Wolfgang Heisig
Man kann auch wie ein Pfeil komponieren
Wolfgang Heisigs Steckenpferd ist die Mechanische Musik, sein Instrument der Wahl die Phonola. Sein frei assoziierendes Denken ermöglicht ihm zusammen mit einem unbeirrbar spielerischen Geist Werke voller Ironie, (Selbst-)Kritik und überraschender Klarheit. Doch der erste Versuch eines Interviews scheiterte am Besuch der Mutter des Komponisten, deren Gegenwart beim Gespräch mir unpassend erschien. Eine Woche später gelingt mein Besuch in Lübben im Spreewald, ein Gespräch von Wismut nach Wisswut nimmt seinen Lauf.
Was hätten wir vorige Woche getan, wenn Ihre Mutter dabei gewesen wäre?
Sie hätte dagesessen und gestrickt. Sie ist mit ihren 97 Jahren relativ fit, geistig noch rege und ein angenehmer Gast.
Sie heißt Liselotte Heisig? Ich seh da hinter Ihnen ein Buch über sie …
Sie hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Aus diesem Wust von bedruckten Blättern hab ich dann einen verwertbaren Text gemacht, ihn drucken lassen und an die Familienmitglieder verteilt.
Das waren ihre Memoiren?
Sie hat einfach Erinnerungen aufgeschrieben: NS-Zeit, die Jahre davor, die Zeit im Sozialismus der DDR und von den Tagen heute. Es ist sehr gut gelungen, denn sie hat weder gelabert noch reflektiert. Meine Mutter handelt und benennt, aber Reflexion ist ihr fremd. Bei sechs Kindern einmal zu differenzieren, fiel ihr nicht ein. So fühlte ich mich als Individuum auch nicht besonders bevorzugt, sondern war einer von vielen, der seine Verpflichtungen hatte. Auf große Beachtung durfte ich nicht hoffen. Das Gute daran ist ein Bewahren vor Hochnäsigkeit und Überschätzung. Ich wurde nicht mit Selbstbewusstsein überfüttert.
Und der Vater lehrte den spielerischen Blick aufs Leben …
Er war immer sehr witzig im Sinne von Wortspielen, spielte leidenschaftlich gern Schach. Er hatte am Wochenende sein Arbeitszimmer bei uns zu Hause in Zwickau, weil er unter der Woche in Johanngeorgenstadt bzw. Breitenbrunn als Fachschullehrer für Tiefbohrtechnik arbeitete. An den Wochenenden durften wir ihn nicht stören mit der einzigen Ausnahme: Vati spielte Schach.
Tiefbohrtechnik?
Die DDR glaubte, auf dem Staatsgebiet Erdölvorkommen zu finden. Dafür wurde sehr viel unternommen: auch in Gommern gab es Probebohrungen. Mein Vater war einer der Experten für Tiefbohrtechnik. Ein Feld ohne Zukunft. Er wechselte später auf andere Fächer wie Heuristik, Methodologie und ähnliche Mode-Fachrichtungen. Natürlich Russisch, er kannte die Sprache aus seiner Zeit in russischer Gefangenschaft sehr gut. Dadurch hatte er in der Wismut auch meine Mutter kennengelernt, sie dolmetschten da beide.
Und von da ging es nach Zwickau.
Die Mutter meiner Mutter besaß in Zwickau ein Haus, dahin zogen wir dann.
Es wurden sechs Kinder …
Ich bin der Zweitgeborene. Meine ältere Schwester ist allerdings 2013 an Krebs verstorben. Der Vater ist 2007 mit 88 Jahren verstorben. Die Geschwister leben verstreut in Hildesheim, Gera, Königsbrück, Lübben und mein Bruder in der Nähe von Freiberg.
Wie kam es dann, dass Sie Komposition in Dresden zu studieren begannen?
Das war gar nicht meine Absicht. Als Musikschüler lernte ich das Klavierspiel bei Frau Müller in der Musikschule Zwickau, immer mit einer Eins, aber ich hatte nie das Gefühl, besonders gut zu spielen. Mich hat auch die Literatur des Lehrstoffes nicht sonderlich interessiert. Es kam selten vor, dass mich mal ein Stück gepackt hat. Was mich damals allerdings schon erreichte, war die Musik der Beatles. Da es diesbezüglich in der DDR keinerlei Platten oder Noten davon gab, waren wir auf das Rundfunkgerät, aufs Hören angewiesen. Wollten wir diese Musik spielen, mussten wir sie abhören und aufschreiben. So bin ich zur Musiktheorie und zur Beschäftigung mit Tonverläufen, Notenschrift und allem, was dazu gehört, gekommen. Wir wollten in unserer Schulband natürlich all das spielen. Nach dem Abitur empfahl mir Frau Hoffmann, meine nächste Klavierlehrerin, die in ihrer Freizeit auch Tanzmusik spielte, Jazzpianist zu werden. Also habe ich mich in meiner Blauäugigkeit
in Dresden bei Günther Hörig erfolgreich beworben. Nach der Armeezeit und einem Jahr Studium stellten Günther Hörig und ich im Einvernehmen fest, dass es nichts wird mit uns – wir haben uns weder musikalisch noch menschlich besonders gut verstanden. Ich wechselte dann in die klassische Abteilung und versuchte, klassischer Pianist bei Frau Prof. Eva Ander zu werden – aus heutiger Sicht alles völlig irrwitzig. Das ging noch mehr in die Binsen, ich bekam sofort eine Nervenkrankheit in der rechten Hand. Sie hält bis heute an und gab mir den Fingerzeig: Ein Pianist wird nicht aus mir. Nach zwei Jahren verschenkter Zeit habe ich mich also dann in der Kompositionsabteilung beworben und dann dort noch vier Jahre Komposition studiert.
Wann begegneten Sie dem Namen Conlon Nancarrow als Eröffnung Ihrer Liebe zur Phonola?
Das war 1979 durch eine Sendung im Deutschlandfunk von Walter Zimmermann, der ein Portrait Conlon Nancarrows gestaltet hatte, die ich in meiner Studentenwohnung im Dresdner Altpieschen mit schlechtem Empfang auf Mittelwelle meines Röhrenradios hörte. Ich hatte den Namen überhaupt nicht verstanden, Carol oder Kareln, aber die Musik faszinierte mich unglaublich. Ich befragte auch Musikwissenschaftler, zum Beispiel Dr. Eberhard Klemm, aber mir konnte keiner helfen. Das war wie geträumt. Erst mehrere Jahre danach, mittlerweile war ich an der Dresdner Musikhochschule Dozent in Musiktheorie, stellte die interne Bibliothek eine westdeutsche Zeitschrift aus: „Die Renaissance des Selbstspielklaviers Conlon Nancarrows“. Da wusste ich, das isser.
Und dann kam Ihnen die Wende sehr entgegen, an mehr Informationen und Personen diesbezüglich zu gelangen?
Nein, das klingt vielleicht jetzt merkwürdig, aber 1987 bat ich in der Zentrale des Komponistenverbandes in der Leipziger Straße in Berlin, ein Festival zu Charles Ives in Duisburg besuchen zu dürfen. In meiner Diplomarbeit hatte ich mich mit Charles Ives beschäftigt. Man gab mir einen Pass und grünes Licht. So konnte ich auch an Veranstaltungen der Gesellschaft für selbstspielende Musikinstrumente in Köln und anderen Orten teilnehmen. Ich war dann ein besonders geachteter Gast aus dem Osten. Reiche Sammler steckten mir 50,- DM-Scheine zu. So lernte ich dann auch schon vor der Wende Dr. Jürgen Hocker in Bergisch Gladbach kennen, der sich schon längere Zeit mit Nancarrow befasst hatte, mich quasi in die Materie einführte und auch sehr großzügig mit Material versorgte.
Das selbstspielende Klavier mussten Sie sich erst bauen?
Nein, nach der Wende lieh mir Jürgen Hocker eine Phonola, mit der ich dann Konzerte geben konnte. Allerdings musste ich die Rollen erst stanzen, was mir echte Probleme bereitete: Meine erste Stanzmaschine war eine Handstanzmaschine, die mit einem Schaltpedal und recht primitiv alle Löcher einzeln stanzen musste. Mittlerweile habe ich eine computergesteuerte Stanzmaschine, die vollautomatisch funktioniert. Damals habe ich aber für die Herstellung einer Rolle von drei Minuten Monate gebraucht.
Und was war in den Jahren davor, zwischen 1978–90?
Ich sammelte meine ersten Erfahrungen mit Mechanischer Musik, indem ich für die Schaustellerfamilie Katzschmann in Mittweida Stücke schrieb. Sie besaßen eine Orgel, die mit Lochband gesteuert wurde, wofür sie sich Arrangements wünschten. Die Tochter von Herrn Katzschmann stanzte dann die Löcher mit einer umgebauten Schuster-Nähmaschine. Es gab auch noch einen Drehorgelexperten in Dresden, Herrn Wonneberger, der Arrangements für Drehorgel bei mir beauftragte. Da wurden noch die Stifte und Brücken in die Walze geschlagen und man musste eine bestimmte Zeit und Taktzahl einhalten. Das hat mich eher im Bereich der Unterhaltungsmusik schon zur mechanischen Musik gebracht.
Wie muss ich mir die Notation bzw. die Übersetzung in eine Stanzung vorstellen?
Wenn man ein mechanisches Musikinstrument mit Musik bestücken will, gibt es bestimmte Vorgaben einzuhalten, aber auch bestimmte Freiheiten, die man an einem handgespielten Instrument nicht hat. Bezüglich der Zeitabläufe und rhythmischen Strukturen hat man völlige Freiheit und kann alles Mögliche machen. Allerdings ist man auf eine bestimmte Anzahl von Tönen beschränkt und bei einer Orgel auch auf Klangfarben, die einzuhalten sind. Außerdem gibt es eine begrenzte Zeitdauer: bei der Drehorgel eine Umdrehung der Walze, dann fängt es wieder von vorn an. Diese erste Minute sollte so interessant sein, dass man zurück am Anfang nicht genervt ist, sondern eher das Gefühl bekommt, dass es weitergeht. Gerade bei Spieldosen, die ja nur zwanzig diatonische Töne haben und keine Halbtöne, zeichnet man ein Stück, indem man die fehlenden Töne so zu umgehen versucht, dass der Hörer nicht das Gefühl bekommt, es würde etwas fehlen. Man bringt andere melodische Ideen plötzlich dort ein, wo der halbe Ton fehlt und findet so interessante Umspielungen. Das sind die Herausforderungen beim Arrangieren für mechanische Musikinstrumente: dass man sich in die Seele des Instrumentes hineindenkt.
Das bedeutet ein bedingtes Komponieren, setzt also die Annahme der Begrenzungen selbstspielender Musikinstrumente für’s Komponieren voraus. Eine andere Form von Bedingungen als beim Komponieren für zu spielende Instrumente.
Völlig freies Komponieren ist nach meinem Dafürhalten ein Unding, das gibt es schlichtweg nicht. Selbst für die „Kunst der Fuge“, die Bach komponiert hat, hat er sicher genau gewusst, dass sie von einem Cembalo oder auch Streichern oder einer Orgel gespielt wird. Charles Ives sagte einmal: „Warum muss denn die Musik immer über Hürden wie Darmsaiten oder irgendwelche Instrumente gehen? Kann denn die Musik sich nicht völlig frei von irgendwelchen Instrumenten entfalten?“ Solche Fragen münden in die Philosophie des Transzendentalen, das alles, was uns umgibt, nur Symbol für etwas Anderes, Dahinterstehendes ist. Das führt dann ins Reich der Philosophie und Spekulation. Komponisten haben doch immer konkret mit etwas zu tun.
Wie kamen Sie überhaupt zu Charles Ives?
Eberhard Klemm war sehr um die Verbreitung dessen Musik und Biographie in der DDR damals bemüht; er war überhaupt einer der ganz großartigen Musikwissenschaftler. Ohne ihn wären wir trotz Studium ziemlich dumm geblieben. Er schrieb auch Rundfunksendungen, darunter auch die allererste über Charles Ives mit seinem Stück The unanswered question. Obwohl dieses Stück im Grunde ganz simpel gebaut ist, hat es mich umgehauen. Ein wohlklingendes Streicherband mit ständig schönen Akkorden und eine Trompete, die immer das Gleiche bläst, obwohl es in Wirklichkeit gar nicht das Gleiche ist, man bekommt aber diesen Eindruck. Die Frage der Trompete zeigt beim Blick in die Noten auch wirklich ein Fragezeichen. Die ständigen Antworten der Holzbläser, die immer aggressiver werden und am Schluss verstummen. Diese Konzeption fand ich großartig. Man weiß genau, worum es geht, und das Ganze hat auch etwas so gut Aufgebautes und mit Emotion überhaupt nichts zu tun. Auch nicht mit Entwicklung, Höhepunkt und klassischer Dramaturgie. Es ist einfach eine Frage-Antwort-Situation, wobei die Antwortenden immer lauter werden, genervter. Aber die Trompete bleibt am Ende übrig mit ihrer Frage und das Ganze klingt aus. Das war für mich wie ein Musterbeispiel für eine Art zu komponieren, wie ich es auch machen wollte. Eine Initialzündung. Genauso wie damals die Nancarrowsendung im Deutschlandfunk.
Ist das nicht ein mächtiges Gefühl, auf so spezifische Momente zurückblicken zu können, die einen ein ganzes Leben lang getragen haben?
Da ich ja in meinem Leben nie so richtig ehrgeizig war, eher zurückhaltend, was meine eigene Person betrifft, und lieber im Hintergrund stehe, um von da aus zu agieren, hab ich auch nie das Gefühl gehabt, völlig in die Irre zu gehen oder zu versagen. Ich hab mir nie unerreichbare Ziele gesetzt. Jemand, der Karriere machen will, muss sich ja ständig Unerreichbares vorsetzen, damit er immer weiter kommt, wie ein Sportler, der sein Maß immer höher ansetzt. Das ist mir alles fremd. Ich hab eher den spielerischen Aspekt gepflegt und immer versucht auch Stücke oder Kompositionen zu kreieren, die absolut bescheuert sind, die in sich gar keinen Sinn haben. Einfach um zu sagen: Leute, zu ernst darf man das Ganze aber auch nicht betrachten.
Was Sie jetzt aber nicht global unentwegt als Kritik zu äußern versuchen, oder? Institutionen zeitgenössischer Musik oder überhaupt das Musikschaffen wird ja nicht flächendeckend von Ihnen kritisiert.
Nein, ich hab ja gar keinen Grund irgendwen oder irgendwas zu kritisieren. Es sei denn, jemand hat mich persönlich oder ein Stück von mir angegriffen. Dann muss ich mich dazu verhalten. Aber es war äußerst selten, dass ich mal ein echtes Problem hatte mit einem Stück. Ich kann mich da nur an einen Vorfall in Köln erinnern: Dort wurde mal ein Stück für Phonola, Klarinette und Violine uraufgeführt mit einem italienischen Titel. Es ging um die Göttliche Komödie von Dante, den Zweiten Gesang, den ich vertonte. Die zehn Übersetzungen, die ich über meinen Vater, der ein großer Dante-Privatforscher war, zur Verfügung gestellt bekam, hab ich benutzt, um daraus die Musik zu machen. Ein Kritiker verunglimpfte das Stück als „akademischen Quatsch“.
Ovid verweist ebenfalls auf antiken Stoff. In der Regel sind antike Texte oder die großen griechischen Philosophen aber nicht die Inspirationsquelle für Ihre Kompositionen.
Es ist typisch für mich, erst einmal von Äußerlichem, Vorhandenem, Gesetztem auszugehen. Das Vorhandene war in dem Fall Covid, darin steckt Ovid. Ich dachte, in Ovid-Texten vielleicht etwas zu finden, das in die Situation, in der wir uns befinden, passt. Also besorge ich mir Texte und lese und lese und entweder ich finde nichts, dann war die Idee nichts wert, oder ich finde doch. In dem Fall habe ich einen guten Text gefunden über die Ungerechtigkeit von Fortuna, die das Glück nicht gerecht, sondern absolut ungerecht verteilt. Das soll man akzeptieren und eben nicht darüber hadern. Diesen Text hab ich in Ovid dann in Musik umgesetzt.
Sie machen keine Vokalmusik oder Lieder? Die Texte kommen ja nicht unbedingt in Ihren Stücken vor.
Wenn ich einen Text als Grundlage für die Komposition benutze, kommt der Text natürlich nicht vor. Wenn ich aber einen Text vertone als Lied, ist es ein ganz normales Lied. Meine ganzen vokalen Kompositionen kommen erst 2024 heraus. Sie werden jetzt gerade noch gesammelt und für den Druck vorbereitet. Das wird eine Sammlung von über 100 Titeln. Zur Zeit sichte ich noch. Die Verwertungsrechte der Texte – man muss ja 70 Jahre warten – haben uns angehalten, bis 2024 zu warten.
Wie geschah Ihre Begegnung mit Conlon Nancarrow? Es gibt ein Bild von ihnen gemeinsam …
Es gab bei Jürgen Hocker in Bergisch Gladbach ein Treffen zu einem Essen mit Nancarrow, dem ersten Geiger der Kasseler Philharmonie Otfrid Nies und weiteren Musikgrößen aus dem Raum. Da lernte ich Nancarrow zum ersten Mal persönlich kennen, hatte aber keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen oder mich ihm vorzustellen, war natürlich auch etwas zu zurückhaltend. Ich hab ihm da aber eine geschmiedete Notenrolle, die ich von einem Kunstschmied anfertigen ließ, überreicht: Canon X, ein sehr schönes schmiedeeisernes Stück, die Löcher als X, und auch peinlich darauf geachtet, dass die eine Strähne immer größer und die andere immer kleiner wird, aber nicht symmetrisch, sondern quasi so wie das Stück auch geht. Darüber hat er sich sehr gefreut.
Später dann gab es ein Konzert in Paris, zu dem auch meine Bearbeitung einer Etüde von Ligeti für Player Piano im Programm stand. Ich fuhr mit meinem Vater zusammen dahin und traf Conlon Nancarrow im Klo. Das war dann die zweite Situation, wo ich ihn natürlich auch nicht ansprechen konnte. Auf dem Rückweg in den Konzertsaal hat mein Vater dann geistesgegenwärtig dieses eine Bild gemacht, was es von mir gibt mit ihm zusammen.
Man muss auch dazu sagen, dass Nancarrow äußerst zurückhaltend im Reden über seine Musik, über alles Mögliche war. Wollte man verbale Informationen von ihm haben, musste man ganz viel investieren, um wenigstens ein paar Sätze aus ihm herauszubekommen. Das war mir schon bekannt, deshalb hatte ich das von vornherein auch schon aufgegeben. Ich hab ihm allerdings einen Brief geschrieben und ihm meine Art, seine Studies auf der Phonola zu spielen als Kassette geschickt. Ich wollte von ihm einfach wissen, ob er damit einverstanden ist. Nach vielen Monaten kam dann die befreiende Antwort, dass er das super findet und ich das gern machen kann.
Das Arbeiten als Dozent hat Sie immer begleitet – gab es da auch Material für Ihre Kompositionen?
Für mich war der Austausch mit Studenten eine Ergänzung, die mir große Freude bereitete. Natürlich hat er das eigene Denken über musiktheoretische Phänomene geschärft. Ich musste ja auch etwas bieten, Übersichten erstellen, die Arbeiten der Studenten korrigieren. Das ist eine gute Schule für einen komponierenden Menschen. Das macht echt Spaß. Ein paar Sachen sind in diesem Zusammenhang auch entstanden, die nächstes Jahr mit den Liedern veröffentlicht werden. Zum Beispiel: „Wenn der Tag zu Ende geht“ – ein Kinderlied.
Ist die Phonola so etwas wie eine große Spieluhr? Die Rolle läuft ja nur einmal durch …
… bei der Spieluhr gibt es die Walze, die einmal durchläuft. Es gibt auch Spieldosen mit Bändern, die gelocht werden und theoretisch so lang gehen, wie das Band ist. In der Praxis sind diese Bänder auch nur 30 bis 50 cm lang und haben einen Anfang und ein Ende. Die Phonola spielt eine Papierrolle ab, die bis zu 12 Minuten lang sein kann. Allerdings begrenzt, also nicht stundenlang.
Dann gibt es später noch eine Erweiterung, durch die mit Pedalen Geschwindigkeit und Dynamik beeinflusst werden können.
Mit den Füßen kann der Phonolaspieler nur im Speziellen die Binnendynamik beeinflussen. Die generelle Dynamik wird mit einem Hebel zwischen pianissimo und fortissimo gesteuert. Mit einem zweiten Hebel kann man die Geschwindigkeit regeln. Die Phonola muss natürlich gut restauriert und eingestellt sein. Wenn das alles der Fall ist, darf sich die Geschwindigkeit beim Stärkertreten nicht ändern, sondern muss immer gleichmäßig sein. Das ist gerade das Wichtige bei der Phonola: dass man adäquat wie ein Pianist spielen kann. Das ist allerdings nicht meine Intention. Ich spiele natürlich Kompositionen, die für Pianisten unspielbar sind und somit die Phonola auch nicht zur Konkurrentin für Pianisten wird. Sie muss also nicht noch schneller spielen und den Minutenwalzer von Chopin auch tatsächlich in einer Minute bringen, sondern im Panorama der Möglichkeiten eine Position einnehmen und in dieser Position legitimiert sein.
Ihr Wirken ist ja quasi modular: Ihre Eigenschaft als Pianist liefert die Grundlage für den Umgang mit der Phonola, aber auch mit dem Komponieren und der Lehre. Dazu kommt die Dichtung, die Sprachliebe – Sie lassen zwischen den Formen die Idee ihren Weg finden.
Die Idee ist immer am Anfang. Sie entsteht allerdings auch durch Improvisieren, durch Lektüre oder durch Spaziergang oder durch Filmsehen oder Gespräche. Das kann ich nicht steuern, eine Idee ist einfach da. Sie treibt ihr Wesen/Unwesen unabhängig von dem Willen des Komponisten. Man kann auch komponieren ohne Idee, weil man es kann, weil man es einfach gelernt hat und weiß.
Dann ist die Idee vielleicht auch der Anstoß oder zündende Funke, aber irgendwann ist man soweit, dass die Form es nicht mehr anders hergibt, die Idee also dann wirklich weiterlaufen muss und nicht mehr in dem bestehenden Stück ihr Unwesen treiben darf.
Wenn die Idee ausgereizt ist und die Form dadurch klein bleibt, dann ist das so. Ich bin kein Komponist, der alles aufblasen muss. Gerade bin ich dabei, meine ganzen Notenrollen zu erfassen und spiele in diesem Zusammenhang auch alles einmal durch, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Das ist natürlich fast alles Musik des 19. Jahrhunderts. Und da stelle ich fest, dass die Komponisten dieser Zeit ihre Ideen wunderbar aufblasen konnten, aber eben ganz schlüssig durch die Sequenzierung und andere Harmonisierung. Sie vermittelten dem Hörer immer dieses Gefühl, hier entsteht etwas ganz Großes. Das ist überhaupt nicht meine Art. Ich schätze das sehr, aber ich kann so nicht komponieren. Ich liefere die Idee manchmal in ihrer nackten Form ab und Schluss. Es erinnert mich immer so ein bisschen an die Bilder von Paul Klee. Er ist für mich in der Bildenden Kunst schon ein Vorbild. Was ich bei der Inspektion der ganzen Rollen festgestellt habe, ist die Gegenbewegung. Bei Liszt, bei Chopin, Schumann – sie haben sich alle an die Gegenbewegung gehalten, immer wieder. Das ist ein Stilmittel, was durch die gesamte Musik seit der Klassik bis heute zu erkennen ist.
Die für das Komponieren für die Phonola doch auch eine Rolle spielt, oder?
Muss man nicht. Man kann auch wie ein Pfeil komponieren.
Es ist nicht ohne Grund in der musikalischen Anthologie „Hommage à August Stramm“ ein Werk von Ihnen zu finden. Sagen Ihnen die Expressionisten aus Literatur und Malerei sehr zu?
Schon, wobei Paul Klee für mich kein expressionistischer Maler ist. Seine Bilder sind so fein und so sanft und vorsichtig. Er hat ja nicht mit der Faust auf den Tisch gehauen, so wie Beckmann oder Dix, er war eher zurückhaltend.
Dann ist das Äquivalent ja noch stimmiger, weil Sie auch ein zeitgenössischer Komponist ohne diesen Stachel oder Hammer sind. Sie versuchen nicht, vehement avantgardistisch zu sein oder zu stören.
Das könnte ich bedauern. Ich kann auch nicht sagen, dass es besonders toll ist, so zu sein. Es entspricht meinem Naturell und ich kann ja nicht in andere Kleider oder andere Hüllen schlüpfen und sagen, es muss unbedingt so sein. Am Ende will man ja authentisch sein. Und wenn die Authentizität eine gewisse Schmalheit bedeutet, ist das zu akzeptieren. Die Breitseite ist nicht jedem gegeben.
Derweil ist das Œuvre, das Sie abliefern, mehr als breit.
Klar, wenn man kurz vor dem 71. Lebensjahr steht, sollte ja auch ein bisschen was vorhanden sein.
Bei allem Understatement, wie gehen Sie mit der Sprache um, dass Ihre Gedichte, diese Lautgedichte entstehen? Haben sie einen Klang, der Sie sozusagen im Musikalischen damit sein lässt?
Wenn man die Gedichte sieht, wird mancher gleich Jandl rufen, das kennen wir alles. Oder August Stramm, ist doch alles quasi epigonal. Im ersten ist das richtig: Schreibt man sein erstes Gedicht, ist das an ein Vorbild angelehnt. Bekommt man das dann einigermaßen gut hin, freut man sich, würde doch aber nie behaupten, Dichter zu sein. Verrückt ist eben nur, dass der Reiz, auf diesem Gebiet mehr zu machen, nicht gestillt wird. Es geht immer weiter. Auf diesem Weg – ich weiß nicht, ob man das Entwicklung nennen kann, denn mein erstes und mein letztes Gedicht sind in der Qualität gleich – entstehen dann persönliche Besonderheiten oder Setzungen, wo ich merke, das ist mein Ding, wie es Udo Lindenberg sagt: „Mein Ding, dein Ding.“ Wenn ich das hinbekomme, ist es mein Ding und eben keine Jandl-Nachfolge. Ich glaube, das ist bei einigen Gedichten in meinen beiden Bänden gelungen.
Sie heißen ja nicht ohne Grund Sprachfachübungen. Ich verstehe da einerseits einen Wink zum Schulfach, andererseits die Fächerung des Hirns in musische, sprachliche, numerische Bereiche angedeutet …
Der Begriff gibt ja auch immer noch die Freiheit zu sagen: Ich übe. Ich übe mich am Dichten. Die Selbstüberhöhung „Ich bin ein ausgereifter Dichter“ würde ich mir nie selbst zuerkennen. Es ist immer auf dem Weg und macht auch Spaß.
Spaß ist ein leitender Faktor für Ihr Arbeiten, aber von Disziplin haben Sie auch gesprochen. Es braucht ein unentwegtes Dranbleiben am Prozess, Beständigkeit.
Wenn ich eine Arbeit mache, die eine bestimmte Formel bedient bzw. eine formelle Ordnung hat, ist Disziplin das oberste Prinzip. Dieses gefühlsgesteuerte Ausgreifen von künstlerischen Wirkungen ist eben nicht mein Ding. Beide Herangehensweisen haben viele Freiheiten, das ist ja gerade das Phänomen. Der eine schöpft im Außen und kann da unendlich Dinge finden, der andere im Innen, wo ihm keiner etwas anhaben/nachweisen und fragen kann: Wieso gerade das? Und die Musikwissenschaft versucht dann Antworten auf diese Frage zu finden. Das ist natürlich bei meinen Ergebnissen viel leichter: Man weiß meine Formel, die ich auf den Text angewandt habe und begreift die Modifikationen davon. Aber warum gerade der Text, warum gerade diese Konstellation? Diese Frage will man irgendwie versuchen zu klären.
Die Frage nach dem Warum führt letztgültig zum Glauben.
Man könnte es Grundhaltung nennen. Die kann chronisch kritisch und sehr abschätzig sein, mit dem Hintergrund, vieles besser zu wissen, es anderen zeigen zu wollen. Oder es gibt die Grundhaltung einer Erkenntnis, die unbedingt weitergegeben werden soll als das einzig Richtige und Wahre. „Das kann mir keiner nehmen, dass ist es! Ich muss davon singen!“ Oder es gibt auch diese sportliche Variante, Termine und Aufträge zu erfüllen, der schnellste Komponierer aller Zeiten zu sein, der alle Technik nutzt, jeder kann sich darauf verlassen. Bei all diesen Typen bin ich wahrscheinlich ziemlich außen vor. Aber wenn ich irgendeine Feststellung über mich treffen sollte, würde ich sagen: Ich will, dass irgendjemand sich wohlfühlt. Etwas Schönes einfach. Das kann natürlich etwas zum Lachen, etwas Humorvolles sein. Aber auch etwas Tragisches, diese kranke Geliebte, das ist schrecklich tragisch. Meine Frau lag hier und war krank, ich war relativ hilflos und da ist dieses Stück entstanden. Das gibt es natürlich auch. Aber alles ist darauf ausgerichtet, eben nicht jemandem irgendetwas um die Ohren zu hauen. Das ist nicht mein Ding.
Wie kommt es denn zu diesen Klangmöbeln? Unterliegt das auch diesem Drang, Schönes zu gestalten? Schönes in den Blick, in den Raum, in die Umgebung der Menschen zu bringen?
Es gibt ja hervorragende Klangkünstler wie Erwin Stache oder Trimpin, davon bin ich fasziniert. Manchmal hab ich eine Idee, die weder eine Komposition, noch ein Gedicht, sondern nur so ein Klangobjekt werden kann. Deswegen würde ich mich nicht als Klangkünstler bezeichnen. Aber es entsteht eben dieses Drehen und Wenden mit diesen vier Tönen. Da denke ich, das geht nur so. Und da mache ich das eben. Und freu mich, wenn es funktioniert und die Leute es mitkriegen oder Spaß dran haben.
Spaß haben Sie auch am Skatspiel: in Skatspiel für 3 Instrumente lassen Sie diese Freude auch Instrumentalisten erleben?
Der Ursprung dieser Komposition ist ein Familientreffen meiner Familie vor mehr als 20 Jahren. Wir hatten die Idee, dass jede Familie sich als eine Skatfarbe verkleidet und dass wir dann ein richtiges Spiel auf der Bühne spielen. Die einzelnen Karten treten dann immer in die Mitte, die Karten, die gestochen werden, müssen dann zur entsprechenden Gruppe gehen – wie Skat eben gespielt wird. Alle haben mitgemacht, es war ein riesen Gaudi. Für die Komposition hab ich dieses Spiel aufgegriffen und für jede Skatkarte ein Motiv entwickelt. Da ja nun die Farben verschiedene Wertigkeiten haben, musste das ja auch musikalisch berücksichtigt werden und so habe ich das dann entsprechend der Tonhöhe von Schell bis Eichel geregelt. Aber eben nicht durch verschiedene Tonarten, sondern im diatonischen Bereich, also nur die weißen Tasten. Und so sind diese 32 Motive entstanden, die in dem Ablauf eines speziellen Spiels aus einem Skatbuch der DDR angeordnet sind. Das Schöne ist, dass der Spieler, der ein Grande mit sehr gutem Blatt angesagt hat, verliert, weil die beiden anderen Mitspieler sehr gut spielen. Das ist die Botschaft des Stückes: Freu dich nicht zu früh!
Die andere Anbindung an ein Gesellschaftsspiel ist: Mensch, Musiker ärgere dich nicht.
Das Stück ist uralt, noch aus DDR-Zeiten. Da werden Gewichte auf die Tasten eines elektrischen Harmoniums gesetzt und nach dem Würfeln die Gewichte immer weiter gesetzt, wie bei „Mensch, ärger dich nicht“. Die Klänge entstehen dadurch, dass Senkblei-Gewichte auf die Tasten gesetzt werden. Dieses Stück könnte man zurückziehen, denn man muss sehr aufpassen, dass die Gewichte nicht umfallen.
MARS SAUGT MUT
Das ist ein Anagramm von August Stramm …
… ein mögliches Konzept.
Das ist eine schöne Übung. Anagramme schreiben schärft den Geist und macht Spaß, denn man kann sich ja nicht irgendetwas ausdenken. Alles, was man da aus dem Original herausholt, muss etwas bedeuten. Wenn man es schafft, dass die einzelnen Verse auch noch insgesamt einen Bedeutungszusammenhang ergeben, dann ist ein echt gutes Gedicht gelungen. Da kann man sehr viel anstreben.
Im folgenden Jahr schrieben Sie Variationen über Anke von Tharau. Im Volksmund bekannt als Ännchen von Tharau heißt das Lied ursprünglich Anke van Tharaw.
Simon Dach ist der Autor und der ursprüngliche Komponist hieß Heinrich Albert. Dach hatte für einen befreundeten Pfarrer ein Hochzeitsgedicht geschrieben, der eine Anke heiratete. Dieses Hochzeitsgedicht ist in Plattdeutsch geschrieben, das ist der Urtext von Ännchen von Tharau. Und diese Melodie habe ich zur Grundlage für meine Variationen genommen. Johann Gottfried Herder, der die Stimmen der Völker in Liedern herausbrachte, hat diesen plattdeutschen Text ins Deutsche übertragen und diese Übertragung hat dann Friedrich Silcher für sein Lied genutzt. So ist dieses Ännchen von Tharau entstanden. Der Urtext von Simon Dach ist ziemlich drastisch und auch bissig, mehr der damaligen Zeit verpflichtet, nicht so weich und süßlich, wie das Lied, das heute gesungen wird. Analysiert man den Text genau, findet man Formulierungen, die heute etwas verwirren oder verstören.
Und was hat den Anlass gegeben, Variationen zu diesem Lied zu entwickeln?
Das hat mit der Ehekrise zu tun, in der ich mich damals befand. Der Auslöser dieser Ehekrise war eine gewisse Anke. Und so ist das entstanden. Man könnte es als klassische Bewältigungstechnik verstehen. Es ist auch die Benutzung einer aufgewühlten Zeit für künstlerische Zwecke, ganz simpel.
Und vollkommen nachvollziehbar, weil die Anregung, Inspiration, Idee ja aus einer Bewegung entstehen. Es braucht innere oder äußere Bewegung. Es ist nur begnadet, wer daraus so Konstruktives ableiten kann. Oder so Schönes oder so Nachvollziehbares oder so Berührendes.
Man könnte also sagen: Ich bin einer, der aus allem etwas machen kann.
Was kann man sich unter den Nadeldruckchorälen vorstellen?
Die Nadeldruckchoräle hängen mit Andreas Jungwirth zusammen. Er war damals Schauspieler in Döbeln, als ich eine Musik zu einem Schauspiel für Kinder komponieren sollte. Nach der Premiere wurde ich auf die Bühne gerufen, er stand schräg neben mir und ich sagte zu ihm den Satz: „Du warst der Beste.“ So ist unsere Zusammenarbeit entstanden. Wir lernten uns dann näher kennen, kreierten gemeinsam ein Programm: Zwirn im phonoLAbyrinth. Ein anderes Programm für Kinder hieß Max und die Monster. Das war ein Mitspieltheater, das 250-Mal gelaufen ist, also sehr schön und erfolgreich war. Das andere Programm für Erwachsene enthielt einstimmige Gesänge mit Harmoniumbegleitung. Die ersten Drucker, die es nach der Wende gab, waren alles Nadeldrucker. Da ich diese einstimmigen Gesänge auf dem Nadeldrucker immer druckte, nannte ich die Sammlung Nadeldruckchoräle. Mittlerweile sind das 60 bis 70 einzelne Choräle. Auch die werden 2024 mit erscheinen.
Frieden für die Ukraine ist auch eine Vokalkomposition für vier Stimmen.
… für potenzielle Vokalisten. Sie ist als Vorlage, als Klangbeispiel für meine Internetseite eingespielt, damit sich Interessierte anhören können, wie die Akkorde klingen, die sie dann singen müssten.
In der Partitur steht ein ukrainischer Text – ist das ein Original, Volksgut?
Der Text ist von mir, mit Beratung übersetzt ins Ukrainische, also fast ein Gemeinschaftswerk zwischen Tatjana Funke in Chemnitz und mir. Die musikalische Idee kam durch ein Sanctus im Gesangbuch der katholischen Kirche. Da gibt es einen Gesang, unter dem steht: „aus der Ukraine“.
Sie singen in der Kirche?
Ich bin katholisch. Ich hab die Bücher alle da und schau ab und an rein, es gibt da manchmal schöne Entdeckungen.
Erstaunlich was es alles zu sehen gibt, wenn sich die Blickrichtung ändert.
Der Blick ist nie objektiv. Und das, was wir Verständnis nennen, ist auch relativ. Wenn ich weiß, es gibt eine Kadenz, dann weiß ich, das sind drei Komponenten, also die drei Akkorde und wo eine Kadenz erklingt, erkenne ich sie, dann habe ich etwas verstanden, das ist toll. Aber jemand, der keine Kadenz kennt, hört ja trotzdem die drei Akkorde und sagt: Das ist interessant und das ist ja etwas. Dieses Wissen über etwas und Benennen von etwas erfreut den Menschen, er fühlt sich dadurch mächtiger, sinnmächtiger. Aber ob es wirklich so eine umwerfende neue Qualität darstellt, das kann man auch bezweifeln.
Sind Sie einer, der dann solches Wissen auch bewusst einmal zu ignorieren oder hinter sich zu lassen versucht?
Nein, das kann ich nicht. Dafür bin ich hoffnungslos Theoretiker. Wenn ich Musik höre, analysiere ich ständig, was sind das für Rhythmen, für Harmonien, wie sind die Klangfarben, was für ein Text? Dieses analytische Hören kann ich nicht abschalten.
Das ist wahrscheinlich bei jedem Musiker so. Das darf er gar nicht, denn es ist ja sein Beruf, er ist ja in der Arbeit. Genau wie ein Deutschlehrer seinen orthographischen Blick auch in der Freizeit nicht ablegen kann.
Sie haben nicht nur Studenten an der Musikhochschule unterrichtet …
Die meiste Zeit war ich an Berufsschulen in Döbeln, in Rochlitz und habe dort ausschließlich angehende Erzieherinnen und auch Erzieher unterrichtet. Das war eine sehr schöne Tätigkeit.
Was haben Sie ihnen beigebracht, doch nicht Musiktheorie?
Sie mussten das Gitarrenspiel erlernen und lernen, Lieder zur Gitarre zu singen und die Harmonisierung dieser Lieder an ihre Sing-Tonhöhe anzupassen. Natürlich gab ich auch einen groben Überblick zur Musikgeschichte, um passendes musikalisches Material für entsprechende Inhalte finden zu können.
Dass Sie konzeptuell denken, liegt auf der Hand. Liegt Ihnen auch das figurative und performative, wenn Sie zum Beispiel Musik für „Die verlassene Puppe“ komponiert haben?
Für Theater zu komponieren entspricht mir nicht besonders. Oder es hat sich nicht ergeben. Ich verstehe nur überhaupt nicht, dass Theaterautoren bis jetzt noch nicht die Phonola als Begleitinstrument für Aufführungen entdeckt haben.
Die Handhabung wäre so einfach: man bräuchte keine Musiker zu bezahlen, man hätte immer eine perfekte Aufführung und die Musik könnte man konzipieren, zeichnen und stanzen und wäre fertig. Mit Elektronik wird ja viel gearbeitet. Die andere Variante wären Live-Musiker, aber die Phonola ist so ein Zwischenbereich.
Vielleicht liegt es an der Länge?
Man müsste einfach zwischendurch die Rolle wechseln. Ballettaufführungen mit Phonola bzw. Pianola gab es schon, aber eine Theateraufführung mit ausschließlicher Phonola-Begleitung ist mir nicht bekannt.
Ihr Kunstbegriff erinnert an Beuys’sche Ansichten. Gab es da Aneignungen?
Beuys ist eine große Adresse. Seinen Mut schätze ich sehr, seine Unablässigkeit, Dinge durchzuziehen. Aber es ist eine ganz andere Generation, eine Kriegsgeneration und ein ganz anderer Hintergrund. Mich in eine Reihe mit ihm zu stellen oder nicht, wage ich gar nicht. Er ist für mich kein Säulenheiliger, aber er ist einer von den Großen, die ich sehr schätze. Seine Sicht auf Kunst und sein Wirken lass ich allerdings lieber so stehen. Genauso John Cage: lass ich auch stehen. Natürlich findet da ein gegenseitiges Schulterklopfen statt. John Cage hab ich einmal kurz kennengelernt in Berlin beim Musicircus kurz nach der Wende 1990. Er war anwesend und ich war mit Spieldose und Harmonium und führte Mensch, Musiker, ärger dich nicht auf. Er kam vorbei und sagte nur ein Wort: „Beautiful.“ Und das ist doch ein Schulterklopfen. Und ich denke, genauso würde es mir vielleicht auch mit Beuys gehen.
Verstehen Sie Musik als kommunikative Angelegenheit auch bezüglich Kooperationen, wenn Sie Notenrollen für Komponisten anfertigen?
In diesem Feld verstehe ich mich als ein Dienstleister. Wenn Komponisten etwas für Phonola komponieren, mach ich das so gut wie möglich und führe es dann auf. Mich selbst halte ich da zurück und fühle mich wie ein Interpret.
Aber Sie übersetzen doch das Stück auf die Notenrolle?
Ja, das ist mein Ding. Das muss ich dann ordentlich machen. Ich hab das nun viele, viele Jahre geübt und glaube, dass ich das ganz gut kann.
Gibt es da sozusagen zweierlei: ein Komponieren für Phonola und ein Bearbeiten und Arrangieren für Phonola?
Das sind zwei Paar Stiefel, das stimmt. Das Arrangieren ist eine ganz andere Herangehensweise, weil die Komposition vorliegt und ich jetzt die Partitur transkribieren muss und zwar so, dass die Phonola das spielen kann. Da gibt es ja auch Bedingungen zu beachten. Und beim Komponieren ist es eben die Freiheit, etwas zu schaffen, was passt. Die Legitimation der Phonola muss immer im Vordergrund stehen. Wenn ich ein Klavierstück schreibe, das jeder Pianist spielen kann und nicht mal für die Phonola bearbeite, dann ist das vertane Mühe. Es gibt eben leider Komponisten, die das noch nicht so erkannt haben. Sie schreiben Stücke für die Phonola, die ein Pianist wahrscheinlich besser spielen könnte.
Sie erstellen zudem Notenrollen von Nancarrows Werk …
Die Original-Rollen von Conlon Nancarrow sind für das amerikanische Ampico-System. Auf diesen Rollen gibt es nur 85 Töne und rechts und links sind an den Rollenseiten Befehle für die Dynamik eingestanzt z.B. für forte, piano, crescendo, decrescendo und solche Dinge. Auch der Befehl, dass die Rolle zurückrollen soll, ist eine bestimmte Spur. Würde ich diese Rollen auf meiner Phonola abspielen, würden dann plötzlich Töne erklingen, die gar nicht geplant sind, weil es die Steuerbefehle sind. Das sind also verschiedene Systeme. Allerdings sind die Tonabstände auf dem Gleitblock, über den die Rolle gleitet, die gleichen. Man muss dann also zukleben, wenn man solche Rollen spielen will. Deswegen hab ich seit vielen Jahren auch die Absicht, das gesamte Œuvre von Nancarrow, das gesamte Rollenwerk neu zu rekonstruieren und handhabbar zu machen, diese Rollen also für Phonola oder original Ampico anzubieten.
Der Vervielfältigung solcher Rollen steht dann auch nichts mehr im Wege …
Wenn eine Rolle einmal im PC ist, kann sie natürlich gestanzt werden, und wenn jemand die haben will, kann er sie bekommen. Das hält sich allerdings sehr in Grenzen, weil es wenig Leute gibt, die solche Instrumente wie Phonola oder Ampico-Klavier besitzen. Sie kann man in Deutschland an einer Hand abzählen.
Was meinen Sie mit 13865 Nuclear Weapons?
Die Zahl ist amtlich. Das sipri-Institut in Stockholm hat 2019 diese Zahl der weltweit vorhandenen Atomsprengköpfe veröffentlicht. Die ändert sich natürlich jedes Jahr. Die neun Staaten, die sie besitzen, sind im Internet nachlesbar. Das hat mich dazu gebracht, dieses Stück zu schreiben. Ich war von dieser Zahl so entsetzt: über 13000! Das muss man sich mal vorstellen.
Und dann gibt es da noch ein Album zusammen mit Jan Klare.
Die Zusammenarbeit ist zustande gekommen durch den Schlagzeuger und Rektor der Musikhochschule Münster Stephan Froleyks. Er kannte mich schon lange durch Joseph Anton Riedl in München. Joseph Anton Riedl hat dort eine lange Tradition, was Neue Musik betrifft, und hat mich und den Schlagzeuger dahin für Konzerte eingeladen. Nach vielen Jahren hatte Stephan auf einmal die Idee, mich mit Jan Klare zusammenzubringen. Das ist also quasi eine Zwangshochzeit. Und hat sich ganz gut entwickelt. Ich spiele Nancarrow, er spielt Saxophon dazu und so sind interessante Sachen entstanden.
Welche Komponisten spielen Sie denn gern?
Die Kompositionen, die Steffen Schleiermacher schreibt, sind sehr schlüssig und sehr gut zu spielen. Und wenn man von Gefallen sprechen kann, gefallen sie mir auch. Knut Müller ist auch einer in Leipzig, der immer wieder mal ein Phonola-Stück absetzt. Dann gibt es in Dresden Christian Münch, der schon einige sehr extreme Sachen gemacht hat. Ansonsten sind das eher einmalige Angelegenheiten. Ich erhalte auch Anfragen von Amsterdam, da gibt es ein Pianola-Museum. Der Chef Kasper Janse hat ab und zu mal den Wunsch, dass ich da etwas von Komponisten aus seinem Umfeld bearbeite. Einen Namen muss ich noch erwähnen: das ist der Kompositionslehrer in Dresden, Prof. Manfred Weiss. Er hat auch einen großen Anteil an dem, was meine Ausbildung im Sinne von Handwerk betrifft. Ganz unabhängig von meinen Ideen unterstützte seine Lehre meine Fertigkeiten, dieses in Tönen, in Akkorden denken, diese wirkliche Fähigkeit, eine Partitur zu lesen und mit musikalischen Komponenten zu jonglieren, in unzähligen Übungen, ganz trocken. Das fand ich ziemlich gut damals. Irgendwelches verrücktes Zeug macht man, wenn man jung ist ja sowieso. Aber dass man zu etwas gebracht wird, was man selbst gar nicht machen würde: dreistimmige, vierstimmige Sätze, Choräle schreiben und dann ganz hart Fehler gezeigt zu bekommen: Oktavparallelen erzeugt, Gegenbewegung nicht beachtet …
Was macht man mit dem gelernten Werkzeug? Oft landet es ja doch in der Garage.
Aber wenn es gegenwärtig ist, wenn man das im Kopf hat und auch benutzt, dann ist das sehr schön. Ich kann keinen Text, kein Wort lesen, was ich nicht gleichzeitig rückwärts lese. Das ist automatisiert bei mir. Oder wenn ich eine Melodie sehe, dann ist rückwärts lesen oder umkehren meistens auch dabei. Alles, was man so musikalisch wahrnimmt, ist nicht in Stein gemeißelt. Zum Beispiel Tschaikowsky, die 5. Sinfonie, der langsame Satz. Am Schluss kommen die ersten Töne von „Yesterday“. Es ist doch schön, wenn man so etwas entdeckt.
Sicher spielten Sie noch andere als nur die Beatles.
Kinks, Stones: I can’t get no satisfaction – das war Pflicht. Wir konnten nirgends auftreten und das nicht spielen, das gab es gar nicht. Und eigene Kompositionen, das war das Schöne. Ich konnte mich schon ausprobieren im Komponieren für Band. Das hat riesigen Spaß gemacht.
Und jetzt komponieren Sie was am liebsten? Das gibt es einfach nicht, so etwas wie ein Steckenpferd, oder?
Eine Reihe Klavierstücke ist in den letzten Jahren entstanden, da bin ich nicht am Ende, das geht immer weiter. Aber eher kürzere Stücke. Das ist diese Reihe „Klaviertöne“. Es gibt davon mittlerweile 6 Bände, jetzt ist der 7. in Arbeit, das geht immer weiter. Andere Sachen müssen sich halt ergeben. Das kann ich jetzt nicht wissen.
Links & rechts – was war eher: das Gedicht oder das Stück?
Das Gedicht ist schon uralt, es war schon lange vorhanden. Das Phonola-Stück dagegen ist erst vor wenigen Jahren entstanden, in der Zeit der Flüchtlingsdiskussion in Deutschland. Es bildet nicht irgendetwas ab, hat eher eine Unruhe. Und belächelt diese Unruhe gleichzeitig wieder, es ist ja ein Musikstück. Der Gedanke war: Uns geht es sowas von gut, dass wir uns Konflikte auf diesem Level noch leisten können. Wenn wir echte Probleme hätten, wie manche Länder weit weg von uns, dann würde es anders aussehen, auch in der Konsequenz. Meine Frau arbeitet in der Schulküche hier in Lübben und verzweifelt, was jeden Tag weggeworfen wird. Und das bringt mich zu dem Gedanken: Es geht nicht um Sparen, es geht um Beendigung der Verschwendung. Das ist meine These. Wenn wir das schaffen, sind wir schon gut.
Sie lesen rückwärts: Es wird von sparen gesprochen, Sie drehen es um und nennen es „aufhören zu verschwenden“. Sie schauen es quasi von hinten an. Dann bekommt es ein anderes Licht, eine andere Farbe, andere Qualität, ist plötzlich gar nicht mehr so eng oder beklemmend. Es schöpft aus dem Übervollen und sagt: Es reicht doch, wenn wir etwas weglassen.
Es gibt so einen schönen Satz von Lao-Tse im Daodejing: „Aufhören ist besser denn überfüllen.“ Ganz einfach. Oder Charles Ives hat gesagt: „Hüte dich vor Überbeeinflussung.“ Das ist auch so ein Satz. Von einer Sache zuviel zu fressen. Das ist eine große Gefahr. Was dann an Kritik kommt: „Du verzettelst dich.“ Aber ich glaube, das nehme ich in Kauf, denn ein Leben lang an einer Sache zu sitzen, kann ich nicht. Es gibt ja Komponisten, die haben ein Leben lang ein Stück komponiert, immer wieder anders. Das ist nicht mein Ding. Es ist doch gut, wenn jemand auch mal größere Kreise zieht und nicht immer nur an irgendetwas dran klebt.
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Auszüge aus dem Gespräch wurden in der Sendung Neue Musik | Noten von der Rolle des HR 2 Kultur am 13. April 2023 gesendet.
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