Wolfgang Seierl
Es geht mir um Dinge, die wir begrenzt sehen, die aber nicht begrenzt sind
Das Komponistenforum Mittersill besteht heuer in seinem 25. Jahr und hat sich längst in die Gegenwart österreichischen Musikgeschehens eingeschrieben. Doch Aktualität hat auch noch andere Gesichter, die sich in die Prozesse mit eintragen. Ein Gespräch mit dem Gründer, Komponisten, Gitarristen und bildenden Künstler Wolfgang Seierl über Zukunft, Abstand und Orientierungsmöglichkeiten.
Wir haben uns vor ziemlich genau 10 Jahren in einem Café gegenüber gesessen und über das KOFOMI und dessen möglichen oder sinnvollen Fortgang philosophiert – was ist denn seitdem passiert?
Es war damals nach 15-jährigem Bestehen des KOFOMI die Überlegung, einmal zu hinterfragen, ob dieses Modell noch zeitgemäß ist oder ob nicht eine neue Konzeption notwendig wäre. Über dieses Zurückschauen und Sammeln alles bisher Geschehenen versuchten wir auf Zukünftiges zu schließen. Und das Ergebnis war überraschenderweise, dass das Bedürfnis nach solchen Plattformen, wo persönliche Kontakte, individuelle Zusammenarbeiten und gewisse Auszeiten möglich werden, eher größer geworden ist. Peu à peu hab ich dann das Forum für alle Disziplinen geöffnet, sodass es heute gar kein Komponistenforum im engen Sinne mehr ist. Wir haben in dem Zuge Residencies mit Schriftstellern, Philosophen, einem Theologen, PerformancekünstlerInnen gehabt und dadurch große Bereicherung erfahren. Das hat zur gedanklichen Öffnung beigetragen und den Trend bestätigt, dass sich KomponistInnen und Ausführende zunehmend an einen Tisch setzen – Rudi Illavsky fand damals dafür so passende Begriffe wie „Kompusiker“ oder „Musikisten“, wenn ich mich recht erinnere. Bis heute hält diese Entwicklung an, Tanz, Bildende Kunst, Film, Video kommen noch hinzu.
Was hat sich dadurch an deiner kuratorischen Arbeit geändert?
Die Auswahl der Teilnehmenden ist einerseits noch intuitiver geworden, konnte andererseits viel mehr meinem Wunsch folgen, Menschen aus unterschiedlichsten Kategorien und Genres zusammenzubringen. Vorher war das ja doch sehr auf das Feld der Neuen oder Experimentellen Musik fokussiert und bewahrte dessen ziemlich hermetische Geschlossenheit.
Wahrscheinlich hat die Neue Musik das auch gebraucht …
Dieser Trend geschieht ja auch außerhalb des Forums und erzeugt unglaublich spannende Projekte. Gerade die Neue Musik ist für mich auch immer noch ein Phänomen des angehenden 20. Jahrhunderts, die Musik einer kleinen, sehr elitären Gruppe, deren Konzepte später immer mehr aufgeweicht worden sind. Spätestens als neue Komponisten hinzukamen, die von der Grundidee gar nichts mehr wussten, wurde mir klar, dass es keinen Sinn macht, sich an eine historische Kategorie zu klammern. Genauso macht es keinen Sinn, sich an die historische Person Anton Webern zu klammern. Es war und ist ein guter Ausgangspunkt, an dem Ort, an dem er zu Tode gekommen ist, weiterzumachen. Aber es war nie ein Ziel oder eine Aufgabe des KOFOMI, ein zurückblickendes Weberngedenken im Sinne eines Webern-Festivas zu etablieren.
Das heißt, Künstler anderer Sparten arbeiten sich jetzt nicht in Bezug auf Anton Webern ab, sondern er gehört einfach in die Annalen des KOFOMI …
Es ist schon immer wieder ein Thema für alle, die neu nach Mittersill kommen, aber wir wollen kein Webern-Forum sein. Seine Person ist einfach mit der Ursprungsidee verknüpft, das aktuelle Geschehen zu in den Mittelpunkt zu stellen.
Entspricht es nicht auch mehr deinem künstlerischen Selbstverständnis, die verschiedenen Künste im Austausch einander in Begegnung zu bringen?
Das ist bei mir insofern ambivalent, als dass ich versuche, meine verschiedenen Tätigkeiten doch deutlich voneinander zu trennen. Mein Anliegen ist eher, in all diesen Bereichen wach zu sein. Es geht auch in Mittersill nicht darum, dass immer alle alles gemeinsam machen, sondern eine gewisse Offenheit in einem Bereich entwickelt werden kann, der einem zuvor verschlossen war. Vor allem als Musikstudent und junger Komponist störte mich bei Kollegen oft die Verständnislosigkeit gegenüber anderen Künsten, was natürlich auch der notwendigen Hochspezialisierung auf Instrumente beispielsweise zuzuschreiben ist. Solchen Defiziten lässt sich in Mittersill sehr elegant begegnen, weil sie nicht durch eine trockene Werkrezeption behandelt werden, sondern dies über ein persönliches Gespräch oder eine gemeinsame Erfahrung und gemeinsame Arbeit geschieht. Das ist leichter und genussvoller und geht auch sehr schnell vonstatten.
Auch eine zukunftsweisende Antwort auf die Frage, wie mit der überbordenden Fülle an Informationen umzugehen ist und wie Orientierungsmöglichkeiten gefunden werden können. So, wie es in der Antike das Ideal des Universalgenies gab, ist so ein universelles Wissen vielleicht in einer offenen, zugewandten Gemeinschaft möglich.
Ich zitiere da immer wieder gern einen Satz von Morton Feldman, den er in Donaueschingen gesagt haben soll: „Ein Komponist, der keinen Maler als Freund hat, hat ein Problem.“ Denn er hatte eine sehr intensive, lebenslange Freundschaft mit einem bildenden Künstler (dem Maler Philip Guston), was man in seiner Arbeit auch spürt, die räumlich, flächig und teilweise fast malerisch wirkt. Das betrifft aber nicht nur das Werk, sondern auch den philosophischen Hintergrund, solche Freundschaften erweitern den Horizont und bringen weitere Dimensionen ins Denken. Sich als Fachmann nur mit Fachleuten zu umgeben, gefährdet die Welt, die ihn umgibt. Jedes Handwerk braucht natürlich Fachwissen und entwickelt sich auch dadurch ins Detail, aber die großen Würfe und Erfindungen entstehen trotzdem nur, wenn ich über den Tellerrand hinausschauen kann.
In „Alles ist, alles ist nicht“ bringst du ein Zitat von Nagarjuna, einem Buddhisten aus dem 2. Jh. v. Chr. mit Gedanken von Arthur Schopenhauer in Begegnung. Was steckt philosophisch hinter deiner Arbeit?
Wolfgang Seierl: Meine Arbeit hat sich in den letzten 42 Jahren natürlich immer wieder gewandelt, obschon ich in der Betrachtung durchaus einen roten Faden ausmachen kann: eine Irrationalität und Spontanität, die eher dem Köperlichen als dem Geistig-Intellektuellen zuzuschreiben ist. Ich versuche immer wieder, an den Rändern zu kratzen. Und das nimmt vielleicht seinen Anfang bei einer Fotografie über dem Bett meines Jugendzimmers, dessen Inhalt mich gar nicht sonderlich interessierte. Aber ich fragte mich immer, wie es an seinen Rändern wohl weiterginge, nahm dessen Rahmen dafür ab, um den verdeckten Zentimeter einsehen zu können. Es geht mir also um Dinge, die wir begrenzt sehen, die aber nicht begrenzt sind. Manchmal erzeugt diese Suche nur ein Kratzen an den Rändern und manchmal ist es ein ganzer Schritt in eine andere Welt. Bei „Alles ist, alles ist nicht“ setze ich mich auch mit anderen Philosophien auseinander, mit denen ich in Berührung gekommen bin und anschließend mit einem persönlichen Erleben verknüpft habe. Rückblickend ist es letztlich kaum noch rekonstruierbar, wie sich alle Erfahrungen, Begegnungen und Gedanken zusammentun und plötzlich kommen die Texte, die Bilder und plötzlich ist es dann etwas, der Versuch, die wahrgenommene Wirklichkeit zu verstehen.
Deine Arbeiten durchdringt auch die stete Suche, wie sich das Kleinteilige, die feine Linie, gegenüber dem Großen, der dunklen Fläche, verhalten kann und was sich diese beiden Gegenüber zu sagen haben. Das lässt sich in deinen bildnerischen genauso wie in deinen akustischen Arbeiten finden …
Das eine befindet sich mit dem anderen ja immer im Austausch, die Linie kommuniziert mit der Fläche, der Gedanke mit dem Ausdruck. Ich find es ungemein spannend, immer wieder zu erleben, wie sich diese Dinge in jedem neuen Bild verändern und verhalten. Dass der Europäer auf asiatische, fernöstliche Denkweisen kommt, liegt meiner Meinung nach nahe, denn sie sind ja bereits seit Jahrhunderten in der deutschsprachigen Philosophie vorhanden, wie in Nietzsches „Zarathustra“ etc.
Danke, dass du Nietzsche anführst, der schon so oft missbräuchlich für gewaltige und brachiale Sprache missbraucht worden ist.
Wenn im vorigen Jahr der Titel des KOFOMI „#for future“ lautete, was kann dann dieses Jahr folgen?
Der Titel sollte an die Klimakrise gemahnen. Lange war nicht sicher, ob das Forum wegen der Pandemie überhaupt realisierbar sein wird und hat dann glücklicherweise doch fast wie geplant stattfinden können. Dieses Jahr ist die Realisierung des Forums noch weniger gesichert, deswegen hat es jetzt den Arbeitstitel „#for future 2“, denn es geht ja nach wie vor bzw. mehr denn je um unsere Zukunft, und eben mit der Erweiterung „unerhört“. Mein Partner und Mitorganisator Martin Daske aus Berlin kuratiert die Konzertreihe „unerhört“ in Berlin und steuert quasi seine Passion und Profession mit bei, das Wort hat aber auch etwas sehr Subtiles einerseits, wenn etwas noch gar nicht gehört werden kann, und andererseits meint es einen Ärger, eine Wut und Empörung über die Dinge, wie sie heute sind und über uns selbst, die wir dazu beigetragen haben.
Wie sehen diesem Gedanken gemäß kuratorische Entscheidungen aus? Wie geht ihr da vor?
Es gab einige Ideen, die sich kaum umsetzen lassen, bei Subventionszusagen, die eigentlich Absagen sind, wenn sie nur ein Drittel der beantragten Summe gewähren. Es war geplant, dem Jahresregenten Dante Alighieri mit einer Aufführung von Michael Mautner Rechnung zu tragen, der die „Göttliche Komödie“ sehr zum Abbild gegenwärtiger Umstände gestaltet. Zudem sind Künstler geplant, die voriges Jahr schon nicht kommen konnten. So ist zum Beispiel die Tänzerin und Choreografin Toshiko Oka aus Japan erneut eingeladen. Schon das Eröffnungkonzert mit Kathrin Kolleritsch aka Kerosin 95 mit sehr engagierten Texten nimmt Bezug auf unsere aktuellen Krisen und gesellschaftlichen Probleme. Mit der Einstiegsperformance soll schon klar werden, dass es jetzt darum geht, sich klar zu positionieren. Mehr Programmierung wagen wir im Moment wegen der unklaren Finanzierungssituation noch nicht. Angefragt haben wir auch Marlene Streeruwitz mit ihrem kritischen und aktuellen Blick, um wieder Öffnungen in anderen Kategorien zu ermöglichen. Die Medienkünstlerin Maria Morschitzky wird auch auf Wunsch von Toshiko Oka kommen. Beide wollten sich in Mittersill mehr austauschen, was sicher sehr fruchtbar werden würde. Aber noch sind wir am Warten.
Der Künstlerbegegnung eine Plattform zu stellen, ist ein großes Geschenk an diese Welt. Ist die Insel Retz ein Zeugnis dieser Öffnung für andere Kunstgattungen?
Ja, einerseits ist es fast ein Zufall, dass sich diese Möglichkeit ergeben hat, auf der anderen Seite ist es ein Ausleger, den wir schon lange suchten. Für eine Weile gab es da in Salzburg Gesprächsreihen und Konzerte, auch in Wien, aber mit Retz haben wir praktisch eine Außenstelle, die wir das ganze Jahr bespielen können und wo derselbe Geist wie in Mittersill herrscht: Kommunkation, Austausch mit einem Publikum. Und die kleine Bar in Retz bot vor Corona eine wunderbare Möglichkeit, nach Aufführungen zusammenzusitzen und einen sehr intimen und intensiven Austausch zu pflegen.
Wäre es nicht möglich, eine Inszenierung wie Dantes „Göttliche Komödie“ einfach nach einem Drittel der Zeit abrupt zu stoppen, weil es nur ein Drittel des benötigten Budgets gab? Wahrscheinlich bliebe die Szenerie noch in der Hölle …
Die Kosten für so eine Produktion bleiben ja dieselben, auch wenn ich nach einem ersten Drittel die Aufführung abbreche. Ich führe jedes Jahr Gespräche mit den Fördergebern: „Leuchtturmprojekt“, „toll und einzigartig“, „wir wollen das auf jeden Fall“ – aber es drückt sich einfach nicht in Zahlen aus.
… und das in einer Gesellschaft, die alles in Zahlen ausdrückt, nur diese Anerkennung nicht.
Wir haben jetzt das 25. Jahr, vielleicht der Zeitpunkt, Anerkennung für unsere Arbeit im Sinne angemessener Unterstützung zu bekommen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn der letzte Bescheid noch aussteht, ernüchternd ist es allemal. Ich spiele daher schon länger mit dem Gedanken aufzuhören, es ist ja nicht mein einziges künstlerisches Projekt. Ich muss das Forum nicht um jeden Preis machen, erst recht nicht nach so langer Zeit. Auch wenn es gerade jetzt wichtigst wäre, solche Dinge weiterzutun, kann ich es mir langsam nicht mehr leisten. Dass keiner zu diesen Bedingungen meine Arbeit fortführen möchte, spricht dazu ja Bände. Aber es kann auch ganz pragmatisch gesehen werden: wenn in einem Museum kein Platz mehr für ein 30×30 Meter großes Gemälde ist, dann wird es eben nicht aufgehängt, und Webern hat wieder seine Ruh’.
Die Anleihe aus dem Bildnerischen möchte ich gleich für eine andere Frage nutzen: Du hast in deinem Projekt „A distance drawing“ die Abstandsvorschrift von 1 Meter in einer genauso langen Linie auf Papier dargestellt und an dir wichtige Menschen verschickt. Wie kann ich mir das vorstellen?
Eine befreundete Designern aus Japan hat an ihre Freunde in der ganzen Welt Stoffmasken geschickt als ihren Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie und mich gefragt, wie viele Masken ich benötige. Diese Aktion erweckte in mir den Wunsch, auch etwas von mir beizutragen, was anderen in irgendeiner Weise etwas geben könnte. Entsprechend meines Handwerks nahm ich die damalige 1-m-Abstandsregelung zum Anlass, auf einem Blatt Papier mit einem Kohlestift eine Linie von genau 1 Meter zu zeichnen, die geschlungen ist, weil sie sonst keinen Platz darauf fände. Das sollte zum Nachdenken oder Nachschauen über diese Distanz anregen, ob man sie nicht vielleicht als etwas Bewegliches, Beflügelndes zwischen uns empfinden kann. Mehr als 120 Exemplare habe ich davon verschickt und teilweise sehr berührendes Feedback bekommen.
Nicht unbedingt Distanz, aber Entfernung oder Abstand spielen ja eine genuine Rolle in deinem Schaffen …
Ich konnte durch dieses Projekt mit vielen Anderen, die mehr als 1 Meter entfernt waren, in Amerika, Japan oder Deutschland beispielsweise, Kontakt halten und meinen Wunsch ausdrücken, in lebendigem Austausch zu bleiben und etwas zu schicken, worin ich persönlich enthalten bin.
Ist dieses/dein Schaffen nicht nur Umgang mit der Welt, sondern auch eine Art Trost? Sich gerade im Lockdown auf diese Art zu nähren, erscheint ja nur sinnvoll …
Diese Blätter an ca. 120 Menschen zu verschicken, heißt ja auch, dass ich 120 Adressen von Menschen habe, die mir nahestehen. Und das zeichnet natürlich auch ein tröstendes Bild, in solchen Zeiten nicht allein zu sein, Hände und Fühler trotzdem ausstrecken zu können.
Die Antwort eines japanischen Freundes zum Beispiel war der Hinweis, dass in Japan Menschen, die keinen Abstand halten können, „Manuke“ genannt werden, das heißt soviel wie ein „Dummer“. Mein Erstaunen darüber ließ mich in unserem westlichen Kulturkreis suchen und Arthur Schopenhauers Stachelschwein-Parabel finden, in der er die Menschen mit Stachelschweinen vergleicht, die zwar Stacheln haben, aber trotzdem gern kuscheln und sich annähern und sich dabei verletzen. Schopenhauer hat daraus die Empfehlung abgeleitet, dass man als Mensch besser Abstand hält, um diesen Verletzungen zu entgehen. Das ließ mich körperhafte Linien entwerfen, die ich wie kleine Igel mit Stacheln versehen habe. Anschließend ist daraus eine Performance entstanden, wo sich die Tänzerin Katharina Czernin in einen Kokon einschließt, wie ein Igel in sich zurückzieht und abgrenzt. So entwickeln sich die Dinge kontinuierlich weiter, was mich sehr freut. Aktuell verschicke ich „Distance-Poems“, die die derzeitige 2-Meter-Abstandsregel verarbeiten. 4 cm breite und 2 m lange Streifen aus chinesischem Papier, bedruckt mit einem Gedicht von mir, das in seiner Länge genau auf diese 2 Meter passt.
Dann wäre wohl die nächste Etappe, Distanz im Zeitlichen darzustellen, wo du dann ins akustische Feld treten würdest …
Das wird bei besagter Performance der Fall sein: Da existiert die Idee, eine Serie von musikalischen Fragmenten zu machen, die unter anderem auch mit Tanz verbunden werden können und von Instrumenten ausgeführt werden sollen, die diesen Begriff Distanz auch verkörperlichen und verzeitlichen.
Diese Performance wird online stattfinden, was Segen und Fluch zugleich ist: es besteht die Möglichkeit zu einer viel größeren Reichweite, doch gleichzeitig gehen ganz wesentliche Aspekte der analogen Aufführungssituation, wie Unmittelbarkeit, Kontakt, Berührung, Atmosphäre uvm. verloren …
Ich hab mich noch gar nicht aktiv an so einem Denken beteiligt, weil für das Arbeiten im KOFOMI oder der Insel Retz Kontakt so essenziell ist, dass Streaming oder andere Online-Konzepte absolut nicht in Frage kamen bzw. kommen. Grundsätzlich ist es natürlich schon eine Möglichkeit, die es zu bedenken gilt. Und wenn ich an das dabei fehlende Publikum denke, kommt mir in den Sinn, dass ich mir mit meinen Distance-Poems und -Drawings vielleicht gerade mein Publikum aktiv suche. Möglicherweise ist das auch als eine Art Maßnahmen zu ergreifen, mit den derzeitigen Einschränkungen umzugehen.
Eine andere Maßnahme waren die cadavre exquis …
Ja, auch ein Projekt, das im Lockdown begonnen hat, und im Verlauf dessen deutlich wurde, dass viele Kreative im Lockdown eigentlich weniger Zeit haben, weil sie, vor allem, wenn sie Familie haben, unter extremem Druck stehen.
Im doppelten und dreifachen Sinne: nicht nur, dass die ausbleibenden Einkünfte zu existenziellen Sorgen führen, sondern gleichermaßen und zur gleichen Zeit der brachial-permanente Umgang miteinander plötzlich gefordert war. Das erzeugte die Spaltung sowohl in der Betreuung als auch in der Beschaffung der Lebensgrundlagen 100-prozentig gefordert zu sein. Eine unlösbare Situation für das Individuum. Man konnte nur scheitern.
Das hat sich in dieser und auch anderen Situationen sehr oft gezeigt. Ich merke auch, dass ich mir Zeit für das Atelier kontinuierlich abringen muss und ich Schwierigkeiten habe, Arbeiten kontinuierlich fortzusetzen. Aber gerade das ist natürlich auch eine besondere Herausforderung, es zu tun. Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit Distanz im Kontext anderer noch größerer Probleme ist das Chorprojekt Schlafende Kinder, das meine Frau Veronika Humpel gerade gemeinsam mit mir realisiert. Alle, die des Gesanges mächtig und/oder willig sind, können eine von drei Stimmen eines Liedes einsingen und alle diese Stimmen werden dann zusammenmontiert und praktisch als Chorstück veröffentlicht. Im Text wird auf die Situation der Kinder eingegangen, die auf der Flucht sind.
Wie kann man sich in Kinder auf der Flucht einfühlen? Mir ist das unmöglich …
Es ist auch unvorstellbar und wahrscheinlich nur über eine Art künstlerische Intuition, über die Musik anzunähern. Dieses Projekt ist auch eher eine Form, sich mit einer solchen Situation auseinanderzusetzen. „Schlafende Kinder“ ist ein dreistimmig gesetztes Lied mit einem Text einer von Anfang an Involvierten, einem Mitglied der Choristas, des feministischen Chores in Wien. Es bleibt eine Annäherung, es sind Versuche, sich in dieser Welt auf irgendeine Weise einzuklinken und Aufmerksamkeit und Emotionen dafür zu wecken. Trotzdem bleibt es unfassbar, welches Leid und welche unaushaltbaren Zustände geschaffen wurden und werden.
Das Requiem war auch schon eine Arbeit zur Flüchtlingsproblematik.
Genau, in Requiem I und Requiem II ging es ebenfalls um die Flüchtlingsproblematik, die ja immer noch die größere Katastrophe ist, auch wenn uns die Pandemie unmittelbarer angreift. Auch unser Umgang mit den Flüchtlingsthemen: Es ist einfach unvorstellbar, dass eine Gesellschaft wie unsere dermaßen die Augen verschließt und nicht helfen will. Das Schlimmste ist vielleicht, was diesbezüglich auf politischer Ebene hierzulande nicht geschieht. Das Zweitschlimmste ist aber das Augenverschließen aller. Die Pandemie kommt erst viel später.
Das ist der Anker, unsere pandemische Situation nicht als die Apokalypse darzustellen, denn sie steht in ganz anderer Gestalt längst vor der Tür: Klimakatastrophen, Kriege, Hunger auf der Welt … die mediale Erzählung schürt andere Emotionen.
Angst und Druck sind geeignete Mittel, um gegenwärtige Machtverhältnisse zu erhalten. Ein Großteil der globalen Probleme entsteht durch die Lebensweise der westlichen Welt, die die Mehrheit der Menschen ausbeutet. Auch die Folgen der Klimakrise haben wir verursacht, die Konsequenzen tragen aber alle, zuerst die, die am wenigsten dafür können. Das Leid, das wir erzeugen, steht in überhaupt keiner Relation zu dem Leid, was wir vielleicht jetzt durch das Virus ertragen müssen. Die Verursacher wachen nicht auf, handeln nach wie vor nur den eigenen Interessen gemäß.
Die eigene Verstrickung in das kapitalistische System macht uns zu Verantwortlichen, allein die bloße Existenz hier in der westlichen Welt macht uns schuldig. Doch was kann eine Antwort auf diese Einsicht sein, außer Ohnmacht?
Wir steuern auf eine grausige Zeit zu, wenn wir nicht schleunigst das Ruder herumreißen. Peter Sloterdijk schrieb doch in Du musst dein Leben ändern über das Immunsystem des Menschen, das ja eigentlich immer kämpft, um intelligenter zu werden. Und dass wir nun eine globale Immunvernunft brauchen, und alle, die noch im Eigeninteresse agieren, müssen sich klar darüber werden, dass sie dadurch auch gegen sich selbst arbeiten. Was natürlich keine Lösung ist, denn das zerstört dann alles. Den Machthabenden ist der Satz: „Die Dinge fallen alle auf dich selbst zurück.“ leider völlig egal. Nicht einmal das nützt etwas.
Der Virus macht aber vor Macht, Besitz oder Prominenz nicht Halt. Jedes Wort oder Kunstwerk dagegen, wird Machthabende nicht erreichen.
Das ist jedenfalls zur Zeit schwer vorstellbar, ja. Die Kultur ist das letzte, das wieder geöffnet werden wird. Und die Menschen schmoren zwischen Angst und Hoffnung. Dieser Begriff beschäftigt mich schon seit einiger Zeit. Immanuel Kant beschreibt in „Zum ewigen Frieden“, dass so viele Menschen sich nicht dem Fortgang der Geschichte und einer friedlichen Gesellschaft zuträglich verhalten. Spricht aber von einer „göttlichen Vorsehung“ oder einer „göttlichen Natur“, wenn wir alles, was wir tun, guten Willens tun. Also eine recht naive Hoffnung, dass die Vorsehung der Natur alles richten wird, auch wenn vieles falsch, aber mit „echter Gesinnung“ vollzogen wurde. Das ist natürlich zu bezweifeln und es stellt sich die Frage, was diese göttliche Vorsehung überhaupt ist? Vielleicht hat dieses von Kant beschriebene Phänomen viel mehr mit Unwissenheit zu tun? Denn wir wissen nicht, wie Covid-19 sich verhalten wird, ob sich das Klima unseren Berechnungen gemäß entwickeln wird –unser Verständnis reicht nicht aus, wird es vielleicht auch nie. Unsere Hoffnung ist also eigentlich Unwissenheit.
… oder eine Art Ersatzqualität, dieses Unwissen zu entschuldigen. Deswegen erschien Nietzsche der hoffende Mensch erbärmlich, ihm ging es um die menschliche Fähigkeit zur Bewusstwerdung, zum Bewusstsein.
Ich war einige Male in einer der Corona-Teststationen testen und das schien für mich eine gewisse Analogie zu einschlägigen spirituellen Handlungen zu haben: am Eingang desinfiziert man sich die Hände wie mit Weihwasser am Eingang zur Kirche, dann kommt der Sanitäter mit dem Test, eine Situation wie im Beichtstuhl im Zwiegespräch mit dem Pfarrer, und 15 Minuten später bekommst du dann das Ergebnis fast so wie die Hostie in der Kirche in die Hand. Und in dieser Viertelstunde des Nichtwissens hoffst du. Und nach dieser Viertelstunde weißt du, dann ist die Hoffnung bereits gestorben. Und du bist wieder rein, sauber, sündenfrei. Die religiösen Rituale der Menschen zielen auch auf Hoffnung oder sogar Wissen auf einer metaphysischen Ebene und dienen als Instrument, uns gewisse Verhaltensregeln anzutrainieren.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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