eingezogen und habe dort und auch an anderen Orten bis 2011 als dj jade Abende bespielt und Live-Konzerte gehostet. Das Pseudonym jade habe ich auch für meine audiovisuellen Live-Projekte verwendet. Nach einer längeren Pause habe ich Anfang 2020 meine Veranstaltungstätigkeit mit der Reihe XX Y X wieder aufgenommen und präsentiere dort queerfeministische Positionen und experimentelle, genreübergreifende Formate in den Bereichen Sound Art und Bildende Kunst mit interdisziplinär und performativ arbeitender KünstlerInnen aus dem In- und Ausland. Ich veranstalte in diesem Rahmen seit mittlerweile drei Jahren monatlich an wechselnden Orten in Wien, primär im Echoraum mit Sara Zlanabitnig und Alisa Beck als Kooperationspartnerinnen, aber auch in den Westbahnstudios und im Sehsaal, wo eher Installationen und Screenings stattfinden. Das Jade-Grün ist heute übrigens neben dem Agaven-Grün und dem Aare-Grün eine meiner Lieblingsfarben.
Was ist das Prinzip deiner Arbeitsweise? Sie ist ja mindestens genährt von einer technikaffinen Haltung …
Die Aneignung von technischem Wissen und die Entwicklung meiner Bildsprache geschahen autodidaktisch. Mich treiben eine immerwährende Neugier und die Suche nach Herausforderungen. Außerdem wollte ich selber programmieren können, um unabhängig zu sein. Darin wurde ich auch nie behindert oder angezweifelt, ich wollte mir nie helfen lassen, sondern alles selber können. Ich habe dabei allerdings immer männlichen Kollegen über die Schulter geschaut, muss ich gestehen. Das liegt wohl daran, dass ich vor 20 bis 30 Jahren einfach noch nicht von Kolleginnen wusste, weniger gut vernetzt war bzw. es auch weniger Netzwerke und Kollektive gab, so wie es heute der Fall ist – eine höchst erfreuliche Entwicklung! So habe ich viele Tage und Nächte mit learning by doing verbracht. Das war vielleicht etwas nerdig, aber wenn ich mir etwas in den Kopf setze, arbeite ich so lange daran, bis ich es umgesetzt habe. Und erfolgreiche Lernergebnisse oder zufällige Entdeckungen bedeuteten schöne, motivierende Glücksmomente. Meine frühen abstrakten Arbeiten lassen den Zeitaufwand, auch die Rechenleistung gar nicht erahnen. Ich wurde 2001 von Wien Modern eingeladen, eine Raumprojektion für den Neuen Saal, dem heutigen Berio-Saal, zu entwickeln. Das Rendering dafür dauerte 100 Stunden! Meine Arbeitsweise bestand damals hauptsächlich darin, Material zu schichten und dann wieder abzutragen. Dieser Zugang verband mich beispielsweise mit jenem von Radian, wir hatten sehr ähnliche Methoden im Produktionsprozess. Deshalb gab es wohl auch die vielen Kooperationsprojekte. Ich war damals natürlich nicht die einzige, wir waren viele Soundvisualistinnen oder KünstlerInnen, die mit Sound Artists kollaboriert haben, sodass wir bald unter dem Label Austrian Abstracts zusammengefasst wurden. Die abstrakte Bildproduktion in Kombination mit elektronischer Musik hat sich etabliert, entsprechende Programmschienen wurden in Filmfestivals installiert, unsere Arbeiten wurden u.a. vom Filmverleih sixpackfilm in Wien oder lightcone in Paris vertrieben, und wir waren einige Jahre lang sehr erfolgreich.
Woher kommt deine bildliche Vorstellung, hattest du auch bildnerische Ambitionen?
Ich bin in einer kleinen Gemeinde in einer landwirtschaftlich geprägten Gegend in Oberösterreich aufgewachsen, habe als Teenager die Schule für Mode und Bekleidungstechnik besucht mit dem Plan, Designerin werden. Zeichnen und Malen lagen mir, und wie bereits erwähnt, hatte ich bereits Bekanntschaft mit der Moderne, dem Bauhausstil, Dada, etc. gemacht, entsprechend ist auch mein bildnerisches Verständnis geformt. Ich mochte immer schon klare, einfache Formen, keine unnötige Bildinformation. Und ich denke meine Filme, die Summe der einzelnen Frames, wie eine Malerin mit einem bestimmten Bildaufbau. Meine Filme und Videoinstallationen folgen einer stringenten, konsequenten Bildkomposition. Jeder Frame könnte für sich isoliert ein eigenständiges Bild sein, sowohl in meinen aktuellen wie in meinen früheren abstrakten Arbeiten. Das ist kein Widerspruch zu meiner Vorliebe für offene Formate, die sich durch meine gesamte künstlerische und kuratorische Praxis ziehen.
Das impliziert die eigentliche Pionierleistung der ersten ElektronikerInnen: In den 1990er Jahren war die Produktion elektronischer experimenteller Musik fast eine existenzielle Entscheidung, weil sie unglaublich viel Raum und Investitionsleistung brauchte. Diese Kunst erforderte ein ziemlich umfassendes Commitment.
Darum geht es doch in der Kunst: einem unmittelbaren Drang nachgeben, ihm freien Lauf lassen, alles Mögliche in Bewegung bringen, um ihn umsetzen zu können. Das heisst, auch Einschränkungen, Verzicht, Nachteile in Kauf zu nehmen. Es ist ja nicht einfach, im experimentellen Feld zu produzieren und damit überleben zu können. In Österreich sind wir mittlerweile fördertechnisch besser aufgestellt, doch Förderungen alleine reichen nicht und bekommen vor allem auch nicht alle. Und Bewegtbildkunst lässt sich hierzulande noch immer nicht gut verkaufen. Manchmal führt das in eine Art Schizophrenie: im dienstleistenden Sinn produziert man Auftragsarbeiten, um Geld zu verdienen, um die eigene künstlerische Arbeit finanzieren zu können.
Dieses Selbstverständnis als Künstlerin meint ja auch, sich selbst ernst zu nehmen, mindestens zu hören. Fiel dir das leicht?
Das war nie die Frage, sondern ganz klar: Als ich ungefähr 7 Jahre alt war, fragte mich meine Großmutter, was ich mal werden will, und ich antwortete, ohne lange nachdenken zu müssen: Lehrerin oder Künstlerin. Jetzt bin ich beides. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und hatte immer die Offenheit und das Interesse, das Andere, das Nicht-Etablierte, das Kritische zu suchen. Das war damals einerseits mein Fluchtpunkt, der Strohhalm, an den ich mich klammerte, andererseits schon ein Anzeichen meiner Sturheit, Beharrlichkeit und Unbeirrbarkeit, meinen eigenen Weg zu gehen und meine Ideen zu realisieren. Ich nähte mir an der Modeschule Kleider im Empire-Stil und kleidete mich in Knallfarben wie ein Paradiesvogel. Die peinliche Berührung meiner Eltern konnte ich nicht verstehen, es war mein damaliger Stil, und ich wollte nicht so langweilig und konform sein wie die anderen. Als Teenager will man ja auch Grenzen austesten, überschreiten, rebellieren. Und die Neugier eben, es gibt doch mehr als das um mich herum und noch mehr auszuprobieren! Ich wollte das nicht einsehen, auch nicht, dass ich als Mädchen nicht dasselbe tun kann wie Jungs. Mir wurden nie Steine in den Weg gelegt, ich wurde vor allem von meinen Lehrerinnen gefördert. Meine Eltern liessen mich tun, was ich wollte, ich musste es mir nur selber finanzieren. Ich bin eher ermutigend als herabwürdigend behandelt worden. So ist mir auch das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Kunstschaffenden lange nicht aufgefallen, und ich habe erst viel später feststellen müssen, dass das nicht selbstverständlich war und habe erst dann ein genderkritisches Bewusstsein entwickelt. Meine Arbeiten haben sich seither sehr gewandelt, in meinen Filmen verhandle ich Genderungerechtigkeiten und -verschiebungen und lasse unterrepräsentierte, unterdrückte, vergessene Stimmen zu Wort kommen.
Die Idee, sich wie ein Paradiesvogel zu kleiden, erinnert an re-BIRDING. Dort sind die Figuren mit “Vogelfedern” ausgestattet, die leidvoll, fragend, stolz und fordernd in die Kamera blicken. Eine von ihnen beginnt heftiger zu atmen, was diesen Vogel ins Leben zurückzuholen scheint. Ist das ein Protestlaut oder eine Befreiung, die auch mit dir selbst zu tun hat?
Diese Interpretation ist naheliegend. Das bunte Kleiden war ein unbedarfte Austesten, Grenzen überschreiten oder zumindest damit Spielen: Warum nicht bunt? In den 1970ern war rundherum alles so langweilig in grau und braun, auch angstbesetzt, nur nicht auffallen, aus der Reihe tanzen! Für mich bedeuteten Farben ganz elementar Selbstausdruck, Lebendigkeit und Wärme, die ich mir nicht nehmen lassen wollte. Der Paradiesvogel ist ja auch ein verletzbares und gefährdetes Wesen, weil er so schön ist, sich trotz seiner Empfindsamkeit aber nicht einschränken lassen will. Er darf nicht sein, was oder wie er gern sein möchte. So wie verfolgte und diskriminierte Minderheiten und Frauen, denen der Bewegungs- oder Lebensraum immerzu verkleinert oder ganz genommen wird. In der Tierwelt stellen Singvögel für mich den Inbegriff von Verletzlichkeit dar, weil sie sehr angreifbar sind, aber ein Vogel kann einen unfassbar großen Raum mit seinem Gesang öffnen und gestalten. Vögel gibt es seit unglaublich vielen Jahrmillionen, sie begleiten uns in Literatur und Kunst, sind teilweise Kulturfolger und auch sehr mit dem Menschen verquickt. Der Verzauberungsgrad wächst mit dem Bestand von Vögeln. Mehr Land, weniger Versiegelung, weniger intensive Landwirtschaft bedeutet mehr Vögel.
Und die Stimmerzeugung ähnelt sich bei Mensch und Vogel …
Es gibt einen Unterschied beim Pressen der Luft durch den Kehlkopf. Bei den Menschen erfolgt die Stimmbildung in der Larynx, bei Vögeln in der Syrinx, dem unteren Kehlkopf, der zweigeteilt ist.
Bei re-BIRDING singen die Vögel aber nicht …
Jedenfalls singen keine realen Vögel. Im Film geht es ja auch um ausgestorbene Vogelarten, deren Gesang wir heute nicht mehr kennen, gar nicht kennen können. Über die Rekonstruktion haben wir, die Komponistin Maja Osojnik und ich, versucht, uns klanglich anzunähern bzw. eine Stimmung zu erzeugen, die einerseits die Trauer über das Verschwinden dieser Vögel durch Kolonialismus und Kapitalismus und andererseits die heutigen digitalen Produktionsmittel und -möglichkeiten sicht- und spürbar machen soll. Die Sprech- und Singstimmen der Vogelfiguren kommen aus dem Off, um so auch das Abwesende verstärkt zu thematisieren. Die bunten, schillernden Kostüme der Vogelfiguren bestehen aus textilen Bändern, die durch den Film gezogen, gewickelt und verflochten werden: es geht um die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, um Aktion und Konsequenz, um Verantwortung. Es ist natürlich auch ein Verweis auf Donna Haraways Fadenspiele, ihre String Figures, und auf den Spekulativen Feminismus.
Diese Bänder werden in meinem nächsten Projekt re-WEAVING, ein feministisches Gewebe wieder vorkommen. Es wird darin um die Rehabilitation nicht nur der Bauhaus-Frauen, sondern all jener Kunstgewerblerinnen und Künstlerinnen aus dem frühen 20. Jahrhundert gehen, denen der Zugang zu den Universitäten verwehrt war. Statt Kunst oder Architektur zu studieren, war ihnen nur gestattet, Kunstgewerbeschulen besuchen. Und selbst am Bauhaus gab es nach der anfänglichen Offenheit rasch Zugangsbeschränkungen für Schülerinnen. Einige der Bauhaus-Frauen, wie Otti Berger, Gunta Stölzl oder Anni Albers, konnten sich etablieren und unterrichten und sich in ihrem Beruf verwirklichen, doch auch sie waren mit internen Konflikten konfrontiert.
Gleichzeitig mit der Idee zu re-WEAVING entstand die Idee zu re-VOLTE – ein feministischer Atlas, der Frauen versammelt, die selbstermächtigend handelten und handeln und nach ihrer Motivation, ihrem Motor, ihren Motiven fragt und gleichzeitig auch danach, welche Hürden sie umzugehen hatten und haben. Mich interessiert der Nährboden für ihre Haltung, ihr Umfeld, ihre Einflüsse.
Ich recherchiere ihre Lebensläufe und möchte darauf basierend eine verdichtete Stimme, einen Chor sprechen oder auch singen lassen, um die kämpferischen Positionen und Forderungen von Frauen zu vermitteln. Denn schon in der Sprache lässt sich die heteropatriarchale Struktur klar erkennen: Die Schweizer Juristin Iris von Roten benennt in ihrem Buch Frauen im Laufgitter sehr wütend die Situation der Frauen in ihrem Land, macht an den Bezeichnungen “Serviertöchter“ und “Krankenschwester” für erwachsene, unverheiratete Frauen den despektierlichen und herabwürdigenden Umgang in der heteropatriarchal geformten Gesellschaft fest. Erst die Ehe machte die Töchter und Schwestern zu Frauen, sie durften dann aber nicht mehr arbeiten. Die heteropatriarchale Gesellschaftsstruktur hat so viele Lebensentwürfe von und für Frauen verunmöglicht. Das ist noch lange nicht genügend aufgearbeitet.
Diese Geschichte lebt noch in unseren Zellen, auch wenn wir nach 1970 Geborenen unser Leben viel freier gestalten können. Solange diese Freiheit aber nicht für alle Menschen auf dem gesamten Globus gilt, ist es keine. Wir repräsentieren nur verschiedene Entwicklungsstadien der Frauwerdung, das Gestrige findet ja auch heute noch auf anderen Teilen der Erde statt.
re-VOLTE — ein feministischer Atlas ist nicht unbedingt geographisch gedacht. Es geht um Verknüpfungspunkte, Motive der Frauen, Aktivistinnen, Künstlerinnen und ihren Kampf oder Aktivismus über Länder und Zeiten hinweg. In Italien war in den 1970er Jahren das feministische Kollektiv Rivolta femminile um Carla Lonzi aktiv, in Frankreich gründeten Carole Roussopoulos, Yona Wieder und Delphine Seyrig zur selben Zeit das medienaktivistische Kollektiv Les Insoumuses. In den USA waren bzw. sind Angela Davis, Bel Hooks und Audre Lorde aktiv, um nur einige zu nennen. Im Nahen und Mittleren Osten gibt es einige Frauen, die ich ebenfalls sprechen lassen möchte. Im Zuge meiner Recherche habe ich festgestellt, dass interessanterweise Frauen aus dem Fernen Osten am wenigsten bekannt sind.
Was ist das re- in deinen jüngeren Werken?
Es bedeutet wieder-, in meinem Kontext das Wiederaufnehmen von etwas, das Wiederholen, die Repetition, das Re-Inszenieren, Rekonstruieren, aber auch Reparieren. Walter Benjamins Engel der Geschichte geht zurück in die Vergangenheit und versucht, das Geschehene dort zu reparieren. Das funktioniert natürlich nicht, der Wind des Fortschritts wirbelt ihn wieder ins Jetzt. Wir können nur im Hier und Jetzt Fehler der Vergangenheit reparieren und eine kritische Lesart, einen Vorschlag anbieten, auch dazu aufrufen, anders, respektvoller zu agieren. Mit dem re- beziehe ich mich auch immer auf etwas, das bereits da ist: ich reagiere und referiere. Es ist bei mir außerordentlich präsent als Umgang mit Weltgeschehen und -verhältnissen, ein Zugang, Situationen und Begebenheiten künstlerisch zu verhandeln.
Du formulierst damit ein Angebot, einen Weckruf auch, oder einen Appell.
… Möglichkeiten, die Welt zu sehen, Vorgänge nachzuvollziehen.
re-BIRDING wurde am 21.4. im Sehsaal zusammen mit einer Performance gescreent?
Maja Osojnik hatte die Idee, eines ihrer Stücke, aus dem sie Sounds für den Filmscore verwendet hatte, performativ über neun Mini-Speaker durch neun Personen vor Ort im Sehsaal aufzuführen, beginnend im Außenraum, im Hof und in den Saal hinein. So konnten wir live eine Rahmung zum Film-Screening setzen. Im Saal habe ich auch noch Drucke von Produktionsstills auf Tischen arrangiert. Solche performativen und/oder installativen Rahmungen sind variabel und ortsabhängig, ein Screening allein ist mir immer zu wenig.
Arbeitest du so adaptiv bei den Präsentationen, um dem jeweiligen Ort sein Innenleben abzulauschen?
Ich denke die Orte immer mit, sie geben ja auch etwas vor, Räume wirken ja auf uns.
Das Publikum soll sie auch spüren. Für eine Installation von re-GEO / rendering reconstructions of desire im Jahr 2022 hatte ich auch den Sehsaal gewählt und die Kulisse, das Szenenbild aus dem Film teilweise heraus in den Raum geklappt und die Projektion als gleichwertigen Bestandteil der Installation in dieses Setting integriert. Solche Umkehrungen stellen wieder ein re- dar: der fertige Film wurde zu einem Element im Ganzen. Solche Verschlaufungen mag ich sehr und spiele sehr gerne damit.
Das Geschlossene eines Filmes oder Videos wird zurück in das gegenwärtige Erfahren aufgebrochen/geholt.
Meine Arbeitsweise ist eine offene, das heisst nicht, dass meine Werke nicht fertig sind, sondern dass ich sie immer wieder anlass- und ortsbezogen neu aufnehme und anders, adaptiert arrangiere. Ich lasse gern vieles offen, auch in meiner XX Y X-Reihe. Ich mag keine klassischen Veranstaltungsformate. Ich suche gerne andere, atypische Formen oder Räume, in denen ich (musikalische) Performances und Installationen präsentieren kann, verschiedene Artists für Kooperationen oder Double Features zusammenspanne, was im klassischen Kontext so eher nicht stattfinden würde.
Es geht dir darum, die verschiedenen Ebenen eines Erlebens in ein Werk einzubinden, wie im Musiktheater.
Genau, absolut antihierarchisches Einweben aller Elemente inklusive der Aspekte der Produktion selbst. In meinen Filmen zeige ich die Konstruktion von Figuren, meist in einem sehr kargen, rudimentären Filmset mit wenig Kulisse. Ich arbeite sehr gern im Modell und bleibe in der Skizze in meinen Filmen. Ich mag keine fertig ausformulierten Ideen, will in der Offenheit bleiben. Die Produktionsprozesse sind Teil dieser offenen Erzählung. In meinen Arbeiten spielt Sound immer eine wesentliche Rolle. Film bzw. Video bietet dramaturgische Möglichkeiten wie den bewussten Einsatz oder das Weglassen von Ton, eine nicht sichtbare Tonquelle, das Kombinieren unterschiedlicher Soundformate, etc.
Für des souvenirs vagues habe ich Dialog-Samples aus Filmen verwendet und sie mit Soundflächen verwoben. Ich habe damals mit Ableton zu arbeiten begonnen und die Sounds für meine Filme selber produziert. So auch für bellevue, einem Film, in dem ich Webcam-Screenshots vom Grossglockner-Massiv verwendet habe. Ich habe die Header-Information der jpgs durch die von Audiofiles ersetzt, das ergab ziemlich weirde Sounds, ähnlich dem Klang beim Modem-Einwahl-Vorgang. Diese Sounds habe ich entschärft, das Material digital prozessiert und so eine stimmige klangliche Übersetzung der Web-Bilder erhalten.
In Personne habe ich auf eine ganz andere Art mit und zu Sound gearbeitet: das Hängen einer Plattennadel und die dadurch entstehende Wiederholung einer kurzen Tonsequenz wird zum dramaturgischen Schlüsselmoment; 3 Minuten lang steht die Protagonistin am Fenster und beobachtet eine Nachbarin, die wiederum sie beobachtet, erst dann nimmt die den Tonarm von der Schallplatte. Zu hören ist übrigens das Stück Shines von rashim, also Yasmina Haddad und Gina Hell, die ihr Album Suns.Shadows ebenfalls auf mosz veröffentlicht haben. Heute sind meine Filme komplexer, sie enthalten auch wesentlich mehr Text, sodass ich die Tongestaltung und -produktion nicht mehr selber machen kann und will. Der kollaborative Aspekt ist wieder wichtiger geworden. Für Penelope / in the scenery / reflecting / relations habe ich Lukas Lauermann um eine kleine Soundsequenz gebeten, die Musik zu meinem vorletzten Film re-GEO / rendering reconstructions of desire stammt von Julia Purgina, und für re-BIRDING hat Maja Osojnik den Score komponiert.
un divertissement d’amour aus dem Jahr 2011 lädt Philosophen ins virtuelle Gespräch, dieser Film steht quasi in einer einzigen Einstellung.
Der Formalismus der Soundvisualisierung war mir nach einiger Zeit wenig. Ich wollte mich in meinen Filmen mit relevanten, den großen philosophischen Themen beschäftigen. des souvenirs vagues war meine erste Arbeit in diese Richtung, in der ich mich mit dem Thema Erinnerung beschäftigt habe. Wie erinnern wir? Erinnern wir in Bildern, in Text, Stimmen, Stimmungen? Wer erinnert wie?
In un divertissement d’amour widmete ich mich dem Thema Liebe und lasse vier Denkfiguren philosophische Textfragmente über die Liebe rezitieren. Die Figuren sitzen an einem Tisch, die Kamera umrundet die Figuren viermal aus unterschiedlicher Distanz. Meine Bildsprache ist sehr reduziert, ich arbeite mit wenigen unterschiedlichen Einstellungen und Schnitten. Ich verwende meistens eine ruhige, statische Kamera, wie in un divertissement d’amour und The Contest. In diesem Kurzfilm wird der Wettbewerb über einen inneren Monolog verhandelt. Was muss ich tun, um die Beste zu sein?
Es ist ja überall das Gleiche, was man meint, tun zu müssen, wenn man ganz rauf will, die/der Beste sein will, ob in der Wirtschaft, im Sport oder im Kunstkontext.
Im Jüdischen Museum Wien ist im Rahmen der Ausstellung Schuld auch dein Film The Contest installiert. Er ist dort tatsächlich ausgestellt, nicht inszeniert.
Dieser Film lässt ein solches Ausstellen zu, er ist ein in sich bewegtes Bild mit statischer Kamera und kann deshalb an der Museumswand hängen. Mich hatte damals der Wettbewerb als Grundelement in unserer Gesellschaft sehr beschäftigt, wie man sich verbiegen und prostituieren muss, um Teil davon sein zu können. Der Film erzählt von einem Ereignis in der US-amerikanischen Sportgeschichte in den 1990er Jahren, der weltweit für Schlagzeilen sorgte und zum lebenslangen Teilnahmeverbot einer zu ehrgeizigen Eiskunstläuferin führte.
Ist ein kollaborativer Geist notwendiges Kriterium für dein Arbeiten?
Die Entwicklungsphase eines Filmes ist für mich ein solitäres Unterfangen, das ich sehr mag. Für den Rechercheprozess nehme ich mir viel Zeit, ich brauche viel Ruhe und Konzentration, bis sich eine Idee tatsächlich in meinem Kopf manifestiert, mit allen Details, vom Text zu den Figuren, von den Kostümen zum Filmset, von der Organisation und dem zeitlichen Ablauf zum Filmsound. Steht dann das Konzept bzw. das Script, wird es kollektiv. Ich gehe mit den Darstellerinnen die Rollen durch und adaptiere gegebenenfalls die Texte, ich entwickle mit Sound Artists/Komponistinnen den Score und bespreche mit Martin Putz die Kamera und mit Nik Hummer den Ton.
Ich bin eine gewissenhafte Regisseurin, das wird manchmal als streng missinterpretiert. Über die Jahre habe ich viel dazugelernt, was die Interaktion zwischen mir und dem Team und das verständliche Vermitteln meiner Ideen angeht.
Nach einigen Monaten Vorbeitungsarbeiten, Erarbeiten der Rollen und Proben materialisiert sich beim Dreh die Idee definitiv, ein Prozess, der leider von vergleichsweise kurzer Dauer ist. Eine kurze Zuspitzung, eine Klimax, eine Entladung und gleichzeitig Aufladung, die in einen Überschwung mündet. Das muss ich dann abfedern bzw. die überschüssige Energie, den Schwung gleich in ein neues Projekt lenken.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
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