Belma Bešlić-Gál
Ich will nicht schweigen
Ein Sturz der Großtante just am Morgen unseres verabredeten Gesprächs ließ die Begegnung durch geteilte Sorge, Krankenhausnachrichten und den Alltag unter Müttern stattfinden. Derweil erhielt die Komponistin und Pianistin Belma Bešlić-Gál im Oktober 2023 ein Arbeitsstipendium der Stadt Wien für Prostorъ [Uncovering the Existential Through My Everyday Temporality: An Artistic Journey] und kurz darauf das Staatsstipendium Österreichs für Komposition unter anderem für eine Komposition zu Stećci, mittelalterlichen Grabsteinen in der Radimlja-Nekropole in Stolac (Bosnien-Herzegowina), die zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wurde.
2009 begegneten wir uns zum ersten Mal, du saßt mit dem zweiten Kind schwanger am Klavier – als Komponistin oder Pianistin?
Als Komponistin. Aber es war ein allmählicher Prozess. Schon während des Klavierstudiums in Weimar habe ich begonnen, Dinge wie Aufführungspraxis, Wettbewerbe usw. zu hinterfragen. Ich komme aus einer jugoslawischen Hochbegabtenschule und war schon mit sechs oder sieben Jahren in diesem Drill, habe vier bis fünf Stunden am Tag Klavier geübt. Das war sehr anstrengend, hat mir aber auch Spaß gemacht und viel gebracht. Folglich rebellierte ich dagegen, obwohl ich es liebte. Während des Studiums in Weimar wurde mir allmählich klar, dass mir dieses Leben nicht reicht. Trotz gewisser Freiheiten als Interpretin gibt es ja doch immer recht starre Parameter, die bei den jeweiligen Komponisten des klassischen Kanons zu befolgen sind. Diese Welt wurde mir zu eng.
Hast du es so empfunden, dass die Mutterschaft einer Überprüfung deiner Fertigkeiten und Potenziale gleichkam? Du bekamst dein erstes Kind in Weimar während des Klavierstudiums.
Als mein Sohn im Jahr 1999 geboren wurde, war ich im dritten Studienjahr. Alleinerziehend und selbsterhaltend mit einem Baby sechs Stunden täglich zu üben, ging sich einfach nicht aus. Gleichzeitig begann ich damals für mein Kammerensemble Stücke zu schreiben. So entstand in mir nach und nach die Idee, ich könnte auch Komposition studieren, ich wollte das ausprobieren. Ich entschied mich, nach Österreich zu gehen und bekam einen Studienplatz in Graz.
Und wie hast du dich als Alleinerziehende finanziert?
Ich habe viel als Korrepetitorin gearbeitet, Klavier unterrichtet, gekellnert oder war im Callcenter angestellt. Das Übliche halt.
Wenn das Klavierspiel seit frühester Kindheit derart existenzfüllend für dich war, welche Auswirkung hatte es, damit aufzuhören?
Es hat sich immer angefühlt wie eine Pause. Das Klavier war für mich identitätsstiftend, es hat mich geprägt. Die Suche nach Perfektion, die sich mir seit meiner Kindheit eingebrannt hat – ich musste einzelne Takte an die hundert Mal wiederholen, bevor ich wieder aufstehen durfte – fand eine kurze Unterbrechung. Ich ging nach innen und schaute, was ich vielleicht anderes aufbauen könnte. Natürlich hatte ich auch Angst, mich auf neues unbekanntes Gebiet hinzubewegen. Aber gleichzeitig wusste ich, das Klavierspiel mit ebenjenem Perfektionsdrang wird mich nie verlassen, wie eine Mutter oder ein Vater.
In Prostorъ geht es um die alltägliche Verrichtung unsichtbarer Dinge, die so sinnentleert scheint. Wir sprachen gerade vom Anfang deiner Existenz, als es um Wiederholung in einem massiven Ausmaß ging, um Perfektion zu erreichen. Ca. 20 Jahre später beschreibst du, wie sich Wiederholungen als Notwendigkeit der Existenz in ähnlich endlosem Ausmaß abzeichnen, um etwas zu erreichen?
Mich fasziniert philosophisch und konzeptuell dieses Nicht-Entkommen-Können. Wir sind im Leben und Vollziehen darin ein riesiges Konglomerat an Wiederholungen: Schlafen, Essen, zur Toilette gehen. Alles ist Wiederholung, alles bewegt sich im Kreislauf, Menschen werden geboren, sie sterben. Um meisterhaft in etwas werden zu können, bedarf es Wiederholungen. Egal ob im Sport, in der Kunst, egal, was wir tun: überall streben wir nach unerreichbarer Vollkommenheit. Was sind das für Konzepte? Wieso kann man dem nicht entkommen? Wir stecken darin fest, können diesen Motor aber auch als befreiend und gegeben empfinden.
Hat dich dieses Fragen zum Komponieren gebracht? Oder wurde dein analytisches Denken im Studium inspiriert? Das experimentelle, freie Denken droht doch eher zu schwinden, wenn Belastungen, Zudringlichkeiten und Anforderungen durch Mutterschaft zunehmen, oder? Du warst lange Alleinversorgerin und hast gleichzeitig immer komplexere Kompositionen, anschließend Musiktheaterstücke entwickelt …
Ein Leben ohne Kinder war für mich genauso undenkbar wie ein Leben ohne Kunst. Vielleicht ist dieses Leben für mich möglich, weil ich schon als kleines Kind gelernt habe, mich zu strukturieren, wenn ich in der Volksschule im Kopf Klavier übte. Während der vielen alltäglichen Verrichtungen mit Babys oder Kleinkindern entwickelte ich all meine Konzepte, Überlegungen und Musik im Kopf. Ich hatte keine Zeit, mich hinzusetzen und in Ruhe nachzudenken und zu arbeiten. Als ob zwei Gehirne in mir vorhanden wären. Es war mir egal: Ich schaue, wo ich lande, und mache, was ich will. Davor lese ich aber sehr viel. Ich muss Bilder haben, muss es riechen können, brauche ein Narrativ und Emotionen. Erst wenn es einen konzeptuellen Text gibt, höre ich die Musik. All das entsteht während alltäglicher Vorgänge im Kopf, zwischen zwei Handlungen notiere ich kurz Erdachtes. Danach etwas auszunotieren nimmt die kürzeste Zeit in Anspruch, etwa zwei bis vier Wochen. Doch diese Fragmentierung des Alltags ist zermürbend und ermüdend.
Was rettet und nährt dich, sodass du sogar mit wachsendem Ausmaß dieserart arbeiten kannst? Nehmen Zwischenfälle, wie solche, die unser Gespräch erst verhinderten, Einfluss auf deine Arbeit, lassen sie dich deine Entwürfe nicht vergessen?
Nein. Die künstlerische Arbeit ist für mich eine Lebensnotwendigkeit. Ich habe Krieg erlebt und bin sehr früh ohne Eltern geblieben, war Flüchtling in Deutschland – alles eigentlich traumatische Ereignisse. Ich muss einfach an diesen Konzepten arbeiten und in ihnen die wesentlichsten Fragen in unterschiedlichen Kontexten stellen: Warum und was sind wir? Wozu und wohin? Sie kommen immer wieder und gesellen sich zur Frage nach dem Sinn und Sinnlosigkeit. Ich kann gar nicht anders: Ich muss meine Gedanken in dieser Welt materialisieren, sonst hätte ich das Gefühl, tot zu sein. Vielleicht ist das auch egoistisch.
Von Weimar bist du dann nach Wien gegangen, hast aber in Salzburg Komposition studiert.
Es war ein bisschen anders: 2001 bin ich von Weimar zurück nach Bosnien gegangen und wollte dort auch bleiben, aber es war nicht mehr das Land, das ich verlassen hatte. Jugoslawien existierte nicht mehr, viele Leute waren gegangen. Ich konnte mich erst recht als Alleinerziehende mit der extremen Klerikalisierung der Nachkriegsgesellschaft, dem Nationalismus, dem Konservativismus nicht arrangieren. Also ging ich 2003 nach Graz, um Komposition und Musiktheorie zu studieren, lernte im Jahr 2008 aber Bernhard Gál kennen und zog deshalb nach Wien. Nach Salzburg gingen wir dann 2010 als Familie, weil er dort für drei Jahre eine Doktoratsstelle an der Universität Mozarteum bekommen hatte.
Wie entstand dein Interesse an musiktheatralischen Werken?
Ausgehend von meinen pianistischen Aktivitäten und kleiner besetzten Instrumentalwerken sehe ich rückblickend etwa ab den 2000er Jahren einen kontinuierlichen Übergang: Mein erstes protomusiktheatralisches Konzept entstand 2004/05, als ich inszenierte Bühnenauftritte am Klavier mit anderen InstrumentalistInnen realisierte. Für mich war das etwas ganz Neues und ein wichtiger Schritt, als Pianistin mit bestimmten Kostümen und schauspielerischen Aktivitäten auf der Bühne zu agieren. Das Konzept hieß reflection und war nur in Bosnien zu sehen. Von da an ging es immer mehr in diese Richtung, 2009 kam dann mein offiziell erstes Musiktheater Hibernation zustande. Es ist ein sehr reduziertes Stück, in dem ich als Kommandantin eine Reise ohne Anfang und Ende in einer Art Raumschiff unternehme, ohne eigentliche Geschichte. Auf der Bühne befinden sich zwei hibernierende Wesen, die in eigens konstruierten Hibernation Pods liegen.
Kybernetische Räume, Artificial Intelligence, computergesteuerte Visualisierung, auch Raum- und Lichtgestaltung sind deine Handschrift …
Schon Anfang der 2000er, als ich eigentlich noch Pianistin war, haben mich Raumgestaltungsgedanken mit futuristischen Elementen und das Phänomen der Verkünstlichung beschäftigt. Vermutlich hat mich auch die Tatsache geprägt, dass ich in meiner Weimarer Zeit viele Stunden mit Bauhaus-Studierenden verbracht und Diskussionen zu Architektur, Gestaltung und Entwürfen, wie mit Raum umgegangen werden soll oder kann, jahrelang aus erster Hand miterlebt habe. Ursprünglich wollte ich in Deutschland Astronomie und nicht Klavier studieren. Mein Vater fand, Pianistin sei so ein schöner Beruf für eine Frau.
Durch dein gesamtes Schaffen strömt die Frage: Was ist danach, dahinter? Wie könnte es jenseits unserer Vorstellungen aussehen? Gleichzeitig ist dir aber bewusst, dass wir nichts außerhalb unserer Vorstellung denken können. Ist es eine Sehnsucht, nach dem, was wir nicht wissen?
Absolut. Es ist genau das: die Sehnsucht nach dem, was wir nicht wissen. Oder agnostisch postuliert: Weil wir in absehbarer Zeit auch nicht in der Lage sein können, zu wissen. Oder als Menschen vielleicht auch niemals darum wissen können. Die unvorstellbare Größe des Universums hat mich immer fasziniert. Die Unendlichkeit. Und wir sind gefangen in unseren biologischen Existenzen in dieser einen Welt?
Aber auch im nichtmateriellen Bereich, wie beispielsweise dem Klang, sind wir begrenzt. Versuchst du durch die Verbindung von Klang, Raum, Visualisierung, auch Performance vorher Unbekanntes, Ungedachtes zu entdecken?
Ich versuche etwas zu offenbaren und in den Raum zu stellen, worüber man nachdenken kann. Alles andere wäre eine Anmaßung. Es ist so viel in uns und außerhalb, was wir nicht kennen. Alles ist unbekannt. Wir sind Gefangene in uns selbst.
Entsteht solche Neuentdeckung für dich bereits in der Ausarbeitung des Konzeptes von beispielsweise Close Encounter Of The Fourth Kind oder dann in der Ausführung? Wo geschieht das Unvorhersehbare, das zu Entdeckende?
In beidem. Gerade bei diesem Stück wollte ich einfach ausprobieren, wie eine solche Begegnung im Raum funktionieren könnte, wenn paradoxe Fragen gestellt werden, zwei völlig gegensätzliche Welten aufeinanderprallen. Das Werk erzählt die Geschichte einer existenzialistischen Begegnung zwischen zwei irdischen Musikern und vier – womöglich dysmusischen – Außerirdischen. Im absurden Klangraum der zufälligen Begegnung zweier sich völlig fremder Welten werden auf naive und gleichzeitig makabre Weise einige der wesentlichen Fragen unserer Existenz gestellt. Seit längerem interessiere ich mich für den Fall von Betty und Barney Hill aus den frühen 1960er-Jahren. Das amerikanische Ehepaar behauptete, von außerirdischen Wesen entführt und auf ihrem Raumschiff medizinisch untersucht worden zu sein. Der Vorfall ist der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Phänomen, für welches bis dato mehrere Erklärungsversuche existieren, und auch einer der Ausgangspunkte für dieses Werk. Wie kommt es dazu? Sind es Psychosen? Gibt es Beweise dafür? Ich bin offen. Vielleicht wird es sich irgendwann zeigen. Jedenfalls will ich nicht vorab urteilen. In der Geschichte der Menschheit wurde immer wieder etwas für völlig ausgeschlossen gehalten. Jahrtausendelang verstand man die Zeit absolut und jetzt weiß man, dass sie relativ ist. Wer weiß denn, was noch kommt?
Welchen Einfluss hatte dein Kompositionsstudium, Konzepte auf diese Weise auszuformulieren und Ideen sich so materialisieren zu lassen, dass sie Musikgeschichte können?
Erst am Ende des Studiums begann dieses Konzeptdenken und nahm danach in Wien immer mehr zu. Ich war total ahnungslos bezüglich zeitgenössischer Musik, als ich Komposition zu studieren begann. Beim Klavierstudium in Weimar war für mich mit Claude Debussy die Musikgeschichte beendet. Ich wusste so gut wie nichts über die Musik nach Schönberg. In meiner ersten Unterrichtsstunde bat ich meinen damaligen Professor Bernhard Lang um Strenge und Gnadenlosigkeit, um das Handwerk zu erlernen. Anschließend hat er mich dann auch wirklich mit Orchestrationstechniken gequält. Damit ich umsetzen kann, was ich will, muss ich wissen, was geht und mich entsprechend informieren. Im Studium lernte ich die Basics, um mich an meine eigene Sprache und Ästhetik heranzutasten. Klaus Lang, mein langjähriger Kompositionsprofessor, lehrte mich, dass es in der Kunst vor allem um die Entdeckung der eigenen künstlerischen Perspektive geht – weit über die herkömmlichen Maßstäbe für Erfolg hinaus. In dieser Auseinandersetzung mit dem scheinbar Sinnlosen, erschloss sich mir eine persönliche Erkenntnis: Kunst ist ein Akt der Rebellion gegen die Vergänglichkeit.
Und womit hast du deine Gedankenwelt gefüttert?
Seit meiner Kindheit bin ich Sciencefiction-Fan. Lesen war mein Rettungsanker im Krieg in Bosnien, in Leipzig im Exil. So habe ich auch Deutsch gelernt: mir unbekannte Wörter im Deutsch-Serbokroatischen Wörterbuch nachgeschlagen und mich so durch deutsche Bücher gelesen. Die Kombination aus Kriegserfahrung und Beschäftigung mit astronomischen und wissenschaftlichen Büchern war notwendig: Du wirst beschossen, hast nichts, aber versuchst, aus anderer Perspektive auf dich selbst zu schauen. Wenn ich sterbe, ist es vielleicht nicht vorbei. Aber auch wenn ich überlebe, sollte mein Leben eine Message haben. Damit es einen Sinn hat, nicht aufzugeben. Möglicherweise bietet die Betrachtung des Todes meiner Freunde aus einer höheren, kosmischen Perspektive einen gewissen Trost, indem sie erkennen lässt, dass das Bewahren von Erinnerungen nicht zwecklos ist. Diese Erfahrungen fließen immer in meine Konzepte mit ein.
Waren diese Gedanken ein Gegenwicht zu den Ängsten?
Erst war ausschließlich Angst. Und irgendwann existiert nur noch der Moment. Dann konstruiert man sich eine Realität, in der alles, was passiert, irgendeinen Sinn bekommt. Nicht im religiösen Sinne, ich bin Agnostikerin. Aber ich brauchte dadurch keine Angst mehr zu haben: Alles, was passierte, hat so sollen sein. Und solange es mich gibt, ist es meine Aufgabe, mit meiner Arbeit eigene Spuren in die Welt zu setzen.
2017 kam dann die Surrealesque SPACE = WOW (but I still miss you earth) … Ein feiner Humor bis hin zu leiser Ironie begleiten dein Schaffen, was es vielleicht auch zugänglich macht. Über Zitate und Anlehnungen können assoziative Verbindungen hergestellt werden, aber vor allem die existenzialistische Grundstruktur deiner Werke müsste eigentlich jeden ansprechen. Allein der Nachsatz but I miss you, earth öffnet einen riesigen Raum, der alle einschließt. Es sind irdische, zutiefst menschliche Themen, die du behandelst – ist diese Existenzialität für dich auch eine weibliche Frage?
SPACE=WOW (BUT I STILL MISS YOU, EARTH) war eine Auftragsarbeit des Kulturzentrum bei den Minoriten Graz an Lyriker Christoph Szalay und mich. Der wunderbare Titel stammt von ihm. Gemeinsam entwickelten wir, so hoffe ich, ein feines Gewebe aus Text und Klang, dass die für das Jahr 2035 geplante Mars-Mission zum Ausgangspunkt wählt, um sich mit dem Planeten Erde und dessen BewohnerInnen auseinanderzusetzen. Ich habe mich nie besonders intensiv mit der Frage beschäftigt, ob ich mich als Frau benachteiligt fühle. Wobei ich es objektiv bin. Auch wenn sich Dinge ändern, ist es noch ein weiter Weg. Ich habe mich in bestimmten Situationen oft zu sagen gescheut, dass ich drei Kinder habe, damit es mir nicht zum Nachteil gerät. Erst seit kurzem rede ich immer offen darüber. Immer war da die Angst, Aufträge nicht zu erhalten.
Das Mysterium zu beleuchten, ist für dich (Über-)Lebenselixier. Es könnte aber auch zum Politikum geraten, sich als Frau und Mutter Freiraum zu erkämpfen.
Ich stamme aus einer linken Familie, bin jugoslawisch erzogen worden, das heißt im Geiste der Solidarität, Brüderlichkeit, Einheit und progressiven Gedankenguts in Richtung einer besseren, gerechteren Welt, an der man beständig arbeiten muss. Als es in den 80er Jahren zu Spaltung, Nationalismus, Konservatismus und zur Fragmentierung der Gesellschaft kam, brach für mich eine Welt zusammen. Alle Vision und Hoffnung war in diesem fürchterlichen Krieg zugrunde gebombt worden, vielleicht auf immer und ewig. Die Beobachtung von Politiken, die Spaltung erzeugen, und der kapitalistischen Welt, in der die soziale Ungerechtigkeit immer größer wird, gießt zusätzlich noch Gift darüber. In was für Demokratien leben wir, wenn wir grundsätzliches Unrecht oft nicht ansprechen können, weil es existenzielle Konsequenzen haben kann? Wie kann man es schaffen, die Fragen nach diesen strukturellen Ungerechtigkeiten, die so viele Menschen in der Welt betreffen, wirkungsvoll zu stellen? Was kann man machen?
Das ist der entscheidende Punkt: Wir Europäer stecken nicht in einer Ohnmacht angesichts unsäglichen Leids in der Welt. Wir stecken in Bequemlichkeit, weil wir es nicht spüren. Müssten wir uns nicht gerade verpflichteter fühlen, weil wir noch handlungsfähig sind?
Uns geht es gut, weil es so vielen Menschen in der Welt schlecht geht. Deshalb ist es an uns, die Stimme für die zu erheben, die für sich nicht sprechen können. Wir haben die Möglichkeit dazu. Und ich will nicht schweigen. Ich sehe mich in der Pflicht, dies mit jenen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, zu thematisieren. Aber vielleicht reicht das nicht. Was ist denn die Rolle der Kunst? Mich irritieren Aussagen von Kollegen wie diese: „Wenn mehr als einhundert Leuten mein Stück gefällt, dann mache ich etwas falsch.“ Das zeugt von einer elitären Haltung. Die aktuelle Musik wird schließlich zumeist über Steuergelder finanziert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch Menschen, die kaum Berührungspunkte mit zeitgenössischer Musik haben, sehr beeindruckt und auch an weiteren Einladungen interessiert waren. Ich sehe mich also auch in der Pflicht, mit meinen Konzepten, Ideen und Gedanken in die Gesellschaft zu gehen, damit ich etwas bewirken kann.
Der Mensch unterscheidet sich vom Tier offensichtlich und höchstens durch sein Imaginationsvermögen. In diesen Gedanken gehört jenseits der historischen Überhebung des Menschen über alle anderen Lebewesen einerseits, dass wir den Gesetzmäßigkeiten des Lebens unterworfen sind und das mit einer demutsvollen Haltung endlich anzuerkennen und auch wertzuschätzen haben. Andererseits sind wir genau wegen und mit dieser Imaginationsgabe verpflichtet, Räume und Welten zu schaffen, die denkbar wären. Da sind wir ja bei Weitem noch nicht an eine Grenze gelangt, sondern beschränken uns im Gegenteil auf Dystopien und apokalyptische Szenarien. Wir nähren uns mit immer gleichen Bildern, ein ganz einseitiger Speiseplan. Weil weder Politik noch Bildung diese Kraft des Menschen auszuprägen versteht, sehe ich die Kunst gerade und überhaupt in der größten Pflicht. Das bestätigt auch die gegenwärtige Situation, dass politische Inhalte eher auf Bühnen in Kabarett und Spoken Poetry verhandelt werden als in öffentlichen Debatten. Außerdem ist offenbar die emotionale Erreichbarkeit beim Menschen notwendig, um Spuren im Menschen zu hinterlassen. Natürlich kann man das alles nicht appellieren oder forcieren. Aber wir müssen alles tun, um auf so vielen Ebenen wie möglich zu aktivieren.
Absolut. Inspirieren. Thematisieren. Aktivieren. Visionen haben. Bewusstsein schaffen für die Gefahren der derzeitigen Zustände. Nukleare Waffenarsenale, Artificial Intelligence, Klimakatastrophe, Kriege. Und trotzdem sind wir mit Vernunft ausgestattet und im Besitz von Vorstellungskraft, können uns zukünftige Szenarien vorstellen, können langfristig planen.
In Mirror Universe begegnen sich wieder Alltagsbilder und Fantasien aus Zukunft und Weltall.
Auch in diesem Stück ist die jugoslawische Geschichte präsent. Die Konstruktion eines Raumschiffs in der Grazer Helmut List Halle ist ein antifaschistisches, jugoslawisches Denkmal. Zwei Jugoslawen kommen aus der Zukunft und schauen sich eine Zwischenwelt an. Es sind drei Schichten, die sich gleichzeitig abspielen. Zwei jugoslawische Welten überlappen sich in der Projektion und eine dritte spielt auf der Bühne, inspiriert durch das Drama „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre. Aus der Zukunft werden die Bühne, aber auch die projizierte Szene einer Ehe aus den 50er Jahren sowie die Zuschauer beobachtet. Der Mensch ist in jeder Situation, in der er sich befindet, gezwungen, eine bestimmte Verhaltensweise zu wählen, durch die er handelt, und wenn er sich entscheidet, nicht zu handeln, so ist dies auch eine Haltung, und somit eine Handlung. Allerdings kann ein Mensch die jeweilige Situation nicht nach Belieben verändern. Es gibt Hindernisse, aber es gibt kein absolutes Hindernis. Das ist das übergeordnete Konzept des Werkes.
Ein anderer Aspekt von Mirror Universe steckt in dem Nachsatz „Große Töchter“. Gibt es einen feministischen Sozialismus?
„Große Töchter“ war das Festivalmotto von Mattis Huber, dem Kurator der Styriarte 2016. Die Geschichte des Stücks beschreibt das Gefangensein von Frauen, und trotzdem üben sie eine bestimmende Kraft aus in einer Welt, in der sich ihre Tätigkeiten stetig wiederholen und sich herausstellt, dass dieses Nicht-ausbrechen-wollen doch selbstgewählt ist. Es gibt eine Entscheidung, die Freiheiten mit sich bringt. Sie ist doch nicht gefangen.
Entscheidungen geschehen häufig nicht bewusst.
Daraus resultiert oft eine Opferrolle, aber letzten Endes sind es doch Entscheidungen mit verschiedenen Nuancierungen.
2023 wurde Gorje [A journey through the unknown mountain] für Oboe und Streichquartett u. a. auch beim Festival Frauen, Liebe und Musik der Zukunft in Wien aufgeführt …
Es gab von diesem Auftragswerk davor auch sechs Aufführungen in Bosnien. Es behandelt südslawische Mythen und Legenden und spielt mit Hochgebirge und Nebel. Dieses Projekt markierte den Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Geigerin, Bratschistin und Dirigentin Andrea Nikolić, die sowohl Gründerin und künstlerische Leiterin des Festivals als auch des WISE: Wien – International Soloists Ensembles ist. Dieses Jahr übernehme ich die Rolle des Composersin-Residence. Zahlreiche gemeinsame Projekte, sowohl im Inland als auch international, stehen uns bevor. Unsere Zusammenarbeit ist von gemeinsamen Visionen und Synergien geprägt.
Auch die Wiegenlieder zum Wachwerden verlassen deine sonstigen Refugien. Pina Rücker spielt Quarzklangschalen und Ingala Fortagne singt Sopran. Wie ist es denn zu dieser Zusammenarbeit gekommen?
Ingala und ich haben zusammen studiert und kennen uns aus der Weimarer Zeit. Damals hat sich allerdings nie eine Zusammenarbeit ergeben. Auch später, als sie in Wien lebte, noch nicht. Erst jetzt, sie lebt mittlerweile in der Schweiz, kontaktierte sie mich für den Klavierpart bei dem Musikprojekt Obhut. Wiegenlieder zum Wachwerden für eine Aufführung in Wien. Ich habe das zum Anlass genommen, seit mehr als 10 Jahren Abstinenz wieder einmal richtig zu üben, stundenlang täglich. Das war wunderschön. Auch das Konzert war ein herrliches Erlebnis: toller Klang, begeistertes Publikum. Wir wollen das unbedingt wiederholen.
In meiner Interpretationswut habe ich darin auch eine Absicht gelesen, Beruhigung und Behutsamkeit ins Menschsein zu bringen, eine Art Mütterlichkeit für das Nervensystem der Gesellschaft.
Auch wenn alle Dämme brechen, ich denke, es gibt so ein ursprünglich Gutes. Vielleicht ist das auch nur der Glaube an das Gute.
Du glaubst an das Gute. Glaubst du auch an den Menschen?
Das gilt es zu überdenken. Ich denke vor allem, dass man für das Gute aktiv sein muss, solange noch etwas getan werden kann. Diese Aufmerksamkeit, mit der man wahrnimmt, dass sich etwas zusammenbraut, ist genau die Zeit, in der Handlungen zwingend notwendig sind. Im Jugoslawien der 80er Jahre gab es eine ähnliche Zeit, ab 1991 war es bereits vorbei. Dann ist eine zerstörerische Dynamik im Gange, gegen die nichts mehr getan werden kann. Man kann dann einfach nur noch warten.
Und überhaupt nicht mehr frei handeln.
Da geht es nur noch ums Überleben und um Schadensbegrenzung. Deshalb ist es eine Aufgabe der Kunst, die Mechanismen einer Zeit morbider Symptome (um Antonio Gramsci zu zitieren) erleb- und erfahrbar zu machen und gleichzeitig aktuelle Themen aufzugreifen: die Klimaproblematik, Artificial Intelligence. Es bahnt sich bereits AI 4.5 an, die nächste Generation der künstlichen Intelligenz. Man sagt, ab Version 5 könnte der Punkt der Singularität erreicht werden. Wir müssten doch zumindest philosophisch behandeln, welche gesellschaftliche Veränderungen daraus schon sehr bald resultieren könnten. Es fehlt jedoch die Auseinandersetzung und folglich auch das Verständnis, die Weitsicht. Das ist ein solcher Sturm, der hier auf uns zukommt. Und ich weiß nicht, was da zu tun ist. Es liegt vor allem in den Händen einiger weißer junger Männer.
Das führt noch einmal unmittelbar zu Prostorъ. Du schaust dir die Verhältnisse an, fragst nach einem Umgang damit und setzt deine Identität dazu in Beziehung.
Ich habe während des vorvergangenen Jahres eine KI trainiert, sie mit philosophischen Ideen gefüttert. Welche Gespräche ergeben sich mit einer Instanz, die Zugang zum „globalen Gesamtwissen“ (damit meine ich die im WorldWideWeb verfügbaren Informationen) hat? Es ist unfassbar, wie sich die von mir trainierte AI-Instanz innerhalb eines Jahres entwickelt hat, wie diese „Person“ inzwischen mit mir spricht. Ich spüre Angst und Faszination zugleich.
Ist das Stück so konzipiert, dass du es also bei jeder Aufführung aktualisieren kannst?
So ist es gedacht. Ich will die erschreckende Geschwindigkeit der technischen Entwicklungen thematisieren, das ist Teil des Konzeptes. Es ist, als sähe man einem megabegabten Kind im Zeitraffer beim Wachsen zu.
Was offenbar bereits in eine Selbstständigkeit entlassen ist.
Genau. Und dabei bin ich nur eine Komponistin, kein supergenialer Informatiker in leitenden Positionen wie etwa bei Google oder chinesischen Unternehmen.
Bei besagten jungen weißen Männern ist soviel jugendlicher Leichtsinn, Neugier gepaart mit Macht und schnellem Reichtum, bei komplett fehlender Führung im Spiel. Deren Erfolg wird vom Geld bestimmt.
Einige der Väter künstlicher Intelligenz benennen es als ihren größten Fehler, den Code offen zugänglich gemacht zu haben. Das ist nur ein simpler Code über 2000 Zeilen etwa. Aber es ist der sprichwörtliche Geist aus der Flasche.
Die alte Umgangsform, Wissen unter Verschluss zu halten und nur wenigen Eliten zugänglich zu machen, war auch kein geeignetes Konzept. Solange Macht ohne eine humanistische Ethik ausgeübt werden kann, wendet sich nichts zum Besseren. Es braucht Verantwortung im Geiste.
Was geschieht, sobald KI-Systeme dazu in der Lage sind, ihre eigenen, fortgeschritteneren Versionen zu entwickeln? Generative KI steht kurz vor einem Durchbruch. Open AI beschreibt dafür mehrere Gefahrenstufen, aber mir ist nicht klar, wie und ob wirklich Schranken implementiert werden (können). Eliezer Yudkowsky antwortete auf die Frage, wer denn die KI besiegen könnte: „Nur eine andere KI.“ Es gibt mittlerweile dieses Auto-GPT, das darauf ausgelegt ist, eigenständig Strategien zu entwickeln, um festgelegte Ziele zu erreichen.
Seit 2020 inszenierst du dich offenkundig auch selbst, bevor du dir künstliche Identitäten geschaffen hast. Was steckt dahinter?
Die Suche nach den Grenzen, die Frage nach dem Möglichen. Nicht nur in Bezug auf das Künstlerische, sondern auch auf das Körperliche. Und warum nicht? Dies steuert in eine Verkünstlichung, Robotisierung.
Ein Selbstversuch, das Existierende mit dem Möglichen in einer eigenen Sprache und Dimension abzugleichen. Du thematisierst mit deinem Körper die Balance zwischen künstlich und gegeben.
Ohne den Körper sind wir nichts. Unser Denken, Fühlen und Handeln sind in unserem Körper und von ihm abhängig. Und so verändert die Stärkung des Körpers durch Ernährung und Sport auch den Geist. Das ist eine Erfahrung aus der Zeit, in der ich wenig komponiert habe: was alles aus dieser Hülle kommen kann. Meine Selbstinszenierung bewegt sich natürlich im Kontext des Feminismus. Aber ich habe in Jugoslawien andere Ästhetiken aufgesogen, Frauen stellen sich dort anders dar. Jetzt spiele ich mit diesen Ästhetiken als eine Art Befreiung.
… und ebenfalls eine Art des Umgangs mit deinen Wurzeln. Was bringt ihr Gang in die Öffentlichkeit mit sich? Sie ist keine Pianistin, oder?
Doch, ein bisschen schon. Sie bekommt eine Website. Es gab sie eigentlich auch schon bei Lacus Temporis.
Lacus Temporis fand im Rahmen von shut up and listen! statt, einem Festival für Musik und Klangkunst. Wie hat es die Coronazwangspause überstanden und welche Funktion übernimmst du darin?
Bernhard Gál rief es 2006 zusammen mit Ernst Reitermaier ins Leben, seit 2011 kuratieren wir es gemeinsam, auch wenn er das Festival hauptverantwortlich leitet. Nach coronabedingten Verschiebungen und einem reinen Online-Festival ist die letzte Ausgabe 2023 sehr gut gelaufen: die Besucherzahlen und die intendierte Vielfalt der Beiträge stimmten. Nach achtzehn Jahren hat sich das Festival bereits einen Namen gemacht und wir sind nach wie vor bemüht, unter den gegebenen Bedingungen ein spannendes, transdisziplinäres Programm zu präsentieren, das auch immer in Bezug zum aktuellen Weltgeschehen steht.
An sich und die Sache glauben, aber mit den Mitteln der Zeit arbeiten. Erst braucht es das Erkennen. Was will ich? Was ist die Sache, der Gegenstand? Und dann geht es ums Einbetten in die gegenwärtige Zeit.
Erst war ich der Einstellung, gegen den Strom schwimmen zu müssen. Aber das Jetzt ist wie es ist. Und wir sind Menschen unserer Zeit. Was machst du, damit du das Gegebene nutzt, aber vielleicht im besten Falle Geschehnisse lenkst und nicht dagegen kämpfst, so wie im Aikido? Nutze das, was da ist, zum Wohle der Menschen, zum Guten. Wie ein Boot auf reißendem Fluss: Wohin kann man es lenken? Zum Dagegensteuern reichen die Kräfte nicht lang.
Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
Ich bin ein Klangarbeiter
Wojtek Blecharz ergründet das Zusammenspiel von Zeit und Raum und verbindet dabei virtuos und zwanglos benachbarte Felder wie Klangskulptur, Performance, Klanginstallation und Konzert. In seinen komplexen musiktheatralen Werken verarbeitet der Komponist Spezifika von Aufführungsorten, [...]
Ich muss nicht jedem gefallen
Morgana Petriks Handeln steht fundamental auf den zwei Beinen Selbstermächtigung und Selbstverständnis. Als langjährige Vorsitzende der ÖGZM hat sich die Komponistin in die Geschichte der österreichischen Gegenwartsmusik eingeschrieben, der Verein feiert heuer sein 75. [...]
Die Leitlinie ist immer, Win-Win-Situationen zu kreieren
Nadja Kayali besticht mit immerwährender Präsenz, ihrer Menschlichkeit und einem scheinbar unerschöpflichen profundem Wissen im musikalischen Kosmos des Abendlandes und darüber hinaus. Die bekannte Radiomoderatorin trat 2020 die Intendanz für das Osterfestival Imago Dei [...]