Pia Palme
Ich schieb alles beiseite und fang von Neuem an
Die Absurdität, gegenwärtig etwas planen zu wollen, die Unmöglichkeit, gegenwärtig Gleichbehandlung zu erfahren, das stete Bestreben gegenwärtig zu komponieren – Pia Palme gibt der ihren Zeit ihren Raum und forscht dafür in teilweise entlegenen Gebieten. Ihr Lebenslauf ist so schlüssig wie etappenreich, ein Gespräch längst überfällig.
Wir waren uns gar nicht bewusst, wie sehr wir mit Plänen leben, wie wichtig uns Absprachen sind, wie sehr wir damit unsere Handlungen berechtigen …
Es braucht alles sehr lang: während der Absprachen kommen schon wieder Veränderungen.
Gleichzeitig sind alle viel weniger produktiv.
Ja und nein. Es gab Phasen von hektischer Aktivität, wenn Dinge verschoben oder neu organisiert werden mussten, dann wieder lähmenden Stillstand. Immerhin war ich im Sommer 2020 in den Bergen in der Schweiz auf der Uncool Residency. Dort konnte ich unter herrlichen Bedingungen arbeiten, es gab sogar mehrere gut besuchte echte Konzerte. Dann habe ich im Herbst mein bisher umfangreichstes Musiktheaterstück Wechselwirkung für Juliet Fraser und das erweitere Ensemble Phace fertiggestellt, im WUK bei Wien Modern sogar auch geprobt, produziert und aufgenommen. Danach habe ich im Dezember und Jänner noch jeweils ein neues Programm realisiert, einmal für die Nationalbibliothek mit dem Ensemble airborne extended, Anna Clare Hauf und Molly McDolan und im Jänner im echoraum den Trioabend Entfernte Freundinnen mit Margarethe Maierhofer-Lischka und Sonja Leipold. Ich hatte viel Arbeit und auch viele Aufführungen, aber im Großen und Ganzen beschränkt es sich auf Online-Konzerte.
Hat das Auswirkungen auf deine Arbeitsweise?
Grundsätzlich ist meine Arbeitsweise situationsbezogen, meine Stücke und auch die Texte entstehen mit und für die jeweilige Situation und die Mitwirkenden. My room, until yesterday zum Beispiel entstand 2017 für eine sehr heterogene Gruppe von sechzehn Jugendlichen und Kindern zwischen sieben und 23 Jahren, zu einer Zeit, als ich an der Musikschule Donaustadt unterrichtete. Ich begann gemeinsam mit dieser Gruppe von Null an bei Schulanfang, und innerhalb von drei äußerst intensiven Monaten entwickelte sich das Stück im kollektiven Experimentieren. Insofern ist jedes meiner Musiktheaterstücke etwas Einzigartiges. Der Vorgang der Entstehung ist allerdings bei dieser Arbeitsweise ungewiss und prekär, man darf die Zuversicht dabei nicht verlieren – aber dafür können die Stücke auf tiefere Weise in die Situation eintauchen.
Wechselwirkung ist dein jüngstes Musiktheaterstück, aber auch ein Forschungsprojekt. Was waren bzw. sind deine Fragen darin?
Wechselwirkung ist das letzte von insgesamt vier szenischen Stücken, das ich im Rahmen des FWF-PEEK-Projektes On the fragilities of sound gemeinsam mit meiner Mit-Forscherin Christina Lessiak produziert habe. 2019 führten wir Dusk Songs I im echoraum in Wien auf, mit Anna Clare Hauf und Paola Bianchi, dem Ensemble airborne extended und mit der Oboe da caccia Spielerin Molly McDolan. Dusk Songs II mit zusätzlich der Barockoboistin Ana Inés Feola wurde im Mumuth uraufgeführt. Mattetoline mit Annette Schönmüller, Manuel Alcaraz Clemente und Christina Bauer haben wir im off-theater in Wien und im Theater im Palais in Graz gezeigt. Das Besondere an der Situation ist, dass ich in den letzten drei Jahren kontinuierlich zum Thema Musiktheater arbeiten konnte, und zwar fokussiert und gründlich und zusätzlich mit Christinas Unterstützung. Die umfassende FWF-Förderung sichert die Produktionen finanziell ab, ich konnte ein größeres Ensemble miteinbeziehen und freier arbeiten als bisher. Fragen, die mich begleitet haben: Welche inneren Räume möchte ich öffnen? Wohin bringt mich das, was ich gefunden habe, wenn ich mit einer Stimme, mit Instrumentalist:innen kooperiere? Wohin bewegen sich Klänge und Geräusche im Raum? Es kommt mir beim Komponieren so vor, als ob ich den Klängen und Geräuschen beim Wachsen zuhöre, sie bei ihrer Entwicklung beobachte und das dann möglichst treffend notiere. Kritisch ist der Punkt, an dem Klänge schal und brüchig werden und zu verwesen beginnen. Was passiert dann? Wohin geht das? Und wie bzw. wodurch wird eine längere Zeitspanne gefüllt, wie werden Entwicklungen aufgeteilt? Welche Rolle spielt der Körper im Stück? Diese Fragen stelle ich mir schon länger. Bei jedem Stück habe ich Erfahrungen gesammelt, bin weiter gewandert. Wie schon bei Abstrial war auch bei Wechselwirkung ein Kollektiv federführend: Juliet Fraser, Christina Lessiak, die Tänzerin Paola Bianchi, die Dramaturgin Irene Lehmann und ich als Komponistin. Wir konnten zwei intensive Forschungs- und Experimentierphasen einplanen, wo wir die Verknüpfung von Bewegung, Stimme, Klang und Text praktisch untersucht haben.
Es ist untertitelt mit A Montage for the Anthropocene. Leicht lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Menschen und dem durch Wechselwirkung mit seiner Umwelt entstandenen Anthropozän erstellen. Aber kündigt der Titel nicht eher eine Montageanleitung für ein zukünftiges Anthropozän an? Spielt dein transdisziplinärer Zugang für eine solche Vision nicht eine konstituierende Rolle?
Wechselwirkung besteht aus Modulen, die bis zuletzt sehr flexibel bleiben konnten. Diese Module werden für die Aufführung zusammengesetzt, montiert – daher das Wort Montage. Darin verbirgt sich aber auch ein Hinweis auf die feministische Praxis – schon in den 1920er-Jahren haben Künstlerinnen den Ausdruck “Montage” für ein Format verwendet, das Kritik übt an akribisch durchkomponierten Strukturen. Also Montage als Annäherung an die Interferenzen und komplexen Beziehungen in der Welt, statt Kontrolle und lineare Abläufe. Ein feministischer Umgang mit dem Anthropozän. Auf der anderen Seite waren wir bei Wechselwirkung im Kollektiv tätig, wir haben miteinander gearbeitet, ohne die festgeschriebenen Reihenfolgen und Hierarchien der Institutionen. Die Musik war bei Wechselwirkung nicht zuerst fertig, damit dann die Choreographie, die Regie usw. kommen kann. Für eine freie Form muss die Komposition flexibel genug sein. Das geht sehr gut, wenn man mit Modulen arbeitet, und diese in Form einer Montage zusammenfügt. Ich finde, dass dann auch die verschiedenen Disziplinen mehr Spielraum haben, sich zu entfalten, und besser ineinander greifen können.
Wie hat sich Covid-19 in das Konzept eingeschrieben?
Tief. Sämtliche Probenphasen waren betroffen. Sogar das Ensemble Phace musste kurz vor der Hauptprobenphase umbesetzt werden, weil ein großer Teil des Ensembles plötzlich durch ein anderes Konzert zu K1-Personen wurde. Die internationalen Solistinnen hatten Reiseprobleme. Das offene Raumkonzept wurde gleich mehrfach umgestellt, weil Wien Modern bis zuletzt auf eine öffentliche Aufführung spekulierte, und wir laufend auf neue Bestimmungen eingingen. Zum Beispiel haben wir die Bühne in zwei Teile zerlegt, damit die Sängerin und die Tänzerin genug Abstand halten können. Die Choreographie wurde geändert. Mein Kompositionsprozess war davon auch betroffen. Ich hatte den Wunsch, auf keinen Fall mehr als unbedingt notwendig zu schreiben – es kam so eine innere Protesthaltung auf, eine Art Trotz. Zudem habe ich mich auf Anregung von Juliet Fraser mit der Barockkomponistin Francesca Caccini beschäftigt. Caccini war um 1630 im Lockdown in Lucca, in ihrem Haus, wegen der Pest. Zuerst für ein paar Monate, dann war alles wieder offen, danach wurde nach einem erneuten Ausbruch eineinhalb Jahre gesperrt. Und das ohne Internet und Telefon … Ich habe Teile von ihren italienischen Texten und Stücken in Wechselwirkung hineinkomponiert. Es gibt so wunderbare Stücke von Caccini, wo sie über das Leid in der Liebe und über die willkommene Einsamkeit erzählt. Rückzug, allein sein mit kalten Felsen im feuchten Sand, beim Wasser. Die traurige Wirklichkeit rundherum und die fiktive Traurigkeit der Musik. Für mich hat das einfach gut gepasst. Es wurde mit all den Hindernissen und der Anstrengung eine ganz spezielle Produktion, die Stimmung war offen und gut, das Ensemble brilliant, die Zusammenarbeit intensiv und beglückend.
Wie gehst du mit diesen ständig stattfinden Veränderungen und Verhinderungen um? Ist Songs from a distance bereits ein Hinweis darauf?
Sicher. Ursprünglich hatte ich dieses Stück anders benannt, erst nach dreimaligem Verschieben konnte das Konzert dann in der Nationalbibliothek stattfinden. Ich habe dabei gelernt, dass das Streamen zu proben ist und dadurch unglaublich viel Zeit abverlangt, eine Streaming-Choreographie musste mitgedacht werden. Das wirklich Schwierige ist hierbei das Zusammenspiel von analogen Instrumenten und Elektronik, denn für eine Live-Aufnahme sollte die Elektronik nicht im Raum verstärkt hörbar sein, bestenfalls im Kopfhörer wie bei einer Studiosituation. Andernfalls wäre die Elektronikspur auf jedem Mikrofon drauf und man bekäme so einen „elektronischen Nebel“. In Wirklichkeit wäre es Vierkanal-Elektronik im Raum gewesen. Das heißt, alle Spielenden beim Streaming hören nicht das, was man bei der Übertragung hört. Und das macht natürlich was mit dem Stück, die Stimmung verliert sich. Die Musikerinnen müssen sich die Gesamtheit vorstellen. Dieses Erlebnis hat sich jetzt schon bei mehreren Streaming-Konzerten wiederholt und ist das Schwierigste, sowohl für mich selbst als auch beim Zusammenspiel. Das Live-Erlebnis wird auch dahingehend zerstört, dass eine Vierkanal-Elektronik ja maximal stereo übertragen werden kann. Die Daten werden insgesamt so stark komprimiert, dass nur noch ein Bruchteil des ursprünglichen Stücks beim Zuhörer ankommt. Für die Übertragung mag das vielleicht funktionieren – aber elektronische Musik allein hat schon eine Form von Räumlichkeit, die beim Streamen verlorengeht.
Und ich dachte, die Schwierigkeit beim Streamen bestünde darin, sich das Publikum vorzustellen …
Das sowieso. Der einzige Repräsentant des Publikums sind die Techniker. Sie übernehmen jede Menge zusätzliche Aufgaben: Sie bilden einen Fokus für die Aufführenden und es ist extrem hilfreich, von ihnen direktes Feedback zu bekommen – selbst ein angedeutetes Klatschen hilft. Beim Konzert in der Nationalbibliothek haben wir völlig auf eine Abmoderation vergessen und uns gar nicht zu verhalten gewusst. Man braucht eigentlich einen Dramaturgen, der einem diesen Rahmen für die Aufführung fertigt. Das braucht aber Personal, erzeugt deutlich mehr Kosten – und es wird eine andere Kunstform.
Songs from a distance hieß ursprünglich anders, war aber als Zusammenschluss einiger deiner jüngeren Werke gedacht – wie ist das entstanden?
Dieser Abend besteht aus mehreren Stückteilen, aus Modulen, und je nach teilnehmenden Instrumentalist:innen und vorherrschenden räumlichen Bedingungen arrangiere ich diese Module verschieden, weil ich andere Schwerpunkte setzen möchte. Es sollen Außensituation, Ort und Raum einen Einfluss auf die Aufführung haben dürfen. Die Version im Dezember war für die Sängerin Anna Clare Hauf, für Musikerinnen des Ensemble Airborne Extended und für die Barockoboistin Molly McDolan gedacht. Ursprünglich und anfänglich war da 2019 eine szenische Aufführung im echoraum, danach in Graz, das waren die ersten Musiktheaterstücke, die im Rahmen meines Forschungsprojektes entstanden sind. Seitdem hat sich unglaublich viel verändert, was in dem Stück auch abgebildet werden sollte. Ich habe immer weiter gearbeitet, Module verändert oder neue komponiert, Texte geschrieben, Fieldrecordings gemacht, mit den Instrumentalistinnen experimentiert …
So wird es ein Abbild der Entwicklung, der zeitlichen Verfasstheit seiner Aufführungssituation …
Das Konzert war geplant für April, wurde verschoben in den Herbst, dann noch einmal in den Dezember hinein. Wenn man so einen Stoff dann mehrmals in die Hand nimmt, wird es irgendwie fad … wie ein aufgewärmtes Essen, Teile davon sind dann vielleicht schon ein bisschen schimmlig, es fängt an, innerlich zu verwesen, auch wenn es ursprünglich ein gutes Essen war. Wie die Idee von Donna Haraway in Staying with the trouble: In Zeiten wie diesen erinnert mich manches an einen Haufen Kompost, in dem Dinge vergären und verwesen – wo vieles zusammenkommt, ein Eigenleben entwickelt und doch Fruchtbares am Ende herauskommt. Komponieren und Kompost haben ja so auffällig gleichen Wortlaut, die gleiche Wortwurzel …
Den einzelnen Stücken aus Songs for a distance wohnt etwas Schwebendes, Fragiles, immer auch den Raum Auslotendes inne … Ist das „Raum komponieren“ ein feministischer Akt?
In dieser prekären Situation der Dezemberaufführung hatte ich wirklich den Wunsch nach sehr, sehr viel Durchsichtigkeit mit vielen Solostellen, wo wenig dazukommt. Das entsprach der Verfassung der Musikerinnen bzw. überhaupt der Grundstimmung. Diese Durchsichtigkeit war aber ingesamt mehr der Situation geschuldet als dem Feminismus. In meinem letzten Stück Wechselwirkung gibt es zehn sehr laute Minuten, bei denen das Ensemble an der Fortissimogrenze spielt. Auch das kann Fragiliät sein. Betrachtet man das Wort „Fragilität“, erkennt man die unumstößliche Bezüglichkeit zur Umwelt: ein Ding allein, für sich selbst genommen, ist nicht fragil. Erst wenn Kräfte darauf einwirken, wird Fragilität manifest. Und darauf kommt es mir an: Dinge stehen immer im Bezug zu einander, zu ihrer Umwelt. Das gilt ganz speziell für Klänge: Sie sind immer abhängig vom dem Trägermedium, in dem sie sich ausbreiten. Deshalb ist es ja auch so witzig, seine Stimme auf dem Mars klingen zu hören, wie es auf der NASA-Website gerade möglich gemacht wird. Die Umwelt wirkt auf einen Klang, auf dessen Ausbreitung auf dessen Reflexion. Selbst unser Körperbau hat Einfluss auf unsere Hörwahrnehmung, wenn Klänge an unserem Kopf / unseren Schultern reflektieren, bevor sie ans Ohr gelangen. Insofern sind alle Klänge fragil, selbst die lautesten Klänge kann man auslöschen, überlagern, miteinander maskieren, reflektieren, dämpfen. Fragilität hat überhaupt nichts damit zu tun, ob etwas im Wesen zart ist oder nicht.
Du hast ein ganzes Forschungsfeld zur Fragilität von Klängen eröffnet und damit das Komponieren wissenschaftlich förderfähig gemacht …
Künstlerische Forschung wird schon länger gefördert. Es gibt sehr viele Musikprojekte beispielsweise, die sich mit Elektronik und neuen Technologien beschäftigen. Ich hab einfach versucht, dem Ganzen eine andere Richtung zu geben. Ich hatte nun mein Doktorat in Komposition abgeschlossen und wollte ein größeres Projekt aufstellen, eines, wo ich Dingen endlich einmal wirklich auf den Grund gehen und mich austoben kann. Also: sich mit viel Zeit intensiv einer Suche widmen können, und zwar dem experimentellen Musiktheater. Der FWF erlaubt den Forschenden unglaublich viel Freiheit, in Hinblick auf einen offenen Ausgang des Forschungsvorhabens, sogar Richtungswechsel sind möglich, wenn das für den Prozess notwendig wird und zu rechtfertigen ist. In den Achtziger-/Neunzigerjahren war das in der Musik wohl auch noch möglich, wohingegen heutzutage wegen der Verknappung der Gelder und der generellen Kapitalisierung im Vorhinein viel Absicherung gefordert wird. In meinem Projekt ging die Hälfte der Förderung an künstlerische Produktionen, und zwar an mehrere neu komponierte Musiktheaterstücke, an Kompositionsaufträge für Komponistinnen, wie Elisabeth Schimana, Elaine Mitchener, Electric Indigo, Séverine Ballon, plus deren Uraufführungen, an Ensembles und Performer:innen – das gab es meines Wissens noch nie. Obwohl diese PEEK-Programme sehr kompetitiv angelegt sind, bekamen wir in der ersten Runde eine Zusage. Mit beteiligt am Erfolg sind meine Forschungspartnerinnen Christina Lessiak und Irene Lehmann. Der Grundgedanke meiner Einreichung war die künstlerische Forschung aus der Sicht der komponierenden Person: sich komponierend als Frau, als Mensch, zusehen und zuhören, sich selbst beim Arbeiten beobachten und untersuchen.
Das Feld der künstlerischen Forschung ist ja noch recht jung, aber die Tatsache, dass dein Projekt angenommen ist, impliziert trotzdem auch eine große Anerkennung deiner Arbeit, oder?
Für mich war es der Weg, wenn auch ein harter. Wenn ich am freien Markt, in der Szene, genug Kompositionsaufträge bekommen hätte, wär mir diese Idee möglicherweise nicht gekommen. Aufgrund meines außergewöhnlichen Karriereverlaufes bekomme ich kaum Chancen von außen angeboten, weil nach wie vor in Österreich leider nur Komponist:innen mit regulärem Werdegang in ihrer Arbeit gefördert werden. Das sich jemand im Alter von 50 Jahren entschließt, Komponistin zu sein, ist überhaupt nicht vorgesehen. Umso mehr freut es mich, dass das Projekt und meine Arbeit international großes Echo bekommt. Ohne den Umweg über England, wo das Alter auf der Uni keine Rolle spielen darf, wäre es für mich so auch nicht möglich gewesen.
Du hast dort wesentlich dein Selbstverständnis stabilisieren können …
Ja. Unterstützung von der Umwelt ist einfach ganz wichtig. Und das habe ich dort bekommen.
Barocke Musik ist doch nach wie vor ein bestehender Teil deines Denkens. Was nimmst du von ihr in dein Schaffen mit?
Sie liefert mir einen äußerst experimentellen Zugang. Damals wurde unglaublich viel ausprobiert, ständig wurden neue Instrumente erfunden, permanent Stimmungen verändert, neue Materialien ausprobiert, der ganze Instrumentenbau war im Umbruch – das war künstlerische Forschung par excellence. Komponist:innen waren immer auch improvisatorisch und auch organisatorisch, sogar kuratorisch tätig, unterrichtet haben sie sowieso und geschrieben oftmals auch, wie Johann Joachim Quantz beispielsweise das Querflötenlehrbuch. Quantz war Oboist und hat erst mit 30 begonnen, die Traversflöte zu spielen, ein damals neu entwickeltes Instrument. Und er wurde dann auch ein namhafter Experte auf diesem Gebiet. Das Barock war auch beim Gendern relativ durchlässig – es gab Frauen, die komponierten, und das erfolgreich. Es herrschte ein multifunktionales, fluides Denken vor, das mir persönlich sehr entgegenkommt. Ich mag den barocken Umgang mit Klangfarben und dessen szenisch-räumliches Denken in der Musik. Das barocke Theater ist ein vordramatisches Theater, was mir als Anhängerin des postdramatischen Theaters sehr nahe ist.
Was man deinen Lecture-Performances entnehmen kann: szenisches Denken jenseits dramatischer Vorgaben. Ist die Frage, wie Performance und Stimme in den klanglichen Raum eintreten, Teil deines Forschungsvorhabens?
Ein Universitätsstudium verlangt Vorträge auf Konferenzen. Dabei habe ich begonnen, mein Instrument mitzunehmen und damit unter oder zwischen das gesprochene Wort zu spielen. Daraus hat sich bei mir mit der Zeit eine ganz spezielle Technik des Textesprechens während des Spiels mit der Subbassflöte entwickelt. Ich verwende diese Technik gern bei meinen Stücken, ich trete als solistische Performerin damit auf und kommentiere aus meiner Position heraus meine Komposition und das szenische Geschehen. Ja, es ist Teil meiner Untersuchungen: Komposition, Performance und die Forschung als Suche nach Erkenntnis sind für mich immer ein Miteinander.
Diesem Aufbrechen des Vortragscharakters wird erst seit Kürzerem temporär stattgegeben …
Das entstammt sicher dem englischen Sprachraum, wo Performer, also Instrumentalisten, schon viel früher als bei uns ein Doktorat absolvieren konnten. Da ist die Idee einer Lecture Performance natürlich naheliegend. Offenbar ist dann die Experimentierfreude größer. Dort, wo künstlerische Forschung praktiziert wird, ist es selbstverständlich, dass der künstlerische Vortrag in den gesprochenen Vortrag integriert werden kann.
Würdest du sagen, dass du in deinem Doktorat zuhause angekommen bist, oder ist es doch noch einmal eine Herausforderung gewesen, in diesen akademischen Kontext einzutauchen?
Ich hab mich in England total zuhause gefühlt. Die superoffene Atmosphäre und Umgebung von “jüngeren”, also Mit-Student:innen, waren äußerst anregend, wie eine Spielwiese für mich, weil mir dieser Anfängergeist viel näher steht als der arrivierter Komponist:innen. Meine Betreuer:innen Liza Lim und Monty Adkins haben sich meine Arbeiten sehr genau angeschaut. Das war das erste Mal, dass sich jemand derart genau mit meinen Arbeiten auseinandersetzte. Ich bekam Feedback und Kommentierungen, es gab viele Diskussionen mit Kolleg:innen aus aller Welt, ich konnte mit sehr guten Musiker:innen und Sänger:innen arbeiten – unglaublich fruchtbare Erfahrungen waren das. Dieser unterstützende Geist, eine zulassende Atmosphäre sollten in Lehreinrichtungen zuhause sein. Ein ergebnisunabhängiges Tun ist im Kunst- und Kulturbetrieb meiner Meinung nach grundlegend notwendig.
Mit zusätzlich dem großen Glück, noch vor dem Brexit da gewesen zu sein, und zwar zu einer Zeit, als die Unis durch staatliche Förderungen noch finanziell besser aufgestellt waren. Mittlerweile ist der Kahlschlag im Bildungssektor in England unüberwindlich.
Deine Doktorarbeit trägt den Titel: The noise of mind – Rauschen im Kopf – meinst du damit Denkvorgänge?
In gewisser Weise ja. Alles, was man denkt, alles was im Kopf und im Bewusstsein vorgeht, also auch Gefühle und Körperbewusstsein. Noise, das Rauschen, ist ja wissenschaftlich gesehen das, was man nicht haben will. Nur das reine Signal wird in der Technik als Ergebnis angestrebt. Als komponierende Frau hab ich aber die Erfahrung gemacht, mich gerade mit den Themen befassen zu wollen, die üblicherweise ausgeblendet werden. Da setzt eine feministische Haltung ein, die den Blick erweitert und Inklusivität anstrebt. Speziell auf diese Konzepte wollte ich schauen und aus deren unglaublichem Potenzial schöpfen. Das, was man ausblendet, kann total interessant sein. Die Entscheidung, was ein Signal und was ein Rauschen ist, wird ja willentlich gesetzt, ist also äußerst subjektiv. Im Rauschen eröffnet sich eine neue Welt.
Wie gelangst du mit der Frage danach, wo Klang aufhört und Rauschen beginnt, zu kompositorischem Schaffen?
Die Auffassung von Zeit und mein Umgang mit Zeit beim Komponieren tragen hier wesentliche Schlüsselfunktion. Der Untertitel lautete ja Feministisches Komponieren. Und es ging um Musiktheater in meiner Dissertation. Da taucht auch die Frage auf: Wie platziere ich all die Dinge, die außer Klang und Tönen in meinen Kompositionen eine Rolle spielen, im Raum und in der Zeit? Ich arbeite mit Texten, mit Installationen, Video, und kooperiere mit anderen Künstler:innen. Beim Komponieren denke ich immer das gesamte Geschehen mit, ich muss den Raum stets mit betrachten. Ich komponiere Raumklang. Das Setzen von Zeit in Komposition ist mir früher, als ich als Musikerin tätig war, beim Spielen als Oboistin und Flötistin, oft unpassend erschienen – ich wollte Dinge länger klingen lassen oder schneller vorbei haben. Bei meinen Arbeiten bin ich draufgekommen, dass mir die Zeit weniger wichtig ist als der Raum. Jetzt versuch ich mehr, Dinge in den Raum zu stellen und zu erspüren, wann das Geschehen dann kippt und sich verändern oder gehen muss. Natürlich ist der Umgang mit der Zeit ein notweniges Kriterium, aber ich gehe zunächst von Veränderungen im Raum aus. Lineares Zeitdenken reicht dafür nicht aus. Und ich möchte auf keinen Fall ein feministisches Produkt haben. Das Feministische ist eine Frage der Arbeitsweise für mich. Der Filmemacher Jean-Luc Godard antworte auf die Frage, ob er politischen Film mache: „No, I make films politically.“ Ich produziere keine dezidiert feministischen Inhalte oder Manifeste, sondern habe eine feministische Art, Entscheidungen zu fällen. Beim Komponieren fällt man ständig Entscheidungen. Wenn ich Entscheidungen aus einem Rahmenwerk des Feminismus heraus fälle, müsste sich am Ende vielleicht etwas zeigen. Aber das weiß ich nicht sicher.
Auf jeden Fall Neues, oder? Es wird ja mehr zur Betrachtung zugelassen …
Wahrscheinlich kann man dann nur etwas erkennen, wenn man das Ganze, das gesamte Mosaik wahrnimmt.
Das Wort Feminismus ist an dein Werken, deine Person geheftet – aber viel wesentlicher wäre doch zu fragen, was ist dein Verständnis von den Dingen? So ein Stempel, so eine Chiffrierung stört doch irgendwann auch …
Spätestens seit meinem Forschungsprojekt hat sich mein Denken und Handeln sehr gewandelt: vom Feminismus über die generelle Genderfrage zur Diversität, People-of-Colour-Frage, also Aufweitung, Aufweitung, Aufweitung. Und momentan befinde ich mich bei der Ökologie. Es ist einfach mein Wunsch, neue Räume aufzumachen und zu finden.
Ich habe den Eindruck, dass du durch deinen Werdegang viel mehr gezwungen warst, zu hinterfragen: Wo ist mein Platz? Darf ich überhaupt einen Platz beanspruchen? Das ist in unserer Gesellschaft ein weibliches Thema. Ist es auch deine Intention, für Frauen Plätze zu finden und anzubieten?
Es gibt dieses Zitat von Maria Lassnig: „Wenn man als Frau nur halbwegs denkt, kommt man nicht umhin, Feministin zu werden.“ Es ist mehr eine gesellschaftliche Realität, die Frauen dazu zwingt. Aber darüberhinaus liegt es auch beim Komponieren selbst: In der Musikgeschichte ist nach wie vor dieser unsägliche sogenannte Kanon, der nach wie vor in allen Lexika, auf allen Unis, in allen Konzerthäusern eine Rolle spielt, abgebildet in den Büsten der Komponisten, die überall aufwarten, egal, wo man auf der Welt hinkommt. Das steckt im Denken, im Kuratieren und ich hab mich nie als Teil dessen gefühlt. Mein Zugang zur Freien Szene hat mir da aufgeholfen. Denn ich möchte herausfinden, was ich als Komponistin wirklich will, was ich mir vorstelle. Und ich möchte ganz zurück an den Anfang der Geschichte gehen, mindestens zur Barockmusik. Dann schieb ich mal alles beiseite, was später kommt, fang von Neuem an und bau mir so eine eigene Wachstumslinie.
Ohne durch diese ganzen Schichten durchzutauchen, die unweigerlich Sedimentablagerungen in dir zur Folge hätten …
Genau, das lass ich weg und gestalte so meinen Anspruch von Radikalität: von der Wurzel her immer wieder neu anfangen, ganz experimentierfreudig zu schauen, was dabei herauskommt. Das würde ich als feministisch bezeichnen.
Und was machst du mit diesem Kanon?
Mir ist klar geworden, dass ich wie ein eigenständiges Gewächs außerhalb dieses Kanons schwinge. Der Kanon scheint wie ein einziger Stamm, ich wachse daneben. Und es gibt eine Menge solcher Gewächse wie mich, vorrangig Frauen, People of Colour oder andere, die bis jetzt nicht in den Kanon passenden. Es wächst ein ganzer Dschungel rundherum und der Kanon ist nur ein einziger, dicker, alter Baum im Wald! Und der weite Wald drum herum interessiert mich viel mehr.
Und schon sind wir wieder bei der Ökologie …
Es gibt ja eine feministische Ökologie. Der Begriff Feminismus kann im Sinne einer Grundlage, einer Erweiterung für Horizonte und Potenziale gelten. Insofern ist dieser Stempel für mich okay. Viel wichtiger ist aber der überaus prekäre Zustand der Erde. In den letzten Jahren verbrachte ich einmonatige Residencies in recht entlegenen Gebieten und habe dabei in unterschiedlichen Gegenden und Gesellschaften gelebt. Mir ist dabei das Anthropozän, also die fundamentale Einwirkung des Menschen auf die Erde, so eindrücklich bewusst geworden. Die globale Vernetzung beeinflusst auch meine künstlerische Arbeit und mir erscheint das Ökosystem als ein viel besseres Modell für die Musik als ein Kanon. Das zeigen auch jüngere Ereignisse wie die Debatte am ZKM: eine globale Sichtweise greift um sich und erfordert immer wieder und weiter Öffnung.
Deine Arbeitsweise ist immer auch eine offene, inkludierende – deine Forschungsfrage nach einem männlichen oder weiblichen Ohr analog zum männlichen Blick im Film stelltest du auch ins internationale Netzwerk Female Pressure von Electric Indigo. Wie beeinflussen die Reaktionen auf deine Fragen dein Schaffen?
Das entspricht meiner Arbeitsweise von Anfang an. Künstlerische Ideen trage ich in den Raum hinaus und schaue dann, was für ein Echo kommt. Ausbleibende Reaktionen lassen mich die Idee dann zurück in die Schublade legen. Eine Resonanz war mir immer wichtig.
Diese Resonanz erzählt aber nicht nur vom Interesse an der Fragestellung, sondern beeinflusst auch dein Ausarbeiten der Idee …
Mich interessiert einfach, was zurückkommt, wenn ich eine Idee in den Raum hinauslasse, mitteile. Wie der Ruf gegen eine Felswand – und die irrsinnige Freude darüber, wenn ein Echo zurückkommt, was sich dann auch noch vom eigenen Ruf unterscheidet – das finde ich extrem anregend. Ich nutze dafür auch das Netzwerk der Uni Huddersfield oder der Uni Graz, wo zum Beispiel gerade diskutiert wurde, wie man denn künstlerische Forschung beschreiben kann. Oder die Frage nach dem Kuratieren von Programmen bei Festivals. Wie divers sind wir da aufgestellt? Vielleicht machen Menschen aus anderen Regionen ganz andere Musik? Das ist doch wichtig, nicht nur gesellschaftlich, auch für die Inhalte der Musik. Und könnte für alle sehr inspirierend sein.
Der Blick aus dem eigenen kulturellen Kontext kann nicht nur gewinnbringend sein, sondern auch einen Zugang zu einer viel vollständigeren Wirklichkeit ermöglichen. Der Bezug zur Ökologie ebenso als inhaltlichen wie strukturellen Fundus erfordert Zirkularität ganz entgegen unserem westeuropäischen Denken. Und Komponieren ist doch zuallererst musikalisches Denken, oder?
Für mich ist Komponieren sehr körperlich, also ein körperliches Denken. Auch Gefühle gehören dazu. Denken ist alles, was ich in meinem Kopf und Körper mit einem Bewusstsein registriere. Das kommt vielleicht auch daher, weil mein musikalisches Werken mit dem Instrumentalspiel begann und ich als Musikerin ausgebildet bin. Wenn ich etwas notiere, habe ich also zeitgleich fast ein Bild eines Körpergefühls zu deren Ausführung. Und andererseits skizziere ich oft mit Bleistift oder am Computer, wo immer auch der Körper mittut, was ich sehr deutlich spüre. Viele Stücke entstehen ja in Kollaborationen mit Performer:innen, wodurch sie per se sehr körperlich werden. Ich habe diese Performer:innen zum Teil beim Komponieren vor meinem geistigen Auge präsent, über sehr lange Zeit hinweg, Tage und Wochen lang, fast wie in einer Liebesbeziehung, wenn man oftmals sehr plastisch besessen wird von einer Person.
Das scheint essenziell für dein Schreiben zu sein, auch für deine Raumwahrnehmung …
Ja natürlich, ich stelle mir oft schon beim Schreiben vor, wo die Musiker:innen im Raum verteilt sind und wie alles dann räumlich angeordnet sein sollte.
Und dein Blogschreiben, also schriftliches Denken?
… erfolgt zur Dokumentation meiner Erlebnisse bei Residencies, oder in meinem aktuellen Blog zum Forschungsprojekt. 2018 gab es zum Beispiel einen Blog für Wien Modern, den Inselblog aus Finnland. Das Schreiben über Erlebtes und Erfahrungen mit der Musik kam ganz entschieden durch das Doktorat. Ich habe mich mit Notation in jeder Hinsicht auseinander gesetzt – sowohl was die Musik betrifft als auch meine Ideen und Gedanken. Mir hat die englische Sprache viel erschlossen, da fiel mir das Formulieren viel leichter als im Deutschen. Das Schreiben bzw. Geschriebene beginnt dann wie ein Spiegel zurückzuwirken und birgt herrliche Erkenntnisse.
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