Tahereh Nourani
Ich mag von allem wenig
Tahereh Nourani reiste durch Welten, anschließend durch ihr Innen und versteht es, daraus ihre klangliche Sprache zu schöpfen. Mit Querflöte, Bass und Langsamkeit bringt sie Himmel und Erde in eine fließende Verbindung und macht damit das Vergehen von Zeit fühlbar. Mit The Funambulist ist sie für den PhonoECHO-Preis nominiert worden, der am 25. November diesen Jahres vergeben wird. Ein Gespräch über Gottheiten, Quantenphysik und die Unbeständigkeit des Seins.
Langsamkeit beschreibst du als wesentliche Haltung zu deinem Leben und deinem Wirken. Die Methode ist, mit dem Sonnenaufgang aufzustehen und dem Sonnenuntergang zu Bett zu gehen, zu meditieren … Wie erhältst du dir dieses Agreement mit dir selbst?
Nahereh Tourani: Das Hamsterrad, das mein Leben vorher bestimmte, hat ja viel mit dem Thema Geld und Überleben zu tun. Insofern ist das eine sehr existenzielle Frage. In Irland wird gerade dieses Pilotprojekt eines bedingungslosen Grundeinkommens für ausgewählte Künstler:innen mit 300,- Euro pro Woche eingeführt. Während ich die SVS-Hilfe hier in Österreich bezog, erlebte ich zum ersten Mal dieses wunderbare Gefühl, dass meine Fixkosten gedeckt sind. ES erhöht die Lebensqualität enorm, ohne diese Angst zu lebenm und ich habe nicht geglaubt, dass das Thema Grundeinkommen in meinem Leben tatsächlich präsent werden würde. Jetzt habe ich Hoffnung, dass es doch noch wahr werden kann – und zwar für alle, nicht nur für Künstler:innen – nicht für das Überleben Geld verdienen zu müssen.
Mit Langsamkeit lebe ich viel qualitativer, also ist es mein Lebensziel, sie mir zu erhalten. Dafür habe ich all diese Rituale, Stille, Träume, Meditation, Yoga – sie geben mir Anhaltspunkte im Tag. Ich mache lange Spaziergänge, so oft ich kann, in den Steinhofgründen oder irgendwo mit Weitblick, Bäumen, Tieren und wenigen Menschen. Und da oben bleibe ich sitzen und schaue. Die Langsamkeit dieses Bildes und der Umgebung überträgt sich auf mich und dann auch auf meine Musik. Diesen Effekt hat nur die Natur auf mich. So habe ich auch die Panik im März 2020 überstanden.
Außerdem steht mein Wohlbefinden mit dem Sonnenlicht in Verbindung: Ich versuche mit dem Sonnenaufgang aufzustehen und mit dem Sonnenuntergang zu Bett zu gehen, was schwierig ist, weil die Musikszene vorrangig nach dem Sonnenuntergang passiert.
Ich wünsche mir ein Leben, in dem ich von vier schönen Konzerten im Monat leben kann und der Rest der Arbeit dem Prozess gewidmet ist. Alles ist ständig im Wandel, also in Bewegung. Deswegen brauche ich Punkte, an denen ich mich zentriere und zu mir zurückkomme.
Diese Langsamkeit legt dir den Zugang zu deiner Musik, zu deinen Themen. Derzeit arbeitest du an deinem zweiten Albums Wirks?
Ja. Wirks ist noch in progress. 2020 habe ich im Hotel Poupik in der Steiermark für 10 Tage daran gearbeitet. Eigentlich sollte es da schon fertig werden, aber irgendwie entwickelt es sich immer weiter. Ich habe schon dreimal aufgenommen, doch erst jetzt ist es rund. The funambulist und The shaman, die beim SNIM im Oktober von einem Impro-Orchester aufgeführt wurden, tragen dieses Album nun und ich werde es hoffentlich 2022 dann veröffentlichen können.
Wie kam The shaman zu dir?
Das Stück existierte schon, bevor es den Titel gab. Für mich war das Wort ‚Relevanz’ in den letzten zwei Jahren von großer Bedeutung. Ich hatte das Album Wirks begonnen. Dieser Begriff ist einem Buch zur Quantenphysik von Hans Peter Dürr entnommen und besagt, dass nicht Teilchen die kleinste Bestandteile von Materie sind, sondern es viel kleinere gibt, die Wirks.
… kleiner als Quarks.
Ja, und sie wirken, sie lösen etwas aus. Dann ist das Stück entstanden, es beginnt mit einem fünfminütigem Crescendo, das kaum wahrnehmbar leise anfängt und ohrengefährdend laut wird. Das war die Verarbeitung meines Jahres. Ein nervöser, scary Anstieg, das Hamsterrad. Und dann kam Covid und erzeugte eine Schockstarre, Stillstand auf dem Höhepunkt und ich bekam keine Luft mehr. Im Stück kommen da nur Atemgeräusche, aus denen ein Geräuschrhythmus entsteht, der wie ein Rad dreht. Wie ein Schamane, ein Wesen, das erst total unter Druck steht und sich dann durch Atmen wieder zurückholt, Energie gewinnt. Wirks ist vielleicht ein Album all meiner Professionen. Es sind nicht die Gottheiten, sondern die Seiltänzerin bildgebend. Deswegen auch The Funambulist. Ich sehe mich ständig balancieren, kurz auf einem festen Boden, manchmal auch als eine Schamanin.
Was bedeutet es für dich, eine Schamanin zu sein? Eine Heilerin? Isolierte?
So habe ich es nie gesehen. Aber ich bin sehr gern allein und verbringe viel Zeit mit mir. Unter Menschen kann ich sehr begrenzt agieren, meine Energie und Kraft hole ich beim Alleinsein. Hannah Arendt drückte es in etwa so aus: Wenn ich mit mir bin, beim Nachdenken, bin ich nicht allein, denn in mir drin sind viele. Unter Menschen kann ich immer nur eine Person sein, damit Kommunikation mit anderen möglich ist. Das entspricht meiner Vorstellung von einer Schamanin: mit dem Innen verbunden, naturbezogen im Menschsein, natürlich auch ein bisschen eine Hexe, weil sie Zugang zu Kräften hat, die wir nicht sehen und vielleicht nicht anerkennen können.
The witch and the poet gäben da das Stichwort … 3 Teile in Kongruenz zu 3 Lockdowns.
Ich wollte schon länger mit der Klarinettistin Mona Matbou-Riahi und Adele Knall etwas zusammen machen, doch nie war Zeit dafür. Im Lockdown hatten dann plötzlich alle Zeit, durften sich aber nicht treffen. Da kam mir die Idee zu dieser long-distance-jamsession. Eine schickte der nächsten eine Aufnahme Improvisation von 10 Minuten, diese improvisiert 10 Minuten darüber, danach die Dritte. Das Ganze in einem Rad: jede war einmal die Erste. Adele machte darauf diese Videos, die so viele gute Rückmeldungen bekamen, sodass wir ein Jahr später, im März 2021 dann im echoraum zum ersten live zusammen spielten. In der Steinergasse gab es bereits den nächsten sehr schönen Auftritt: immer improvisierte Musik, gemeinsames Jammen. Beim Kultursommer anschließend war unser Zusammenspiel beim Auftritt furchtbar, ein ganz schlimmes Konzert. Aber das bin ich mittlerweile beim Improvisieren gewohnt. Es gibt einfach manche Male, wo man überhaupt nicht in Schwung kommt.
Auf Wirks geschieht etwas anderes als auf deinem ersten Album Ancient child. Dort sind vorrangig Gottheiten titelgebend. Weil ein Kind Göttliches in sich trägt, was sich nur bewahren lässt, indem man im Altern Kind bleibt?
‚Alt‘ und ‚Kind‘ werden als Gegensätze empfunden, außerdem ist ‚alt‘ oft negativ konnotiert, besonders bei einer Frau. Als ich Akshigan in mir entdeckte, mein Alter Ego, ein Wesen, das mir den Zugang zu meiner Kreativität ermöglicht, hat es mich darauf gebracht, dass ich gar kein Alter habe oder aber bereits tausende Jahre alt bin. Spiele ich dagegen mit meiner Nichte, bin ich auch wieder fünf Jahre alt. Das Konzept von Alter ist lediglich eine Konstruktion. Ancient Child ist ein Kind, das so alt ist, dass es irgendwie schon alles weiß und gleichzeitig die Neugier und Frische eines Kindes hat.
Warum dann die Gottheiten in den Titeln?
Dieses Album beschreibt meine erste selbstkomponierte Musik. Ich hatte davor keine Ahnung, dass ich das überhaupt kann – es ist mir einfach passiert. Ich hatte diese musikalischen Ideen, nicht konkret, lauter Fetzen und Improvisationen. Während der Lektüre von Michael Köhlmeyers Buch über die griechische Mythologie habe ich meine Musik plötzlich gehört, denn sie hat auch etwas Archaisches, Mystisches. Dieses Album war ein Heilprozess für mich, wie es Kunst eigentlich immer ist. Die Götter und Göttinnen der Mythologie haben mir geholfen, Göttliches in mir zum Vorschein zu bringen. Ich liebe Mythologien, also las ich auch Gilgamesh, über die Amazonen und fand Namen und ein Konzept für meine Sachen. So bekam es eine konkrete Form und konnte fertig gestellt werden.
Matthias Loibner, mit dem du auch schon zusammen gespielt hast, schreibt auf seiner Website: „Since I do not trust words and can not paint I use my music in order to tell my observations.“ – Umgekehrt beschreibst du, wie du durch die mythischen Erzählungen zu einer Form deiner Musik kommen konntest. Also brauchen wir Sprache wohl doch?
Ich wollte auf meine Website schreiben: „I am a philosopher, but I am not good in words.“ Mein Medium ist Musik, damit drücke ich mein Denken, meine Gedanken aus. Nun kam mir Matthias Loibner zuvor und ich muss etwas anderes schreiben. Ich liebe Worte, es ist etwas Heilendes im Sprechen, deswegen gibt es ja auch Therapien. Es hat eine Wirkung, wenn man Dinge ausformuliert, als ob sie sich dann auflösen, sich ausleben, einen verlassen. Solange ich keine Worte habe, fehlt das Bewusstsein. Doch sobald ich ein Wort sage, verschließen sich alle anderen Türen, es ist konkret. Und Musik ist wie eine offene Sprache, so unmittelbar. Mit Musik zu sprechen, hat sehr viele Dimensionen und ist sehr unkonkret. Dennoch helfen mir Worte etwas ganz Offenem einen gewissen Rahmen zu geben. Ideen bekommen dadurch eine Form und lassen sich besser merken.
Wie bist du zur Musik und zu Akshigan gekommen? Wie hast du gemerkt, dass Musik deine Sprache ist?
Bereits in der Vorschule zeigte sich meine musikalische Vorliebe, die Sopranblockflöte und ich waren unzertrennlich. Ich bekam Anerkennung von meinen Angehörigen und begriff, dass ich etwas herzeigen kann. Mit 12 Jahren kam dann die Querflöte in mein Leben und ab da traf ich immer wieder die Entscheidung, Musikerin sein zu wollen. Der Rest meines Lebens ist bis jetzt eine Recherche, was das eigentlich heißt. Welche Musik, welche Instrumente, welche Richtung, welche Rolle? 2015 entdeckte ich Akshigan, 2016 trat ich das erste Mal als Akshigan auf, davor war ich eine Flötistin. Mir wurde der Unterschied zwischen Instrumentalistin und Musikerin plötzlich so deutlich: Ich hatte immer nur vorgelesen, was andere geschrieben hatten und nun begann ich plötzlich ohne Skriptum zu sprechen.
Und warum ausgerechnet Wien?
Mein Plan war eigentlich Freiburg, die Musikhochschule ist da unglaublich schön. Aber ich lernte eine iranische Professorin kennen, die Querflöte an der MDW unterrichtet. So begann ich ein Studium in Wien, kam als Musikerin, wurde aber erst einmal Kellnerin. Im Iran konnte ich durch Unterrichten und Spielen mit Musik Geld verdienen, hier begann ich einen großen Umweg. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass es Alltagsrassismus ist und war, dass meine Qualität nie anerkannt wurde. Ich sollte meine Herkunft und meine Ausbildung vergessen, um mich besser an die europäische Welt anpassen, um ihr überhaupt entsprechen zu können. „Hier in Österreich sind bzw. machen wir …“ war der Leitsatz, um mich dann zu korrigieren, bei dem, wie ich war oder wie ich spielte. Nunja, es hat mich dazu gemacht und gebracht, wo und was ich jetzt bin. Während ich Masterarbeit schrieb, wurde mir schlagartig klar, dass ich aufhören muss, zu studieren. Es war vergeudete Zeit, die mich nur noch mehr von mir entfernte. Glücklicherweise jammte ich zu der Zeit mit einem befreundeten Bassisten und als ich seinen Bass in die Hand nahm, fing alles an. Er gab mir den Boden, den Flöte mir nie geben konnte. Das Kind in mir erwachte wieder und ich empfand endlich wieder Freude am Musikmachen. Zu der Zeit wollte ich nie wieder Konzerte spielen, der Druck hat mich so unglücklich, mir mein liebstes Spiel kaputt gemacht. Ein Bass und ein Loopgerät waren nun mein Spielzeug – und mit dem ersten Album hatte ich meinen Boden gefunden.
Wieso wolltest du nach Europa?
Ich wollte schon immer aus dem Iran raus, als Musikerin die Welt bereisen. Das hat sich geändert, ich bin hier geblieben. Was ich in Teheran studiert habe, zählt hier nicht, deswegen wollte ich hier studieren. Das ist auch die beste Möglichkeit, ein Visum zu erhalten. Dieser Umstand hält viele auch lange im Studium fest. Denn für ein Visum musst du gearbeitet haben, hast aber keine Arbeitserlaubnis. Ein Teufelskreis, der es fast unmöglich macht, ein Visum zu bekommen. Es gehen Alltagsrassismus mit systematischem Rassismus Hand in Hand. Ich hatte viel Vertrauen und Liebe zur Akademie, Lernen erschien mir aussichtsreich und lustvoll. Das hat sich geändert.
Inwiefern?
Ich weiß vieles auch erst im Nachhinein, nach vielfältiger Lektüre und Gesprächen habe ich Benennungen. Damals habe ich mich mit den Zuschreibungen identifiziert und glaubte, sehr schlecht zu sein und sehr viel lernen und üben zu müssen, um noch viel besser zu werden.
Ein fetter Nährboden, sich unglaublich anzustrengen und unterzuordnen. Aus dieser Abwertung ist es dir aber gelungen, ein Selbstverständnis durch Selbstbehauptung zu entwickeln … hat das die Musik in dir geschafft?
Eine Sammlung an ganz vielen Dingen. Ich bin ein Eremit und beschäftige mich sehr viel mit meinem Selbst. Denn darauf ist Verlass und darüber hab ich die Kontrolle, auf meine innere und äußere Kraft. Um meine emotionalen, psychischen, physischen und finanziellen Lebensbedingungen zu verbessern, hab ich überall gesucht und geforscht: Bücher, Therapien, Yoga, Mediation … Auslöser und Motivation dafür ist immer Unbequemlichkeit, so bleibt es spannend und anspruchsvoll. Eine verändernde Wirkung hatte eine bestimmte Art von Mediation, Vipasanna, auf mich. Zweimal habe ich zehn Tage lang nur geschwiegen. Dort bekam ich einen Geschmack von Langsamkeit und Stille. Und als es außen still wurde, konnte ich auf einmal Sachen von innen hören. Beim Musizieren erreiche ich nun immer wieder diesen Zustand von Stille und kann diese leise, noch dünne/zarte Stimme aus meinem Innern hören. Langsam wird sie lauter.
Inwiefern unterscheidet sich denn die Ausbildung in Teheran von der in Wien? Es ist schwer, diese Frage zu stellen, ohne automatisch einen kolonialen Blick zu transportieren. Du hast es erfahren in zwei Welten zu leben und das webt sich doch unweigerlich ich dich ein …
Ich weiß nicht, wie die Ausbildung jetzt im Iran ist, meine Studienzeit liegt ja nun schon 20 Jahre zurück. Ich habe sie als eine sehr schöne in Erinnerung, die Struktur der Ausbildung ähnelte derjenigen von hier. Nur waren wir eine Studiengruppe, die intensiv zusammenarbeitete. Zwischenmenschliche Beziehungen waren auf der Uni im Iran viel essenzieller. Langfristige Freundschaften sind hier dagegen während meines Studiums nicht entstanden.
War es für dich eine Weltenwanderung, Mozart und Bach zu studieren? Umgekehrt kenne ich ja keinen einzigen iranischen Komponisten …
In Wien gibt es aber einige, ich kenne zumindest Rojin Sharafi In Teheran hatte ich klassische Musik studiert und mit traditioneller iranischer Musik nichts anfangen können. Meine Mutter hörte sie und ich mochte sie nicht, habe sie nicht ertragen. Erst irgendwann hier beim Improvisieren kamen Anklänge davon zum Vorschein und auf einmal klang vieles so „orientalisch“. An der MDW war mein Schwerpunkt Improvisation und Neue Musikströmungen u.a. bei Franz Hautzinger und Manon Winter, erst da habe ich andere Sachen mit der Flöte ausprobiert. Im Iran waren beinhart klassische und notentreue Spielart dran.
Mir behagt meine Position nicht, aus der ich mit dir spreche. Aus deiner Sicht entstamme ich der privilegierten ersten Welt, habe jedoch keinerlei Wissen um deine Herkunftswelt.
Wir sind alle irgendwo in diese Welt geboren und mit unserer Herkunft sozialisiert und identifizert. Ich habe mich ja selbst auch als Dritte-Welt-Mensch betrachtet und gedacht, Europa und seine Menschen sind besser. Warum sonst leben sie ein besseres Leben? Diese Hierarchisierung zwischen Ländern ist so tief und unbewusst verankert in unseren Mentalitäten und wir leiden alle darunter. Gerade deswegen finde ich Immigration so bereichernd, dass ich mir eine Welt wünsche, in der jeder Mensch immigrieren würde. In Österreich reist man sehr viel, weil man es sich in diesem Land leisten kann. Das erzeugt die Haltung, Weltmensch zu sein. Aber das Bereisen und Besuchen anderer Länder reicht dafür nicht. Man muss immigrieren, sich in einem anderen Land ein neues Leben aufbauen, um Welten zu durchwandern. Ich bin jetzt eine Fusion, ein Hybrid und ich liebe das. Ich hatte ein früheres Leben im Iran, bin gestorben und lebe nun ein zweites Leben hier in Wien. Diese zwei Welten gehören zu meinem Repertoire: Küche, Natur, Sprache. Ich lebe sogar drei Sprachen, die ich zum jeweils besten Ausdruck verwenden kann. Das ist so bereichernd. Am Ende überwiegt das tiefe Verständnis der grundlegenden Ähnlichkeit zwischen den Menschen. Unsere Kerne sind sowas von gleich. Und auch die Systeme …
Dein Zugang ist auch ein körperlicher, performativer.
Schon seit ein paar Jahren, aber auch erst kürzlich beim Kultursommer habe ich mit Tanz gearbeitet. Das Stück war performative Rap, also Text und zwei Tänzerinnen, und sehr interessant. Ich konnte mit Hip Hop bislang eigentlich nichts anfangen. Aber eigentlich kam es meinem immer wiederkehrenden Bedürfnis, von der Flöte kurz Pause zu machen und mich auf den Bass zu stürzen, sehr entgegen. Das Multitasking meiner Solosachen ist für mich die Hölle. Ich möchte zukünftig mehr interdisziplinär arbeiten. Besonders Tanz und Visuals interessieren mich sehr.
Was hast du bei Prerogative Lips komponiert?
Ich habe Beats und Basslines zu den Texten der beiden gefunden und ein, zwei Stücke von mir zur Performance hinzugefügt.
Greifst du dabei den Rhythmus der Sprache, den Takt zwischen den Zeilen oder den Vortragsstil der Rapperin ab?
Ich versuche mich an ihrem Vortragsrhythmus zu orientieren. Das ist für mich ein ganz neuer Prozess, besonders weil ich mit Hip Hop bislang wenig in Berührung kam. Doch es gibt immer wieder Künstler:innen, die ich extrem mag, wie Kate Tempest. Ihre Texte sind unglaublich stark. Trotzdem ist es keine Sprache, die ich oft höre oder gut kann.
Hat deine Körperbemalung im Sinne der Performance eine Bewandnis? Sind das Symbole?
Die Gesichtsbemalung ist eine zufällige Entwicklung. Für ein Fotoshooting, nur zum Spaß, mit einer Freundin, aus der Zeit, als ich vorhatte, nie wieder eine Bühne zu betreten, habe ich andere Sachen ausprobiert. Unter anderem, mich mit Gesichtsfarben zu bemalen, sehr minimal und minimalistisch. Ich mag von allem wenig. Auf diesen Fotos schaute mir dann diese Göttin entgegen, Akshigan. Dort bin ich ihr zum ersten Mal begegnet. Mit diesem Strich unter den Augen auf dem Jochbogen trage ich eine Maske, werde zu Akhshigan. Damals trug ich ihn nur auf der Bühne, mittlerweile gehört er für mich zum Schminken. So arbeite ich mit Punkten, mit Henna, mit dem Strich … Bestimmt auch als Ritual vor dem Auftreten, denn ich hatte unglaubliche Bühnenangst und dieser Strich hat Wunder gewirkt. Er verwandelt mich in eine andere Person.
Akhshigan ist dein Alter Ego, ist sie auch Schutz?
Am Anfang definitiv. Akhshigan ist ein ganz altes, persisches Wort mit der Bedeutung: die vier Urelemente, die in der Religion des Zarathustra heilig waren. Wasser, Erde, Luft und Feuer. Es gab schon vor Jahren einmal ein Band-Projekt, das Akhshigan heißen sollte, dann aber nichts geworden ist. Aus meiner Erfahrung vielseitiger Therapiemethoden gibt es die eine, bei der alle Persönlichkeitsanteile um einen imaginären, inneren runden Tisch versammelt sind und miteinander ins Gespräch kommen. Akhshigan ist eine geerdete Göttin, Mutter, die Geborgenheit gegeben hat, aber auch die Power einer Amazone. Dieses Wesen hat keine Angst und ist der Boden. Mittlerweile kann ich manchmal auch mit meinem eigenen Namen in diesen Zustand finden.
Diese Vierheit der Elemente erinnert mich an das Bassquartett. Welches Element würdest du dir selbst zuschreiben? Luft? Feuer?
Ich war sehr viel Luft und Feuer. Ich habe sehr viel Wut in mir. Die Flöte war natürlich sehr viel Luft und ich brauchte den Ausgleich dieser Elemente. Man sollte ihn ja eigentlich bewusst suchen, wie ich später las. Aber ich weiß solche Sachen meist erst im Nachhinein, während sie stattfinden, geschehen sie mir nur. Der Bass gab mir also Boden, Erde.
Einerseits ist das Musikmachen Heilung, andererseits schaffst und brauchtest du sogar innerhalb dieses Musikschaffens eine Balance der Elemente. Was offenbar produktiver und substanzieller werden lässt, was sich schneller auszuwirken scheint auf dich. Die Blinden und der Elefant war 2019 ein Stück des Bassquartetts. Wird es bleiben?
Wir spielten das Stück im November 2019, also noch vor der großen Weltexplosion Covid. Vor etwa zehn Jahren war ich auf einem Jazzworkshop im Waldviertel, Schönbach, gewesen, was mein Leben und mich künstlerisch sehr verändert hat. Dort begann ich, Bass zu lernen. Der Basslehrer Achim Tang ließ uns immer in Bassensembles spielen – das war der Himmel (heaven) für mich. Ich glaube, ich war selten so glücklich in meinem Leben: 12 Bässe, 12 Bassverstärker, der Sound war so megamächtig. Dort ist die Idee für ein Bass-Quartett entstanden.
Aber wie ist dann das Stück entstanden?
Helge Hinteregger vom mica riet mir, eine Kompositionsförderung zu beantragen – ich hatte mich bis zu dem Zeitpunkt nicht als Komponistin verstanden. Obwohl ja bereits ein Album von mir veröffentlicht war. Ich betrachtete es als Übung und schrieb ein Konzept für das Bassquartett und das wurde tatsächlich gefördert! Mit den drei wunderbaren Bassist:innen Andrea Fränzel, Gregor Aufmesser und Jakob Schneidewind erzählte ich diese alte Geschichte von Rumi, obwohl es sie wohl in unterschiedlichen Kulturen ähnlich gibt: Ein Elefant steht im Raum, Blinde kommen hinein und werden gefragt, was das ist. Und jeder berührt einen anderen Teil des Elefanten, sodass jeder etwas anderes beschreibt. Die Wahrheit ist also immer weiter als unsere Wahrnehmung, wir sehen nur sehr begrenzt. Unglaublicherweise glauben wir uns selbst gern so absolut. Diese Geschichte ist auch übertragbar auf die Selbstkenntnis – immer wieder komme ich drauf, dass ich überhaupt noch gar nichts wusste. Ich habe soviel gesehen und geglaubt, etwas zu wissen – nur um herauszufinden, dass ich immer noch gar nichts weiß. Musikalisch hat mich der Schweizer Komponist und Pianist Nik Bärtsch sehr beeinflusst. Seine Art minimalistischer Polyrhythmik ließ mich Rhythmus als ein Gerüst verstehen, das einen Raum baut. Einzelne Musikerinnen konnten dann diesen Raum betreten und darin spielen oder sprechen. Jede neu dazukommende Stimme sollte überraschen, es stellt sich einfach kein homogenes Bild eines Elefanten ein.
Wir wollten danach noch im Echoraum auftreten mit Franz Hautzinger als Improvisateuren, aber nach drei Verschiebungen in 2020 war dann die Luft raus. Leider weiß ich nicht, wie ich es weiter finanzieren kann. Man muss einfach länger proben mit einem Bassquartett.
Rückblickend weiß man immer mehr …
Ich liebe das Älterwerden, weil ich zunehmend Zusammenhänge begreifen und Abläufe und Zyklen erkennen kann. Ich sehe zum Beispiel diese Jahresdynamik, die sich immer wiederholt: Frühling Sommer findet viel draußen statt, ich war unheimlich viel unterwegs. Im Herbst und Winter geht es nach innen und drinnen, ich möchte weniger auftreten und den ganzen Input des Sommers verarbeiten.
Diesen Oktober gab es Amore von Antonio Canova mit dir im Kunsthistorischen Museum – da hast du nicht improvisiert …
Amore ist eine Inszenierung von Jacqueline Kornmüller, Regisseurin von Ganymed, über zwei Statuen von Antonio Canova, Cupid und Psyche, mit einer Animation von Shadab Shayegan und Musik von Johanna Doderer für Soloflöte.
Das Stück ist sehr kurzfristig zu mir gekommen, als ich Mona bei Ganymed substituierte. Jacqueline fragte mich an und plötzlich war meine Neugier geweckt und ich habe zugesagt. Interessant war für mich, wieder die Rolle einer Instrumentalistin einzunehmen. Das hatte ich in den vergangenen Jahren verweigert. Ich wollte die Challenge annehmen, mir wieder diese Art von Virtuosität anzutrainieren und sie zu zeigen. Schließlich habe ich diese Fähigkeit. Ich wollte sie nur lange Zeit ignorieren, niederdrücken, ersticken. Ich denke, deshalb ist dieses Stück zu mir gekommen. Diese lange Zeit brauchte ich auch, um meine eigene Stimme zu entwickeln. Ebenso radikal habe ich auch lange Zeit mit keinem anderen Musiker zusammen, sondern nur solo gearbeitet. Das konnte sich in den letzten zwei Jahren wieder ändern, ich möchte nun wieder rausgehen, Sachen anderer Leute spielen und mit Musikern wie Matthias Loibner oder Katharina Klement und Angelina Ertl im Trio TAK beispielsweise zusammenarbeiten. Ich höre mich jetzt laut genug, dass ich das wieder kann.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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