Mia Zabelka
Ich habe die Vision von einer Musik, die von einem Individuum mit höherem Bewusstsein ausgeht
Es gab nur ein kurzes Zeitfenster für unser Gespräch, weil die Komponistin, Violinistin und Klangforschende Mia Zabelka in Musikprojekte weltweit eingebettet ist. Trotzdem öffnete sich ein kurzsilbiger Dialog und flog über die chemischen Elemente in mikroskopische Tiefen zu höherer Intelligenz in extraterrestrische Weiten.
Wohin geht es in den nächsten Tagen?
Ich bin jetzt auf Tournee in Göteborg, Stockholm und London, dann in Wien im Café Korb im Rahmen der Serie The SFIEMA Improvised Music Club. Und danach mit meinem Trio noch in Tschechien. Dort spiel ich mit der japanischen Pianistin Yoko Miura und dem Elektroniker Lawrence Casserley aus London.
Das Café Korb macht ja immer schon Veranstaltungen und ist gleichzeitig noch eines der wenigen Wiener Kaffeehäuser im alten Stil … Empfindest du das als Bruch?
Ganz im Gegenteil: Diese Konfrontation von Tradition und Avantgarde finde ich sehr spannend. Die Inhaberin Susanne Wiedl ist die Lebenspartnerin von Peter Weibel gewesen und gestaltet auch die Artlounge sehr künstlerisch, von Brus bis Weibel. Außerdem liegt es wahnsinnig zentral.
Dein kulturpolitisches Engagement mündet zurzeit neben Präsidentinnenschaften bei SFIEMA und der Austrian Composers Association in ein von MusicAire gefördertes Projekt: Music in the Countryside. Drei Stränge ziehen sich durch dein Werken: Wissenschaft, feministische Haltung, Landschaft im Sinne von Soundscape.
Bei letzterem geht es mir zusammen mit Zahra Mani um einen Demokratisierungsprozess: Wir machen Kunst im öffentlichen Raum. Im Klanghaus Untergreith soll der ländlichen Bevölkerung auch ein Zugang zu zeitgenössischem Kunstschaffen ermöglicht werden, welches sich sonst hauptsächlich im urbanen Raum abspielt.
Der ländliche Raum ist nicht der Gegenstand der Musik, sondern der Ort, wo sie stattfindet. Obwohl Zahra Mani häufiger auch Fieldrecordings einsetzt.
Das stimmt. Ich arbeite aber eher weniger damit.
Eure Zusammenarbeit existiert schon seit 2002 recht beständig. Was bringt und hält euch zueinander?
Zahra Mani hatte an einem Workshop von mir und Franz Hautzinger am ehemaligen Konservatorium der Stadt Wien teilgenommen und daraus ist dann diese Zusammenarbeit entstanden. Wahrscheinlich ergänzen wir uns sehr gut, auch wenn es zwischendurch lange Pausen gibt. Wenn wir zusammenkommen, entsteht immer etwas Spannendes.
Und das entstandene Material lässt sich dann dramaturgisch zu einem Album oder Auftritt strukturieren …
Das ist die musikalische Seite. Und auf der kuratorischen Seite arbeiten wir regelmäßig im Rahmen von PhonoFemme oder dem Klanghaus Untergreith und unserer EU-Projekte zusammen.
Der Wunsch zur Demokratisierung liegt allen diesen Projekten zugrunde … Den Blick auf Frauen in der Musik lenkten 2009 deutlich Pia Palme und Gina Mattiello mit dem e_may-Festival.
Das waren Pionierinnen damals. Heute ist das Netzwerk unter Frauen viel selbstverständlicher geworden. Damals wurde ich komisch angeschaut und gefragt, warum ich mich in diese Frauennische begebe, wenn ich doch international schon so erfolgreich war. So lauteten Kommentare von männlichen Journalisten beispielsweise.
Wie kann ich heute darüber reden? Was sagen wir heute 2023, nachdem 2009 Pionierinnen unterwegs waren? Warum gibt es PhonoFemme Vienna?
Weil wir immer noch arbeiten müssen. Sobald es uns, diese Frauennetzwerke nicht mehr gibt, sind wir wieder unsichtbar. Es ist nach wie vor ein Kämpfen ums Territorium.
Es verhält sich wie mit der Demokratie: In dem Moment man aufhört, um sie zu kämpfen, ist sie existenziell bedroht bzw. verloren. Demokratie ist nicht selbsterhaltend.
Das sehen wir ja dieser Tage.
Was hat dich aber konkret dazu bewogen, doch wieder nach Wien zu gehen, seit 2008 das Klanghaus Untergreith zu leiten und 2009 PhonoFemme Vienna zu initiieren, dich also auf hiesige Problematiken zu fokussieren?
Die Problematik der Unsichtbarkeit von Frauen besteht doch überall und irgendwo muss man ja anfangen. Auch in den Bereichen der Sound Art und der Improvisation muss, zumindest hier in Österreich, ständig ums Territorium gekämpft werden.
Hast du unterwegs folglich auch den Blick auf weibliche Protagonisten gerichtet?
Wir sind international vernetzt, wie zum Beispiel mit IKLECTIK London oder verschiedenen Kulturorganisationen im Alpen-Adria-Raum und legen natürlich überall einen Schwerpunkt auf die Musik von Frauen.
Der erste Strang Wissenschaft ist ja auch ein ziemlich besetzter Raum: einerseits akademisch und forschend in einem geschlossenen Zirkel – Ergebnisse zu Gehör zu bringen, ist dabei eine große Aufgabe, erst recht in Zeiten des Klimawandels. Deine Triebfeder für die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern ist aber eher, die Bewegung zwischen Mensch und Maschine hörbar werden zu lassen.
Es geht auch darum zu erforschen, wie eine Musik klingt, die nicht vom Menschen geschaffen wird. Ich habe die Vision von einer Musik, die von einem Individuum mit höherem Bewusstsein ausgeht, quasi extraterrestrisch. Diese Erkundung kann nur auf dem Weg der Intuition erfolgen, denn wenn diese Musik tatsächlich existiert, findet sie außerhalb unserer Denkfähigkeit statt. Mir geht es bei Musik nicht um Unterhaltung. Musik ist für mich die Beschreibung eines Zustands.
Seit wann gibt es dieses Verständnis von Musik bei dir?
Ich habe ganz klassisch begonnen, Violine zu lernen und Komposition zu studieren. Bald interessierte mich natürlich das Thema, wie ich meine ganz spezifische Klangsprache auf meinem Instrument entwickeln kann und habe mit neugierigen Ohren nach Möglichkeiten auf der Violine abseits der allseits bekannten Musiksprache gesucht. Wo kann ich weitergehen, was steckt in dem Instrument alles drinnen?
Haben dich diese Fragen zur elektrischen Violine geführt oder hast du sie schon an die elektrische Violine gestellt?
Beides. Vieles geht auch mit akustischer Violine beim Improvisieren, aber mit der E-Violine in Kombination mit electronic devices komme ich natürlich noch in ganz andere Bereiche Richtung Drone, Ambient, Noise und darüberhinaus.
Spannend ist ja die Bewegung überhaupt: Den Blick darauf zu lenken, dass man Sound auch manipulieren kann. Die Zoomverbindung unserer beiden Computer müsste in deiner Vorstellung doch jetzt akustisch übersetzt werden können. Wie klingt das?
Sehr räumlich, sehr sphärisch. Ich war bei den ersten telematischen Projekten Chipradio mit Gerfried Stocker beteiligt, wo wir drei ORF-Landesstudios über Video-, Audio- und Datenleitungen miteinander verbunden haben, lange bevor es das Internet gab. Wir probierten aus, wie der electronic space klingt, wie man im electronic space musikalisch interagiert.
Wie geschieht die Übersetzung? Ist sie konstruiert oder existieren Schwingungen, die in akustische Signale hochgerechnet werden?
Es sind Schwingungen und es gab dafür viele Projekte auch mit Kunstradio, z.B. Realtime oder The Space Violin.
Du meinst die Übersetzung der Vorgänge selbst.
Es hat mit akustischer Violine begonnen, mit der ich Klangmaterial erforschen wollte, das es bis dato nicht gibt. So kam mir die Idee des Automatic Playing: die körperliche Gestik simultan in Klang zu übersetzen. Das funktioniert hervorragend. Ich kann dadurch Klangmuster, Klangpatterns erzeugen, die so nicht zu komponieren möglich wäre. Man kann sie nur nachträglich in herkömmliche Notenschrift transkribieren. Die beim Spielen des Instruments allgegenwärtigen Gesten und Phrasierungen werden verstärkt, überzeichnet, transformiert, dekonstruiert und somit finde ich durch diesen Prozess neue musikalische Formulierungen, die über Stereotypen und Klischees hinausgehen, die für meine spezifische Musiksprache charakteristisch sind. Der Zugang fokussiert auf den Entstehungsmoment. So gelingt es mir auch, an das Unbewusste, zumindest in andere Zustandsbereiche, tranceähnliche Zustände zu kommen.
Das Besondere an der Akustik ist ja ihre Unmittelbarkeit, sie existiert jeweils nur im Moment. Die Übertragung von Vorgängen, die sonst dauert oder in Bildern vor sich geht, geschieht dann in Echtzeit.
Dabei geht es mir um die Darstellung von chemischen Prozessen. Ich möchte wissen, wie Atome klingen. Sie schwingen unterschiedlich, dadurch bilden sie signifikant die verschiedenen Elemente ab. Man kann die Schwingung der Atome in Klang übersetzen. Die Musik der Elementarteilchen liefert uns den Code der Zukunft, weil er es uns ermöglicht, höher entwickelten Lebensformen zu imaginieren.
Du weißt, wie Titan oder Quecksilber klingen?
Genau, das kann man erforschen.
Was willst du wissen?
Wie das Universum funktioniert. Was das Leben ist bzw. bedeutet. Die Wissenschaft hat immer noch keine allgemein gültige Antwort darauf.
Du legst die Demokratisierung alles Wahrnehmbaren als Annahme zugrunde, um dir alles gleichermaßen anschauen zu können. Deshalb erfährt die KI bei dir dieselbe Handhabe wie ein Instrumentalist.
Und ich sehe diesen Demokratisierungsprozess auch in einem historischen Kontext: Schönberg hat begonnen, die Musik zu demokratisieren, indem er die einzelnen Töne gleichstellte, was im Dur-Moll-System nicht der Fall ist. Dort gibt es absolut hierarchische Strukturen in Haupt- und Nebentöne, die ich überhaupt nicht mag. John Cage führte diese Demokratisierung weiter, indem er die Geräusche miteinbezog, also nicht nur die harmonisch schwingenden Obertöne, sondern auch die disharmonisch schwingenden. Und wie geht es weiter? Ich nenne es wissenschaftliche Musik, Automatic Playing.
Es gibt kein Befremden vor der Maschine, sondern eine ganz klare Haltung, die aber auch meint, das mit allem bewusst umgegangen werden muss. Die Maschine hat nicht die Führung über die Entwicklung des Sounds.
Das ist mit künstlicher Intelligenz ganz genau so: Da muss man zumeist auch noch eingreifen und steuern. Zumindest derzeit. Maschinen werden vom Menschen entwickelt und es stellt sich die Frage, ob sich Maschinen über das menschliche Denkvermögen hinaus überhaupt weiterentwickeln können? Also ob sich die künstliche Intelligenz zu einem anderen Ich, einem fremden Ich verselbstständigen kann, und wenn ja, wie wir Menschen damit umgehen?
Ist es dann leichter zu denken, dass es andere Wesen mit einer höheren Intelligenz gibt?
Wesen, die eine andere Form von Intelligenz besitzen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Ich interessiere mich für das, was jenseits der menschlichen Vorstellungskraft und Wahrnehmung existiert, und für den künstlerischen intuitiven Zugang dazu.
Eine Motivation für diese Fragen ist für dich auch, sich vorteilhaftere Lebensformen vorzustellen. Was wäre denn vorteilhafter?
Eine Lebensform, die nicht von Energiezufuhr abhängig ist, weil das wohl die größte Problematik auf diesem Planeten darstellt. Es geht hier immer um Stoffwechselprozesse, auch Maschinen funktionieren nur so. Es gibt vielleicht artifizielle Lebensformen, die diesen Stoffwechselprozess gar nicht benötigen. Was zur Folge hätte, dass es weniger Neid, Kampf, Krieg gäbe. Das ist für mich die Vorstellung von einer höherentwickelten Lebensform.
Wie hältst du es mit einem zyklischen Verständnis, dass Energie nicht verloren geht, nur verschiedene Formen annimmt und durch die Organismen wandert?
Das wäre eine Idealvorstellung.
Sie existiert, wird nur schwer begriffen.
Die Menschen haben es nicht begriffen, obwohl sie Teil davon sind.
Berührung als Transmitter zwischen Wissenschaft und Mensch ist wohl ein Argument für die Kunst. Bist du in dieser Mission aktiv?
Selbstverständlich. Sowohl Kunst bzw. Musik als auch Wissenschaft bringen Ideen über die Welt in eine Form, die es dem oder der BetrachterIn, dem oder der ZuhörerIn ermöglicht, sich mit den Ideen zu verbinden. Darüber hinaus gelingt es der Kunst auch, Menschen viel emotionaler zu berühren bzw. über das Unbewusste zu erreichen.
Die Photonen unterscheiden sich von den Atomen und subatomaren Teilchen durch verschiedene Schwingungsfrequenzen. Wie klingen Photone? Kann ich hören, um welche Elementarteilchen es sich gerade handelt?
Jegliche elektromagnetische Strahlung ist in Photonen quantisiert. Das bedeutet, die kleinste Menge an elektromagnetischer Strahlung beliebiger Frequenz ist ein Photon. Und da gibt es selbstverständlich große Unterschiede bei den Frequenzen. Natürlich ist das eine subjektive Wahrnehmung. Helium klingt für mich beispielsweise sehr schön, ganz hell …
Wie bist du da vorgegangen?
Es gibt Wissenschaftler, mit denen ich zusammenarbeiten darf, zum Beispiel am MIT – Massachusetts Institute of Technology, die die Musik von Elementarteilchen erforschen und Methoden finden, die Schwingungen hörbar zu machen. Ich lasse mich von diesen Klängen in meiner künstlerischen Arbeit inspirieren; die musikalische Erforschung erfolgt jedoch intuitiv.
Wie kannst du das ins Duo oder Trio umsetzen?
Sicherlich steuere ich solchen Sound bei, aber großteils bezieht sich Wissenschaftliche Musik auf meine Soloarbeit. Im Duo und Trio bin ich eher improvisatorisch unterwegs.
Während die Teilchen der Elemente durch Eigenschwingung klingen, untersuchst du solche Phänomene wie Modulation, Dissonanz, Resonanz – experimentierst du dann mit den Teilchen oder nimmst du ihren Klang dafür her?
Ich nehm den Klang und experimentiere damit. Das ist, wie gesagt, eine sehr intuitive Annäherung von meiner Seite. Ich stell mir die Sachen vor und überprüfe bzw. erzeuge sie dann. Mein Klangvision ist es, chemische Abläufe und strukturelle Prozesse in Klänge umzusetzen und im Audio-Bereich verfügbar zu machen. Ich möchte die ZuhörerInnen in eine technisierte Welt versetzen, in der Vorgänge der Modulation, Verkettung, Eliminierung sowie die Oszillation von Elementarteilchen ihre eigenen Geschichten erzählen. Jenseits von Melodien, Harmonien und Rhythmus geht es mir darum, automatische Prozesse hörbar zu machen. Ich erforsche, wie Du sagst, mit meinen Klangexperimenten Noise, Bewegung, Automatisierung, Teilung, Symbiose, Dissonanz und Resonanz.
Die Gestik des Menschen beim Instrumentieren enthält eine visuelle Komponente, die in Performance münden würde. Doch du übersetzt diese Geste noch bevor sie überhaupt visuell erfahren wird in Klang. Du holst die Geste ab, bevor sie zur Performance werden kann.
Es ist, wie bereits erwähnt, eine Überzeichnung dieser Bewegung, die ja immer vorhanden ist. Ich überhöhe diese Bewegung, damit sie hörbar wird oder ganz neue, ganz andere Klangmuster entstehen. Oder ich betrachte auch, wenn diese Bewegung gerade nicht entsteht. Der japanische Noise-Gitarrist Keiji Haino, beschäftigt sich beispielsweise auch damit und es gibt musikwissenschaftliche Studien dazu, dass es eine identifizierbare Handschrift von Instrumentalisten gibt, die einzigartig ist.
… dass Originalität aus einer Summe von Eigenschaften und Eigenheiten resultiert.
Und ich suche nach einem Verständnis, woraus sich diese Originalität überhaupt entwickelt. Spielt irgendein Gitarrenlehrer Jimi Hendrix, merkt man, dass es nicht das Original ist. Jimi Hendrix hat seine Musik sehr stark aus der Bewegung heraus kreiert. Es können 100 Gitarristen Jimi Hendrix spielen und es klingt nicht wie Jimi Hendrix. Miles Davis ist auch ein Beispiel dafür.
Ich frage mich oft, warum ich einen Menschen an seinem Gang erkenne, ohne ihn zu sehen. Oder Handschriften sofort zuordnen kann, obwohl doch jeder von sich behaupten würde, nicht ebenmäßig gleich zu schreiben. Was erkenne ich da?
Und in der Musik frage ich mich: Warum erkennt man Jimi Hendrix? Bei manchen Musikern erkennt man die persönliche Handschrift sofort. Du hörst zwei Töne Miles Davis und weißt es. Und es gibt Millionen andere Trompeter, die alle gleich klingen. Woran liegt das?
Als gäbe es wirklich, zwischen allem, was wir uns erklären, die verschiedenen Sinne, ein Dazwischen, Zwischenebenen, Zwischentöne, ein zwischen den Zeilen. Und trotzdem scheint es etwas zu geben, was wir nicht erklären können, wofür wir keine Beschreibung haben, was aber den ursprünglichsten Eindruck macht. Was uns gegenseitig erkennen lässt.
Und bei der Musik gelingt es immer nur ganz wenigen. Das ist oft eine lebenslange Suche. Ich versuche, weiter hinaus zu schauen.
Tiefer hinein und weiter hinaus. Kannst du (d)eine Entwicklung beschreiben?
Begonnen hat es mit der LP Somateme mit Giselher Smekal, dazu inspirierte mich das Buch Wer singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied von Roland Barthes. Noch vor dem Computerzeitalter hab ich am Mischpult Loops gelegt und mit Klängen meines eigenen Körpers experimentiert: Atemklänge, Pulsschlag etc., sie mit Feedbacks manipuliert und meine Improvisationen mit diesen Klanglandschaften in Verbindung gesetzt. Auch Schreie wie bei Organarie, wo das Fleisch in der Stimme hörbar wird, wie Roland Barthes es beschreibt. Damals hatte ich noch einen sehr haptischen Zugang zum musikalischen Material, es war teilweise körperliche Schwerstarbeit, einen bestimmten Klang zu bekommen. Man konnte aus einem zerbrochenen Glas ein ganzes Werk kreieren. Heutzutage hat man eigentlich alle Klänge zur Verfügung. Es sind fast zuviele Informationen.
Das zwingt zu einer anderen Arbeitsweise, einem anderen Ausdruck … Der Umgang mit technologischen Errungenschaften wird einerseits zur Gewohnheit und fordert andererseits einen ganz anderen Umgang heraus. Es ist überflüssig geworden, ein Signal am Computer zu manipulieren oder zu überarbeiten. Jeder kann das machen.
Deswegen konzentrierte ich mich nach dieser ersten Arbeit Somateme hauptsächlich auf das Instrument Violine. Auf meinem nächsten Solo-Album M, das 2011 entstanden ist, sind nur Klänge zu hören, die ich auf der elektrischen Violine erzeugt habe. Alle anderen Klänge haben mich nicht mehr interessiert, die waren einfach zugänglich. Heute spiele ich sowohl akustische als auch elektrische Violine und verschiedene elektronische Geräte. Besonders wichtig ist mir bei der E-Violine der direkte Zugriff auf das Klangmaterial über meine Effektpedale, die ich manuell bedienen kann. Der elektronische Klang entsteht durch „physisches“ Spielen. Mit diesem Setup habe ich die Möglichkeit, die Bandbreite meines Klangs so sehr zu erweitern, dass die Violine selbst zum Interface bzw. zum elektronischen Klangerzeuger oder zur Klangmaschine wird.
(Es läutet.)
Meine neue CD DUOS ist gerade angekommen … mit der amerikanischen Schlagzeugerin Tracy Lisk und dem kanadischen Cellisten Alain Joule.
Nachdem du dich auf den Klang der Geige fokussiert hattest, entwickeltest du die chemische Musik.
Ich hatte mich bereits damals vom Klang der Atome inspirieren lassen und in meine eigene musikalische Sprache übersetzt.
Weil du Bewegung und Gestik in Klang zu übersetzen suchtest, gelangte dein Ohr zur Bewegung von Teilchen. Trotzdem sagtest du, Musik sei für dich ein Zustand …
… die Beschreibung eines Zustands von Prozessen.
… und da steckt Bewegung drin, weil die Prozesse ja Bewegung und Entwicklung implizieren. automatic playing beschreibt auch den Vollzug und liefert akustische Informationen über unwillkürliche Bewegungen, wie sie in der Gestik passieren. Nicht intendierte, unbewusste Bewegungen. Fühlst du dich gerufen, Stille in den Klang zu holen?
Mich interessiert die Stille, aber auch das Gegenteil, beispielsweise Noise, die Intensität der Klänge. Alle Facetten und Nuancen, die die Musik, unser Leben, unser Dasein ausmachen. Sämtliche Schwingungen also …
Trotzdem berührt deine Musik.
Es ist eine Magie, die das Staunen über mein Forschen ausdrückt.
Vielleicht ist das auch der Schlüssel zu unserem Sein.
Wir zaubern und gut ist. Zum Glück gibt’s noch diese Magie in der heutigen Zeit.
Gibt es Ausblicke auf Sachen von dir, die noch keiner weiß?
Nachdem ich heuer meinen 60. Geburtstag feiere, hab ich mir mit Zarah Mani gedacht, die ja auch mein Album M produziert hat, dass sie eine Art „Best of“ meiner Arbeit aus allen Jahren, von Somateme über M, Cellular Resonance, Monday Sessions und MYASMO bis jetzt zusammenstellt. Der Arbeitstitel dieser Compilation lautet: Ars et Vita – automatic playing & scientific music – Mia Zabelka’s entire musical life as a soloist to date. PhotoTone, mein neues Solo-Album, wird wahrscheinlich 2024/25 erscheinen.
Du hast unglaublich viele Zusammenarbeiten realisiert, was man an deiner riesigen Diskographie ablesen kann. Gibt es für dich eine Art von Ankern, die jede einzelne dieser Zusammenspiele für dich ausmachen?
Jede Zusammenarbeit ist ein Lernprozess. Ich arbeite sehr viel mit internationalen MusikerInnen zusammen. Im besten Fall entsteht dann auch zwischen uns live auf der Bühne so eine Magie, weil wir ja immer improvisieren und man nie weiß, was entstehen wird. Auch hier finde ich keine Erklärung, warum es mit manchen ganz selbstverständlich funktioniert und mit anderen nicht. Es muss irgendwie mit Chemie zu tun haben. Mit meinem Trio Blurb mit John Russell und Maggie Nicols jedenfalls passte es hervorragend. John Russell ist leider gestorben. Es gibt eigentlich nicht so viele Zusammenarbeiten, die dann wirklich so gut funktionieren, dass sie die Sache auf den Punkt bringen.
Die Bühnenpräsenz ermöglicht dabei dem Zuhörer an dieser Magie teilzuhaben.
Nicht nur an der Magie, auch am Entstehungsprozess der Musik nimmt der Zuhörer bei Improvisation aktiv teil.
Aber gerade du hast aufgrund deiner Erfahrungen ein anderes Verständnis dafür entwickeln und verbreiten können, wenn ihr nie am selben Ort wart oder gemeinsam auf einer Bühne standet und trotzdem ein Austausch stattfinden und Musik entstehen konnte.
Auch da muss die Chemie funktionieren. Nonverbal, nonhaptisch – CRYOGENICS mit Icostech oder auch The Quantum Violin mit Glen Hall sind so entstanden. Es waren keine Livesessions, sondern wir haben uns – in der Coronazeit – gegenseitig Material immer wieder hin und her geschickt, quasi ausgetauscht.
Da ist die Arbeit innerlicher.
Genau. Derzeit arbeite ich wieder an einem neuen Projekt auf diese Art und Weise. Sie bewährt sich und funktioniert gut. Man muss nicht immer ins Tonstudio gehen, um gemeinsam Musik zu produzieren. Ähnlich wie bei John Cage, der ganz bewusst Dinge zusammengeführt hat, die gar nichts miteinander zu tun hatten. Und irgendwo ergaben sich dann zufällige Überschneidungsmuster.
… und Austauschmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Dingen. Gibt es da ein Fingerspitzengefühl für die Auswahl, mit wem du solche Projekte machst?
Das ergibt sich eigentlich automatisch. Icostech hatte mich beispielsweise angeschrieben und kannte meine Musik offensichtlich schon bevor er mich persönlich kennengelernt hat.
Sind Dialog und Interaktionsdenken die Basis deines Musikdenkens?
Absolut. Musikalische Kommunikation und Interaktion führen mich an. Das Spannende bei der Musik ist ja, dass wir gleichzeitig sprechen können. Wenn du mit MusikerInnen auf der Bühne stehst, geht es um respektvolles Zuhören, Aufeinanderzugehen und ein sich Einlassen auf den gemeinsamen Prozess, von dem man gar nicht weiß, wohin er führt. Vertrauen gehört auch dazu. Wir leben mit diesen Bausteinen ein Gesellschaftsmodell vor, das den Demokratisierungsprozess in die Zukunft führt. Die Form der musikalischen Komposition entsteht also in dem Moment, in dem gegenseitiges Raumgeben und Zuhören stattfindet; Improvisation ist keineswegs chaotisch oder formlos. Improvisierende Musiker, die über viele Jahre eine spezifische Musiksprache auf ihren Instrumenten entwickelt haben, kodifizieren und übernehmen ihre eigenen spezifischen Regeln.
Die Bewegung ins Ungewisse ermöglicht die Begegnung mit unbekanntem Neuen.
Es kann dann eben plötzlich auch so ein magischer Moment entstehen. Das spürt jeder im Raum, MusikerInnen genauso wie das Publikum.
Dann entsteht Verbindung. Nährst du dich von diesen Momenten?
Nicht nur, aber sie sind etwas Wesentliches. Der ganze Entwicklungsprozess meiner Forschungsarbeit nährt mich auch. Ich bin ja leidenschaftliche Mathematikerin und stelle mir Aufgaben bei jedem Projekt. Jeder gelingende Versuch, sie zu lösen, beglückt unglaublich.
Meine künstlerische Arbeit ist grundsätzlich durch Hybridität gekennzeichnet, sie findet an der Schnittstelle zwischen Musik und Wissenschaft, zwischen Improvisation und Komposition, Noise, Drone und Experimenteller Elektronik statt. Es gibt aber auch Elemente der Performance Art, Videokunst und des Crossovers. Ich verstehe hybride Kunst nicht als konstruierte Verschmelzung. Stattdessen werden verschiedene Elemente, die mich interessieren, von mir gefiltert, beispielsweise durch das automatic playing. Aus dieser Destillation erschaffe ich eine neue Klangsprache, meine ganz eigene spezifische Ausdrucksweise – die Wissenschaftliche Musik.
Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
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