Wolfgang Suppan
Ich höre selbst ein Klavier elektronisch
Wolfgang Suppan über Zugänge zu seiner Intuition, indem er Wiederholungen vermeidet und Zusammenhänge riskiert. Als einer der beiden Festival Composer beim diesjährigen IMAGO DEI Festival unter der Leitung von Nadja Kayali wird es neben dem Konzert in der Minoritenkirche in Krems noch einen Musiksalon im Wiener Palais Mollard mit drei Liedern aus dem Zyklus Unverbesserliche Lippen und Ulam von ihm geben.
Elektronik und Instrumentalklang – für dich gab es mal den Moment, dich beim Komponieren von der Elektronik zu distanzieren und sie auf die Funktion zu reduzieren, das zu verstärken, was sonst nicht wahrgenommen wird.
Wenn man nicht die Ressourcen eines Studios hinter sich hat, ist es irrsinnig mühsam, mit Elektronik zu komponieren. Nach jahrelanger Arbeit mit Live-Elektronik, die extrem aufwändig ist, war ich auf dem Absprung. Aber ich bringe die Elektronik ja quasi in persona mit mir mit und habe mich daher besser wieder mit ihr versöhnt. Und dann tun sich mit der Einbeziehung von Elektronik ja auch immer wieder neue kompositorische Möglichkeiten auf, „… es öffnet sich ein Fenster“, wie mein Lehrer Michael Jarrell zu sagen pflegte.
Was besagt Chromatic Bias aus dem Jahre 2014?
„Bias“ beschreibt eine Verzerrung oder systematische Abweichung. Im ersten Satz des Stückes wird ein circa 40 Sekunden langes Soundfile mit einem Halbton-Glissando auf über vierzehn Minuten gedehnt. Die Gegenüberstellung von Instrumentalklänge und elektronischen Klängen erzeugen dann diese für mich daraus resultierenden Klangverzerrungen. Mein neues Stück Welten…auseinander ist auch eine Weiterentwicklung von den Ideen, die mich bei Chromatic Bias beschäftigt haben. Wobei ich bei Chromatic Bias zuerst die Elektronik fertig hatte und dann die Instrumentalstimmen komponierte. Bei Welten…auseinander ist es nun umgekehrt. Erst habe ich die Partitur per Hand geschrieben und dann die Elektronik umgesetzt – naja, die Zuspielungen gehören noch komponiert. Die Musiker:innen haben ihre Noten zwar bereits, aber die Elektronik muss noch fertig gestellt werden. Zusammen mit Christina Bauer, die die Elektronik betreut, werde ich dann bei der Aufführung auch selbst an den Reglern sitzen und die Klangzuspielungen ansteuern.
Wie geht man nun an so eine Aufgabe heran, wenn man wie du auf deiner Website sagt, man schwimme durch den gesamten musikalischen Kanon hindurch mit dem Ziel, dadurch zu seinem Eigenen, zu Welten…auseinander zu kommen?
Ich reagiere zum Beispiel bewusst oder unbewusst auf die Auswahl der Stücke die beim Konzert neben meinem Stück erklingen werden. Der Titel Walking in the Limits von Heinz Reber hat auch Einfluss auf mein Stück gehabt. Ihn habe ich bei einem Abendessen einmal persönlich kennengelernt und weiß, dass er in dem Alter verstorben ist, in welchem ich selbst gerade bin. Das berührt mich natürlich. Man projeziert als Künstler mit seinen Ideen ja in die Unendlichkeit und weiß gleichzeitig, dass das Leben einen Anfang und ein Ende hat.
Wie seid ihr einander denn da begegnet?
An besagtem Abend durfte ich spüren, dass Reber und ich als Typus ähnliche Bezüge zur Wissenschaft und Kunst haben, bei denen beide Disziplinen eben nicht gegensätzlich gehandelt werden. Bei Heinz Reber ist es die String-Theorie, die ihn geleitet hat, bei mir mathematische Modelle zur Zufallsgenerierung. Iannis Xenakis hat seinen Umgang mit wissenschaftlichen Methoden einmal so beschrieben, „… dass diese mathematischen Ansätze durch das Musikalische gezähmt und unterworfen werden.“ Das ist zwar sehr brutal formuliert, ist aber vermutlich vergleichbar mit der Bedeutung des Kontrapunktes in früheren Epochen der Musikgeschichte. Es ist eine Art Gegenüber, das einem Aufgaben stellt, die einen letztendlich weiterbringen.
Was ist deine Methode?
Bei mir ist das die CAC – Computer Assistant Composition. Der Computer spielt in der Materialentwicklung eine wesentliche Rolle, wobei das Rauschen als Klangphänomen bei mir auf eine mathematische Ebene zurückgeführt wird. Mit Zufallsgeneratoren lassen sich verschiedene Qualitäten von Rauschen generieren. Diese werden dann mithilfe des Computers vergrößert um dann harmonische Strukturen damit zu bauen – das ist zum Einen mikroskopische Arbeit, zum Anderen meine Interpretation, welche Ansätze sich als musikalisch interessant erweisen, und welche nicht. Was tief unten als Rauschen erklingt, wird oben zu einem Klavierakkord. Das Rauschen also nicht als Klangphänomen, sondern als theoretische Klammer für meine Arbeit zu begreifen.
Das Rauschen als Strukturgeber für Komposition.
Ja, und darüber hinaus für mich auch inspirierende Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Phänomenen, wie der Gauß’schen Glocke …
… der Gauß’schen Normalverteilung?
Genau. Der theoretische Ansatz hat mir auch geholfen, weil ich als Komponist sehr am Klang orientiert bin und immer mit der Frage konfrontiert war: Warum genau dieser Klang? Warum nicht der andere? Sehr schnell habe ich mich dann davon gelöst, ein bestimmte harmonische Struktur auszubilden. Im Cage’schen Sinne könnte man auch sagen, dass ich dadurch lernte die verschiedenen Erscheinungsformen unvoreingenommen anzunehmen und sich an deren Ausbaufähigkeit zu orientieren, anstatt sie zu bewerten. Wo spüre ich Potenziale zum Weitergehen?
Da stellt sich sofort die Frage nach deiner Motivation: Woran erkennst du die Potenziale eines Klanges und was genau leitest du dann daraus ab?
Ich entwickle mein Material zuerst mit algorithmischen Verfahren. Beginnt dieser erste Ansatz sich in Richtung Partitur zu entwickeln, trau ich mir eine sehr intuitive Auswahl zu. Der Computer hilft mir also, auf meine Intuition zu vertrauen. Gegenüber der eigenen Intuition ist man ja immer sehr kritisch, weil sie ja oft manipuliert, also von Vorstellungen, wie etwas sein soll, überformt und beeinflusst ist. So gerinnen mir oft Anfangsideen in Langweiligkeiten, weil sie einem Klischee entsprechen. Dann wiederum kommt man in Bereiche, in denen man sich sehr spekulativ vorwagt, aber ein Knistern spürt.
Erklärt das, warum du nicht immer unbedingt Einfluss auf die Länge deiner Kompositionen hast? Entsteht die Länge deiner Stücke als eine notwendige Konsequenz aus deiner Arbeitsweise?
Da gibt es mehrere Aspekte. Zum einen stehe ich zu kurzen Formen, die andere bei mir auch als Qualität erkennen. Regenbild zum Beispiel dauert zweieinhalb Minuten, trägt den Titel eines Gedichts des deutschen Lyrikers Richard Anders und ist geschrieben für den Klavierinnenraum. Es hat aber unverhältnismäßig sehr viel Zeit und Energie gebraucht, dieses kurze Stück zu schreiben.
… das Kurze, Pointierte ist ja das Hochanspruchsvolle wie der Witz. Es birgt das dichteste Maß an kompositorischer Leistung und Intellekt.
Ja, aber das Kurze ist auch das Gänseblümchen, auf das jeder schnell mal drauftritt. Man wird dann nicht gesehen. Man kann nicht reüssieren, wenn keiner sieht, dass da ein kleines Blümchen ist, auf das man Obacht geben muss. Bei meinen Liederzyklus Unverbesserliche Lippen ist das erste Lied ein längeres geworden, nach dessen Aufführung habe ich im Anschluss drei kürzere, quasi für die Schublade geschrieben, die jetzt bei IMAGO DEI uraufgeführt werden. Diese kleinen Formen sind für mich wie schöne Mosaiksteine. Klein, aber kostbar. Wenn man nichts will, entstehen tolle Sachen.
Peter Ablinger beschrieb in einem Gespräch, die wachsende Aufmerksamkeit für die für unwert befundenden Skizzen in den Schubladen während der Corona-Lockdowns. Die heftige Irritation des Bestehenden, deren Maßgaben unter den derzeitigen Bedingungen und auch generell immer schwieriger erfüllbar sind, erzeugt ein Hinterfragen der eigenen und öffentlichen Bewertungskriterien. Diese Skizzen bekamen dadurch einen Bedeutungsschub, ein anderer Blick darauf wurde möglich. Schwingt diese Haltung grundsätzlich in dir, weil du über die Computerlogik zu deinen Klängen kommst?
Auch. Ich hab mich auch lang mit der Frage nach der Form beschäftigt und bin bei der Fourier-Transformation gelandet, mit deren Hilfe man von der Zeit- auf die Frequenzebene rechnet. Da konnte ich Klangstrukturen beispielsweise um 90 Grad drehen und daraus Zeitstrukturen erhalten, sodass mir ein erweitertes Formverständnis über Zeitstrukturierung möglich wurde, was ja ein bedeutendes Phänomen beim Komponieren darstellt.
Bei Schönberg gab es dahingehend eine gewisse Abkehr: die zeitliche Strukturierung von Musik wurde abgelehnt, um sie von ihrer Tradition zu befreien.
Ich dachte eher an Spektralisten wie Gérard Grisey, wo hervorragende Ansätze vorliegen, den Klang als Hilfsmittel zu entlarven, um die Zeitstruktur wahrnehmbar zu machen. Die Beschäftigung mit Klang bedeutet auch, sich mit Oberfläche zu beschäftigen. Oberfläche allein hat allerdings keine Wirkmacht. Es muss dann in die Tiefe gehen. Der Spektralklang von Murail oder Grisey bedeutet eben nicht nur gespreiztes und gestauchtes Spektrum, sondern beleuchtet den eigentlichen Ort zur Erfahrung von Zeit. Womit wir wieder bei der String-Theorie wären: Physiker haben Schwierigkeiten damit, Zeit zu beschreiben. Die Musik schafft hier einen Zugang zu dieser physikalischen Größe, die uns eine ganz andere Erfahrungsbandbreite liefert. Zehn Sekunden auf der Uhr können in der Musik die ganze Welt sein oder auch nur ein Wimpernschlag. Ich habe also gelernt, die Formfrage auf die Frage nach der Zeitstruktur umzulenken. Das resultierende Formgebilde hat gar keine so große Bedeutung.
Sozusagen die Umdeutung einer konstruktivistischen Denkweise. Die computergestützte Materialentwicklung erscheint erst als ein ziemlich konzeptueller Herangang, aber du gelangst darüber zu deiner Intuition, der Computer wird zu dem, was er ist: ein Hilfsmittel, ein Werkzeug. Dich inspirieren aber auch Texte zu deinen Stücken, Sprache birgt ja auch eine Musikalität. Und wenn Musikaliät eine Form des Zeitverständnisses darstellt, ist Literatur, dann auch eine solche Strukturierung von Zeit? Wie wirkt sie in deine Arbeiten hinein?
Lesen hat mich immer begleitet. Ich habe Phasen, in denen ich mich mehr mit Literatur beschäftige, als mit Musik. Da versenke ich mich gern thematisch und bin auch mal längere Zeit mit einem thematischen Schwerpunkt beschäftigt, beispielsweise mit russischer Literatur des 19. Jahrhunderts von Dostojewski bis Turgenjew. Im Zusammenhang mit Musik bin ich eigentlich ständig auf der Suche nach Lyrik und Texten. Das Bassklarinettenstück Ulam beispielsweise …
… das Stück, das wahrscheinlich am meisten aufgeführt wurde …
… zumindest das weit gereisteste. Das Duo Stump-Linshalm hat es in die ganze Welt getragen, von der Mongolei bis nach New York. Der Ursprung des Stückes weist auf den Mathematiker Stanislaw Ulam, der die Ulamspirale fand. Als ich 2008 diese Stück schrieb, wurde mir klar, dass ich so ein Phänomen nicht einfach in Musik umsetzen kann. Von Ulam blieben am Ende des Kompositionsprozesses nur noch der Klang der beiden Vokale U und A übrig. Häufig wiederholt ausgesprochen entsteht ein Mantra mit quasi bewusstseinsverändernder Komponente. Sprache ist für mich auch die Möglichkeit, Räume zu eröffnen, die wie bei Kafka, eigentlich nicht be-greifbar, aber doch gegenwärtig sind. Sprache als Medium das uns ungeahnte Dinge offenbart.
Kommst du nicht deswegen auch zu der Ulam-Spirale, die ja eine offenbare Naturgesetzmäßigkeit zwar erkennbar, aber nicht erklärbar macht?
Ich glaube nicht, dass unsere Welt erklärbar ist. Es gibt gewisse Hilfskonstruktionen wie Religion und Wissenschaft, die uns helfen, nicht verrückt zu werden. Wir haben unsere Routinen, die uns in der Bahn halten. Aber es genügt ein Blick in den abendlichen Sternenhimmel, sich seiner absoluten Unwissenheit bewusst zu werden. Gleichzeitig beunruhigt es einen aber auch nicht …
… weil man ein Teil des Ganzen ist?
Eher weil meine Gedankengänge keinen Einfluss darauf haben.
Reicht dieses Wissen als Impuls oder Inspiration? Du hast Ausführungen von Galilei und Lovell hergenommen und die poetischen Überhängsel, die aus der Wissenschaftlichkeit des Textes herausfallen, bemerkt. Diese könnten ja auch ein Hinweis darauf sein, dass beiden der Rahmen der jeweils verwendeten Erklärungsmodelle nur ein Geländer war.
Bei Welten…auseinander streife ich natürlich nur die Zusammenhänge, weil ich kein Astronom oder Weltraumforscher bin. Mich haben die Leistungen und der Mut Galileos fasziniert, ein enormes astronomisches Wissen bereits zu haben und gleichzeitig in der Zeit der Inquisition zu leben, die ein Weiterdenken unter Strafen setzte. Trotzdem baute er ein Teleskop nach holländischem Vorbild und machte eine entscheidende sinnliche Erfahrung, als er den Mond so vergrößert und nahe sehen konnte, die ihn schließlich veranlasste, sein Buch „Siderus Nuncius“ zu veröffentlichen und damit sein Leben zu riskieren. Mit der technischen Unterstützung eines Teleskops kam er plötzlich zu Sinneseindrücken, die den Drang oder Mut erzeugten, über eine Schwelle zu gehen, die nicht ungefährlich war. Bei der Apollo 8 Mission haben mich die Aufzeichnungen Jim Lovells interessiert. Er zeichnete völlig unerwartete Bilder, die Oberfläche sehe aus „wie das Pflaster von Paris“. Die beiden verbindet offensichtlich das Interesse an der eigenen Existenz und die Erfahrung, beim In-die-Ferne-schauen eigentlich den Blick auf sich selbst zu richten. Dieses Streben nach Erkenntnis zielt also gar nicht in die Ferne, sondern eigentlich wieder auf diesen Platz, wo ich auf der Erde stehe und in Richtung Sterne schaue.
Du gehst in deinem Denken durch die Musikgeschichte, beschreibst dein Suchen nach theoretischen Anknüpfungspunkten im 20./21. Jahrhundert. Hat das eine Relevanz für deine Lehrtätigkeit an der Musikuniversität Wien? Und gibt es da eine Verbindung für die beschriebene Suche nach uns selbst? Ist Kunstschaffen eine Ausdrucksform menschlichen Suchens?
Schönbergs Aussage: „Musik kommt nicht von Können, sondern vom Müssen“ würde bei mir „… von Wollen“ umformuliert lauten. Ich seh das Unterrichten weniger als einen Wissenstransfer als einen Beistand für Suchende. Ich möchte sagen: „Ich bin schon so lang dabei und ich suche immer noch.“ Picasso meinte zwar: „Ich suche nicht, ich finde.“ und natürlich ist jedes Stück, das man schreibt, ein Finden. Aber mit dem nächsten Stück geht das Suchen weiter, das ist die stete Bewegung.
Jedes Stück ist eine Station, eine Rast.
Oder es ist eine Bestandsaufnahme. Der Wissensstand, den es mit Stückabgabe zu fixieren gilt. Man bringt ihn in eine Form und entscheidet über dessen Dimension, was wieviel Raum bekommt.
Was hast du als Trost für dich bei der permanenten Vergegenwärtigung unseres Nicht-Wissens, wir offensichtlich keinen Zugang zur ursächlichen Bedingung unserer Existenz bekommen?
Oder wie ein Kollege von mir einst bemerkte: „Wir scheitern alle.“ Das muss ja nicht dazu führen, dass man nichts mehr kreiert und sich auf das „Fail better“ beruft. Es geht gar nicht um Scheitern oder Nicht-Scheitern, sondern um Kommunikation und Austausch und das ist auch Unterrichten für mich. Meine Möglichkeit zu erfahren, was andere denken und beschäftigt, die jetzt am Anfang stehen. Von einer guten Unterrichtsstunde muss ich unbedingt ans Komponieren gehen! Beim Unterrichten kann ich zwar Zuhören und Rückmeldungen geben, aber jeder muss sich und seinen Platz selbst finden und suchen und seine Biografie umsetzen.
Diese Haltung für Austausch als Gegenstand des Lernens ist im Grunde genommen die Ausgangssituation oder sogar notwendige Voraussetzung für die Ausübung und Umsetzung von Interdisziplinarität, was dich auch auszeichnet. Es gibt ja neben Literatur auch noch Performance und Tanz, Installation und Skulptur in deinem Werkkanon …
Zum Thema Tanz habe ich sehr viel mit Rose Breuss zusammengearbeitet. Sie nutzt die Labanotation, eine Notation für Tanz, welche bei klassischem Ballett angewendet wird und darstellt, wie man in einer Form von Abstraktion Bewegungen aufzeichnet. Für mich bildete das eine Brücke zur Musik. Meine Zeit als Stipendiat an der Solitude in Stuttgart hat für mich diesen Zugang eröffnet, dort kommen ja alle Kunstsparten zusammen: Theater, Film, Musik, Bildende Kunst, Literatur. Ich fand es immer sehr interessant, wenn sich da Disziplinen durchdringen und miteinander in Kontakt treten. Das bringt natürlich die Tendenz mit sich, seine eigene Position ein wenig zu verlieren.
Hattest du Schwierigkeiten, dich zu positionieren?
Eigentlich nicht, aber es gibt Konstellationen, da muss man sich auch eingestehen, dass es nicht funktioniert. Mich interessiert zum Beispiel Film sehr und ich würde sehr gern Filmmusik komponieren. Aber im Regelfall wird der Musik dort eine Rolle zugewiesen, bei der ich nicht mitmachen kann. Es geht mir darum, dass die Musik im Film etwas bewirkt, doch oft gerät die Musik zur bloßen Bestätigung oder Versicherung des Bildes.
Ich glaube, dass Musik uns strukturell etwas mitteilt. Bei Bildern gerinnt sie oft zur Oberfläche, obwohl das Zusammenwirken der Disziplinen paritätischer passieren sollte, sodass jeder, der etwas beiträgt, auch Teil des Ganzen ist.
Wenn man voraussetzt, dass Kunst eine Wirkung hinterlässt, berührt oder bewegt.
Da jeder Mensch über ein Sensorium verfügt, glaube ich daran. Die Struktur muss aber so offen gestaltet sein, dass sie individuell erfahrbar wird.
Erzeugt es dir denn eine Art Glücksgefühl, solche Übersetzungsstrukturen zu finden?
Natürlich. Wobei ich das ganze Spektrum von angenehm beglückend bis frustrierend – wenn diese nicht zustande kommen – kennengelernt habe.
Vielleicht oder hoffentlich sagen ja spätere Generationen, dass es einer Denktradition des 21. Jahrhunderts entspräche, das Kreieren und Schöpfen als Seinserfahrung, auch als Daseinsberechtigung zu leben und als ausreichend zu empfinden. Wendet man als Gesellschaft den Blick dahin, fände man genug Aufgabe und Auftrag zur Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz. Ist das Vision, vorwärtsgerichtete Idee oder Ahnung oder nur Ideal und Wunsch? Interessierte dich dieser Gedanke bei der Bearbeitung von Rousseaus Émile?
Mich hat dort die Ambivalenz der Figur Rousseaus in den Bann gezogen, die Widersprüchlichkeit seines Handelns. Aber mir ging es nicht darum, Rousseau zu verstehen, die Gedankenwelt heute ist eine andere als im 18. Jahrhunderts. Mich interessiert bei Rousseau nicht die philosophische Debatte, sondern die menschliche Komponente einer Biografie, die widersprüchlich, auch gescheitert ist.
Aber ironisch ist das nicht zu verstehen, das du darauf eine Serie Idyll schreibst?
Das Wort „idyll“ kommt aus dem Griechischen und meint: kleines Bildchen. Es trägt etwas von der bukolischen, idealisierten Harmlosigkeit des 18. Jahrhunderts, was später Biedermeier geworden ist. Der Titel ist aber auch rückblickend als Kontrapunkt zu meinen oft sehr komplexen Kompositionsmethoden zu verstehen. Ich wollte dann nicht auch noch einen komplex klingenden Titel verwenden, sondern eher etwas Kontrakarierendes oder sogar Provokatives.
Die Idee vom radikalen Abtrennen und Loslösen von historischen Verläufen war auch ein Movens für die Gründer der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik.
Institutionen wie Darmstadt sehe ich als wichtige Plattform zur Vermittlung und zum Austausch. Man kann aber heute nicht erwarten, dass dort ständig das bahnbrechend Neue passiert, sondern muss eher dafür Sorge trage, dass Stukturen, die Kunstproduktionen ermöglichen, nicht strukturell zerstört werden. Eine Gefahr, die im Raum steht, wenn man Orchester, Rundfunkanstalten und alles, was Neue Musik betrifft, infrage stellt. Ich denke da zum Beispiel an das Schließen des Elektronischen Studios in Köln. Da werden Brücken abgerissen, die unwiederbringlich verloren gehen. Institutionen sind einfach wichtig, auch für die Erhaltung von Individualität.
Institutionen ermöglichen ja auch die Wahrnehmung von Möglichem. Wahrnehmung ist auch ein Aspekt in deinem Werk, allerdings in einem anderen Zusammenhang: Du beschreibst die gegenteilige Wirkung von Musikerleben und Handykonsum. Untersuchst du die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit über akustische Reize?
Meine Stücke sind immer eine Form von Einladung, eine Erfahrung machen zu können. Also seinen Sinnen zu vertrauen. Was die Aufnahmefähigkeit unserer Sinnesorgane betrifft, sind wir heutzutage durch die technischen Möglichkeiten schon längst über das noch bewältigbare Maß hinaus geraten.
Vielleicht ist die überbordende Flut an Informationen ja dem Prinzip der Fülle in der Natur gleichzusetzen? Gilt es dann nicht eher sich zu entscheiden, wofür die Sinnesorgane sensibilisiert werden sollen, weil es immer ein Überangebot geben wird? Wir können doch nicht mehr erschaffen, als bereits da ist.
Ich glaube man muss hier unterscheiden. Informationsfülle in der Natur, wie das Rauschen eines Wasserfalls, hat eine Informationsdichte die zum Hineinhören einlädt und auf mich beruhigend wirkt. Technisch erzeugtes Rauschen, oder die Informationsdichte die durch Handys erzeugt wird, hat nicht diese Informationsfülle. Eher eine Manipulationsfülle.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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