Angélica Castelló
Die Balance zwischen der Schönheit und Hässlichkeit des Körpers
Im September wird Angélica Castelló bei den Musiktheatertagen Wien im WUK zum Mythos Zivilisation als Komponistin zum Thema Körper mit DE*CIVILIZE ME! auftreten. Ein Funktionsgemisch, das sich als Novum für sie herausstellt. Genau wie die Zusammenarbeit dafür mit der Choreographin Anna Knapp und zehn Tänzerinnen.
Was sind diese „physischen Zivilisierungsprozesse und die psychosozialen Mechanismen“, denen ein Körper ausgesetzt ist? Was hast du mit Anna Knapp herausgefunden?
Anna Knapps Thema ist der Körper, meines der Klang – ich werde die Arbeit mit den Tänzerinnen in Klang abstrahieren. Es geht sowohl für sie als auch für mich darum, den Körper so zu nehmen, wie und wofür er gemacht wurde, und das ganze Regelwerk, in das der Körper hineingezwängt wird und hineingezwängt ist und der damit gewissermaßen unentwegt ‚verhindert‘ wird, zu hinterfragen oder sogar abzustoßen. Seit April arbeiten wir sehr intensiv daran und entwickeln quasi pingpong-artig dieses Werk.
Welche Klänge wirst du verwenden?
Das konkreteste Material sind Aufnahmen von den Stimmen der Tänzerinnen, aber auch von Atem, von der Luft, von den Körpern; diese Klänge werden in der Komposition verarbeitet. Aber ich werde auch auf der Bühne präsent sein, mit meinem Körper, mit meiner Flöte, mit meinem Atmen und meinen Fieldrecordings – so entsteht eine Mischung aus Komposition und Performance.
Verstehst du dabei Stimme und Atemgeräusche als Teil des Körpers?
Ja, für mich ist es so, allerdings müsste man, um den Körper zu dezivilisieren, eigentlich viel weiter, viel radikaler vorgehen. Aber es geht nicht darum, ein brutales, revolutionäres Stück zu schaffen. Ich möchte mit meinem Klang diese Körper, die nach den Grenzen forschen, unterstützen, Dinge nicht zu kaschieren, sondern Störendes, Unbequemes zuzulassen. Es soll mit dem Klang eine Balance zwischen der Schönheit und Hässlichkeit des Körpers entstehen.
… vielleicht die Frage danach, was wirklich notwendig ist zur Zivilisierung des Körpers?
Ich glaube, der Ansatz von Anna nährt sich sehr von der Poesie des Körpers. Deshalb wird es kein aktionistisches Werk sein. Es geht eher darum, körperliche Zustände aufzuzeigen und zu thematisieren.
Deine Musik kommt eher aus dem Inneren, Unbewussten –Traum und Rausch spielen eine große Rolle dafür. Wenn Anna Knapp die Poesie des Körpers erfassen will, was hat dich dann angesprochen, als sie dich zu ihrer Idee einlud?
Ich habe bislang noch nicht oft im Performance- oder Tanzkontext gearbeitet, denn ich bin erstens eher eine Einzelgängerin, kein so wahnsinnig guter Teamworker, und man muss in der Zusammenarbeit mit Tänzern und Choreografen ja ziemlich viele Kompromisse eingehen. Aber die Videos von Anna Knapps Arbeiten haben mich überzeugt. Sie sind auch nicht von dieser Welt, haben etwas Surrealistisches. Außerdem hat mich die Arbeit mit so konkreten Elementen wie Schmutz, Erde etc. gereizt, sie gefällt mir sehr. Trotzdem ist für mich diese bewusste Entscheidung zu einer solchen Zusammenarbeit in dieser Form eine Premiere.
Und zweitens?
Zweitens bin ich ja in meiner Arbeit eher intellektuell in der Welt der Gefühle und Träume unterwegs. Insofern ist dieses Stück für mich auch ein kleiner ‚Tabubruch‘: auf der Bühne mit zehn Tänzerinnen zu stehen und mit meinem ganzen Körper und ohne meine Cowboystiefel Flöte spielen zu müssen.
Was ist für dich besonders, wenn du für Performance arbeitest?
Teilweise muss ich liefern, was notwendig für bestimmte Bewegungen ist – das hätte ich früher nie gemacht! Aber auch musikalisch soll eine neue Klangwelt entstehen. Es war schon immer sehr interessant für mich, eine Balance zwischen High Fidelity und ultratrashigen Lautsprecherkassetten zu finden. Auch der Gegensatz von sehr abstrakten, sphärischen und ganz konkreten alltäglichen Klängen oder Fieldrecordings interessiert mich sehr. Da platzen vielleicht bekannte Geräusche in einen schwebenden Klang und erzeugen so einen Traum. Den Körper schränkt doch am meisten der Geist, vor allem der eigene Geist ein. Die Gesellschaft mag einiges fordern, aber das größte Gefängnis sind wir uns immer noch selbst, sei es im Körper oder im Geist.
Denkst du beim Komponieren für deine oder mit deiner Paetzold-Subgroßbassblockflöte oder wie beeinflussen sich dein Komponieren, Instrumentieren, Improvisieren und Denken?
In meiner Welt gibt es derzeit zumindest vier kreative Prozesse: der improvisatorische mit meinen Instrumenten auf der Bühne, dann der elektroakustische, supereinsame Kompositionsprozess im Studio, den ich sehr liebe, weil es ein Eintauchen ist, aus dem man klarer wieder auftaucht. Der dritte ist die kompositorische Arbeit für Kammermusik bzw. traditionelle Instrumente mit und ohne Elektronik und der vierte die wissenschaftliche Arbeit an meinem Master für Medienkomposition.
Also gibt es klare Trennungen zwischen den einzelnen Prozessen deines Schaffens?
Von Trennungen würde ich nicht sprechen, aber selbstverständlich erfordert das Arbeiten in den unterschiedlichen Sphären verschieden Herangehensweisen, praktisch, theoretisch, methodisch. Aber insgesamt nähren und beeinflussen sich die unterschiedlichen Felder gegenseitig. So komponiere ich diesen Sommer ein Stück für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge plus Tapes für ein Festival in Polen im Oktober, was erst kurz vor der Aufführung geprobt werden wird. Demgegenüber steht eine Art offeneres Werk für DE*CIVILIZE ME!, aber in sehr klar abgegrenzten bzw. vorgegebenen Konturen. So wie man einander beim Improvisieren fortlaufend die Hand reicht, tun das jetzt in gewisser Weise auch Anna Knapp und ich: eine Improvisation über ein halbes Jahr. Dazu kommen mehrere Auftritte in Europa und Mexiko, das Geben von Workshops und die erwähnte Recherche- und Schreibarbeit an meinem Master.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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