Scharmien Zandi
Man muss die Form manchmal ein bisschen sprengen
Scharmien Zandi bewegt sich auf den geistigen Mülldeponien unserer Zeit und erkundet unentwegt soziale Angelegenheiten, stellt sie mit den Mitteln der Stimme, des Körpers und der zeitgenössischen Musik in ungewohnte Zusammenhänge, bietet ihnen neue Räume an und lädt zum Austausch ein. Über das Einbeziehen von Elementen unterschiedlicher Kulturen, die Verbindung diverser Kunstformen und Provokation.
Du warst ein halbes Jahr in China, hast da zur Musikvermittlung an Studierende für Kinder mit entwickelt, aber auch Stücke wie Dione geschrieben – wie kam es dazu?
Ich bin da einer Ausschreibung des Kulturministeriums Peking zusammen mit ICT Management und den Wiener Sängerknaben gefolgt, die für eine Residenz für Musik und darstellende Künste jemanden gesucht haben, aber auch mit dem Schwerpunkt, einen Bildungsauftrag für Elementarpädagogik zu setzen. Was für uns in Europa selbstverständlich ist, wird in China gerade erst auf den Weg gebracht: ein musischer Bildungsauftrag in Kitas und Volksschulen. Es ging darum, das Studienfach Musikpädagogik in China überhaupt erst einmal aufzubauen, um StudentInnen ausbilden und einen musikalischen, aber auch kulturellen Austausch erzeugen zu können. Zu dieser Aufgabe kam aber auch, mit anderen Künstler:innen Projekte zu initiieren, wie zum Beispiel die Ausstellung AMOUR FOU, meine Performance TAIKONAUT LILLI oder der erste Akt von Dione, mit dem wir den neuen Raum des österreichischen Kulturforum Peking eröffnet haben. Dafür hatte ich schon zuvor in Wien zu recherchieren begonnen. Deren Motivation hat sich aber gerade in China gewandelt, als ich mit deren Urgöttern Nü Wa und Fu Xi in Kontakt kam. Ein ganz neues Territorium eines Bewusstseins für mich. Also begann ich als meine Form des interkulturellen Austauschs mit den Göttern zu spielen, bei mir hieß sie dann Dione, Ausdruck einer feministischen Welle vergessener Gottheiten, der sich für mich im Saturnmond Dione und in der Namensvergabe widerspiegelt.
Dein Ansatz ist feministischer Natur?
Eigentlich nicht. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Klimawandel und Gleichberechtigung einfach ein großes Thema sind. Wenn ich mich also zu einer Göttin begebe, möchte ich mal ein bisschen aus anderer Perspektive auf die Erde schauen können, als nur Empowering Solidarity zu fokussieren, denn ich lebe das schon. Dione beschäftigt sich mit der ‚toxischen Eifersucht‘. Das kennen Frauen und Männer. Bei Dione tritt sie aus Hera heraus, die ja die Eifersucht als Attribut trägt, und so schwankt die göttliche Ordnung, wie du dir vorstellen kannst.
Aber es gab doch 2017 die Performance La Borrachita – eine Gegenüberstellung von Faschismus und Feministheorie?
La Borrachita untersuchte die Idee von Sexualität, Politik und Familie im Kontext zwischen Alltagskultur, Mainstream und dem gesellschaftlichen Diskurs, der den Körper verleitet, untersucht und in Versuchung bringt. Gemeinsam mit Autorin und Regisseurin Ana Drezga und Performancekünstler Manuel Prammer gestalteten wir eine Art Minimal-Oper, die dem Körper seine Melodie nimmt, um ihn dann nach seiner Tradition zu fragen. Eine Symphonie des Unbehagens, oder: Was die Sprache noch nicht weiß … Die Gesamtkomposition der Minimal-Oper entsteht aus verschiedenen Fragmenten und unterliegt einem ortsspezifischen Entstehungsprozess, das heißt jedes Fragment wird für sich an einem Ort, sowohl im In- als auch im Ausland, erarbeitet und mit bereits bestehenden Fragmenten in Beziehung gesetzt.
Ist Feminismus dir eine Haltung, aus dem Kanon auszutreten?
Wenn, dann sehe ich mich schon im Postfeminismus und spreche lieber von einer künstlerischen als einer politischen Position. Denn wenn ich eine politische Position einnähme, würde ich trotzdem eine humanistische als Mensch im Gesamten empfinden, noch bevor ich einen Kampf der Geschlechter anträte, wäre ich bei Mensch versus Maschine. Ich verstehe die Welle und den Bildungsauftrag gegen die Vergessenheit und die Verschwiegenheit von Frauen im öffentlichen Leben, sie tangiert mich auch bei Researches, wenn ich neben Debussy, Beethoven, Zemlinky, Krenek usw. Komponistinnen suche. Heute kenne ich Ethel Smyth, Hilde Loewe-Flatter, Charlotte Schlesinger, Vítězslava Kaprálová, Germaine Tailleferre, meine Liste ist lang!
Deine erste Opernperformance Maria Tybee trägt den Titel einer Bombe in Verbindung mit einer Maria – wie kommt man da drauf?
Genau bei diesem Stück stand ich in der Auseinandersetzung mit den verschwundenen Komponistinnen und Musikerinnen. Mit Anna Maria Mozart hatte ich mich auseinandergesetzt und bin dabei kaum aus dem Schatten des kulturellen Nationalhelden Österreichs seit über 200 Jahren, Wolfgang Amadeus Mozart, hinausgekommen. Mir hat es gefallen, das Verschwundene zu thematisieren, wie die verschwundene Wasserstoffbombe Tybee. Diese Zusammensetzung ist herrlich: die Bombe könnte mit einem Padabumm hochgehen, genau wie die dritte feministische Welle womöglich noch mal so ein Padabumm im globalen Kontext ausgelöst hat, auch für die Anfänge von Musik, Theater, Sprache, Klang – in unseren normhaften Konstruktionen haben wir ja auch vieles vergessen.
Solcherart Konstruktionen haften verschiedenen Kulturkreisen in verschiedener Art und Weise noch an …
Begriffe wie Europäisch, Russisch, Chinesisch, Amerikanisch, Arabisch sind Kategorisierungen, um das kulturelle Bewusstsein des einen und des anderen Landes besser zu verstehen anstatt sich in Klassen oder Schichten zu stapeln. Die erste Welt nennt sich selbst so und wird sich sicher nicht in eine andere Kategorie stellen.
Die erste Welt nimmt es sich heraus, die Welt zu kategorisieren, das ist der koloniale Blick. Sich davon zu befreien, ist ein riesiges Thema, weil die Kognition nur bedingt Zugriff auf die mentalen Wurzeln durch Sozialisation hat.
Bestes Beispiel: Eine Alternative zum bestehenden kapitalistischen System ist schwierig zu finden, während wir uns darin befinden.
Weil wir alles systemimmanent denken, uns nicht aus diesem System rausdenken können. Kann künstlerische Arbeit da abhelfen?
Natürlich! Das ist eines der wenigen Felder, in denen man suchen, versuchen und experimentieren kann. Auch mir passieren rassistische Meldungen, eben weil uns dieses Denken immanent ist. Ich darf das nicht leugnen. Ich kann mich aber beobachten, hinschauen, ganz bewusst mit Menschen anderer Kulturen in Kontakt treten, um hier einen Dialog zu gestalten. Das strebe ich zumindest an, denn da haben wir längst noch nicht ausgelernt und da gibt es kein richtig oder falsch, eher ein Bewusstmachen von Möglichkeiten. Wenn man eher beobachtet statt bewertet, wird man vielleicht fündiger und kann einen anderen Umgang pflegen, den gesellschaftlichen Diskurs ändern. Die künstlerische Position macht es vielleicht ein bisschen leichter, gestaltend einzugreifen. Aber natürliche zehre auch ich von feministischen Denkkonstruktionen und den Dekolonialisierungstendenzen. Golnar Shayar, eine unglaubliche tolle Musikerin und Kollegin, beschäftigt sich sehr mit dem Thema Dekolonisierung und Diversität und ist öffentlich sehr aktiv. Durch ihre Sichtbarmachung hat sich bei mir einiges im Gehirn bewegt. Auch hier darf ich weiterlernen, beobachten, mir meine Gedanken dazu machen ich und sie in meinen Stücken bewusst verarbeiten.
Du hast darstellende Kunst studiert – worum ging es dir besonders?
Ich habe Schauspiel und Gesang studiert, meine Kunstgattung ist die Musik und die Darstellende Kunst. Ich unterscheide zwischen darstellender und bildender Kunst – von Schauspiel bis Performance. Performative Konstruktionen gehen mehr Richtung Bildende Kunst. Vor Jahren gab es den Versuch, da eine Schnittstelle zu gestalten – man nennt das Konzeptkunst. Darstellende Kunst und Schauspiel wiederum arbeiten mit Text, ich darf also zwischen textlicher und körperlicher Konstruktion zu entscheiden. Die darstellende Kunst fasst daher für mich das Körperliche bis hin zum Sprachlichen, Klanglichen, heute aber auch weiter zur Medienkunst.
Und du bedienst dich der Felder, wie du es gerade brauchst? Du machst ja beides …
Sie lassen sich sehr gut miteinander kombinieren, sich gegenüberstellen, verflechten. Ob in Form eines Monologes in deutscher Sprache, eines Liedes mit Fantasiesprache, in Form einer Videoinstallation mit langsamen mimischen Bewegungen oder zu einem Chor, der sich mehr in die klangliche Choreografie einordnen lässt. Im deutschsprachigen Raum fällt mir natürlich das Schauspiel mit deutscher Literatur leichter. Kaum gehe ich in einen anderen Kulturraum, bleibt mir fast nur noch die Musik, das Performative, der Körper über oder auch eine andere Sprache, die wiederum eine andere Klangfarbe aufwirft, mit dem ich auch meine Grenzen ins Darstellerische und Musikalische öffnen kann, um dadurch die Ausarbeitung, die Herausforderung gerade im Sprachlichen selbst zu überwinden und mich wieder ins Klangliche und Körperliche zu finden.
Das bedeutet, du beherrschst eine Menge Sprachen bzw. Sprachebenen und arbeitest das in Opernperformances beispielsweise aus, eine Wortneuschöpfung übrigens.
Weil Oper schon so ein abgeschlossenes, nicht mehr sehr formbares, sondern nur mehr wiederholbares Medium ist, soll gerade die Performance wieder mehr Freiheiten und kompositorische Improvisation zulassen. Es braucht zwar manche Eckpfeiler, aber die sollen mehr den Rahmen geben, um das Feld abzustecken, in dem man dann wieder experimentieren kann. Ein experimentelles Musiktheater. Gerade in der zeitgenössischen Komposition möchten wir uns mit gegenwärtigen Themen auseinandersetzen und mit zeitgenössischen Elementen arbeiten – da muss man die Form manchmal ein bisschen sprengen, sollte aber nicht vergessen, auf wessen Schultern wir stehen.
Wonach entscheidet sich dann, mit welchen künstlerischen Mitteln du arbeitest? Sind das eher die eigenen Grenzen oder konzeptuelle Entscheidungen?
Das entscheiden die Grundbedingungen, sie wirken ja als Voraussetzungen für das Entstehen eines Stückes. Man muss in der jetzigen Zeit sehr flexibel sein, aber es gibt dann letztlich doch eine wesentliche Entscheidungskraft, die limitiert bzw. fixiert. Mit dem Festzurren bestimmter Konditionen wird es dann erst möglich, sich auch tatsächlich an Hindernissen und Herausforderungen abzuarbeiten und nicht auszuweichen auf andere Sprachen, wie du es so schön nanntest. Diese Entscheidungskraft ist der rote Faden, an den man sich halten sollte, und von dem ich auch ungern aus bloßer Bequemlichkeit abweichen möchte. Nur so lassen sich Experimente anstellen, nur so kann man auch scheitern.
Spielen sich solche Entscheidungen eher in konzeptuellen oder in kompositorischen Feldern ab?
Das passiert eher formlos, also davor. Hab ich ein minimalistisches Gebot in der Komposition nicht eingehalten, muss ich streichen; ist mein Körper überfordert mit der Darstellung, die ich mir erwarte, muss ich trainieren, um die Darstellung dann dafür zu konstruieren. Die Entscheidungen über die Elemente, die getroffen worden sind, sollen dann möglichst gut ausgelotet werden. Ich arbeite beispielsweise gern mit dem „Haka“, einem Ausdruckstanz der Maoris in Neuseeland, der ihren Kampf- und Gemeinschaftsgeist beleben soll. Körper, Stimme und Energiefluss werden hier aktiviert. Während er auf Europäer eher aggressiv wirkt, bedeutet er für Maori den Ausdruck eines Wir-Gefühls. Da wandeln sich die Kräfte, das Innere wird nach Außen sichtbar. Diese Perspektive ist wichtig, wenn ich mich einmal für ein Element entschieden habe, und beeinflusst dann die Ausdrucksgestaltung.
Die Hybridisierung der verschiedenen Kultureigenschaften ist womöglich ein wesentlicher Schritt, um neue gesellschaftliche Modelle zu entwerfen.
Ja das empfinde ich auch. Im Moment bahne ich Kooperationen mit afrikanischen KollegInnen an, um beispielsweise uns bislang unbekannte Gottheiten aufzuspüren und somit ein bisschen die Geschichte anderer Kulturen zu thematisieren. Außer Atum und Isis, also den Ägyptischen Götter sind mir sonst nicht viele Gottheiten aus dem afrikanischen Kulturkreis bekannt … Ich finde es äußerst spannend, mit Bewusstsein einerseits ein gesellschaftliches Gefühl zu konstruieren, was in Tanz und Musik offenbar mehr als im Schauspiel vertreten ist, weil für mich die Sprache erst einmal wie eine Barriere wirkt.
Die gemeinsamen Nenner lassen sich wahrscheinlich in den Begriffen Mythologie, Mystik und …
… Ritual?
… finden, genau. Animismus wäre die archaische Struktur, die allen Mythen zugrunde läge. Es gibt ja unglaubliche Kongruenzen, die wiederum eine Weltgesellschaft definieren, also in ganz universellem Sinne Mensch werden lassen. Das ist die derzeit notwendige Auseinandersetzung, an der du arbeitest. Wir können die Namen und Sprachen anderer Kulturen lernen, aber wir verstehen sie nur, weil sie sich gleichen.
Das ist das unbewusste, kollektive, universelle Wissen. Das Kind hat noch keinen Namen, aber wir können es sehen und nehmen vorerst unsere europäischen Namen dafür. Da entstehen interessante Wechselwirkungen, die wir noch gar nicht fassen können. Einerseits lassen wir schon einen Individualismus zu, anderseits gibt es universelle Kongruenzen des Menschseins zum Beispiel bei Gefühlen.
Unsere Sprache reicht offenbar nicht aus, um dieses Unbewusste ans Licht zu holen. Das lässt uns an den zu eng gewordenen Begrifflichkeiten straucheln. Ist der künstlerische Ausdruck da sozusagen eloquenter?
Genau da liegt die Herausforderung einer Entscheidungskraft, sich aus bequemen Umständen herauszubewegen. John Cage war beispielsweise sicher ein Beweger, der zum Beispiel auch neue Notationen ausprobiert hat und dadurch ein Wegweiser der Neuen Musik war bzw. ist, aus dem genormten Notationssystem mal rauszudenken. Da war die grafische Notation gerade hinsichtlich der bildenden Kunst ein schöner Versuch, zu schauen, wie wir denn wirklich denken, wenn wir Musik hören und nicht nur sehen, was wir nachspielen sollen.
Ist aus diesem Gedanken Rage Cage entstanden?
Im Endeffekt ist es ein Fantasie-Streitgespäch mit John Cage. Ich hab in Wien studiert, wo so vieles auf 440 Hertz genormt ist, als Halbkurdin sind mir zum Beispiel Vierteltöne nicht fremd, die wir zwar als Notationsmöglichkeit kennen, aber ich kannte keine Kompositionen damit. Daher meine Auseinandersetzung mit dem Käfig, englisch: Cage in Auseinandersetzung zu John Cage mit der Frage: Bin ich jetzt der Panther von Rilke, der eingesperrt ist, rundherum schaut und einen dumpfen Laut äußert? Wie notiere ich diesen Ton, dass er – auch in anderen Kulturkreisen – gelesen und exakt so wiedergegeben werden kann, wie ich ihn dachte? Wieweit erlaube ich die Freiheit zur Interpretation oder setze die Einschränkung? Bei Cage sind die Vorgaben schon sehr direkt und erlauben doch gleichzeitig sehr viel Freiheit. Da hat mein Gehirn sehr viel zu tun. Musik auch so zu betrachten, war für mich ein riesiger Aha-Moment.
Vor Jahren hab ich für Triëdere „Aufstand des Klangs“ geschrieben – ein Versuch, akustische Signale, die in der ersten halben Stunde morgens nach dem Aufstehen von Mutter, Vater und Kind gesendet werden, in ihrer zeitlichen Abfolge bzw. Gleichzeitigkeit zu notieren. Diese Übersetzungsleistung fordert eine große Menge Energie …
Oh ja! Aktuell arbeite ich wieder mit einem gesangspädagogischen Ansatz aus dem 19. Jahrhundert, der sogenannten Vokalise für SängerInnen: A, E, I, O, U und frage mich, wie dann langgezogene Diphtonge in einer Notation gestaltet werden können, gerade wenn ich stimmperformative Konstrukte kreiere. Ein Stimmspiel, wobei es manchmal noch einer Sprache fehlt, derer man sich hier bedienen kann. Das ist Segen und Fluch in einem, weil es einerseits alles erlaubt, du dich aber auch alleingelassen fühlst.
Und jede Form, die gefunden wird, umfasst nie alles, ist nur eine Matrix. Ist also die Frage: Siehst du dich IN dem Käfig, in dem Rilkes Panther eingesperrt ist, oder siehst du dich in einem Bezugssystem, aus dem du gern austreten möchtest?
Wir können natürlich in alle Positionen hineinspringen und uns sogar mit deren Bestandteilen identifizieren. Das ist schon eine Herausforderung – meine vorhin erwähnte Entscheidungskraft – und von da aus noch eine, wie du gesagt hast, Matrix zu finden, ein für mich logisches System, und dann zu überprüfen, ob das ein Zweiter auch verstehen kann. Ich habe das Riesenglück mit Kolleg:innen beim Verein internationale Akademie der Künste Wien (iAKW) zusammenarbeiten zu können, die auch in diesem Forschungsfeld ‚Stimme, Klang, Körper, Bewegung‘ stehen und meinen „scharmienischen“ Ansätzen Feedback geben und mir Reflexionsmöglichkeiten anbieten.
Dadurch bist du ja weit entfernt von einer Deutungsnotwendigkeit, ob Komponistin oder Performerin oder Sängerin dich bezeichnen. Du willst dich ausdrücken und Begegnung erzeugen.
Ja genau! Wobei sich mein Ausdruck in der Kunstgattung Musik und darstellende Kunst wiederfindet. Mit der aktuellen Situation werden Themen wie Begegnung, Berührung, Nähe ja auch wahnsinnig wichtig. Das wird in Zukunft auch anderer Mechanismen bedürfen und unserer Gesellschaft einen anderen Ansatz abverlangen. Wir nehmen solche Wörter wie „Flüchtlingspolitik“, gebrauchen es schon sehr lang, doch das Thema dahinter ist ausgesprochen fragil – gibt es da also schon mehr als nur das Wort? Oder definiert dieses Wort auch den Ausdruck, den ich da verlange, die Vermittlung, die ich da gestalte? Das ist die Herausforderung gegenwartsbezogenen Kunstschaffens. Das ist Segen und Fluch zugleich, nämlich Freude, etwas empirisch untersuchen zu können, und Verzweiflung aus Unsicherheit, aus Nichts etwas gestalten zu müssen. Dafür braucht es Mut.
Was machst du, wenn dir der Mut abhanden kommt?
Dann sind Familie und Freunde zum Ausweinen ganz super. Nicht die Arbeit, sondern das Sein mal wieder in den Vordergrund zu rücken. Resilienz anzusetzen. Und natürlich mit Kolleg:innen zu kommunizieren, die das Gefühl auch kennen und es damit relativieren und einordnen zu lernen.
Bei deinem Chansonprogramm Amour fou bedienst du dich einer anderen Gattung – ist das reines Experimentieren oder besteht darin eine Absicht?
Eine aus dem Experimentieren entstandene Absicht. Am Anfang wollte ich mit diesem europäischen Musikgut arbeiten, das mehr das Spiel und das Geschichtenerzählen mit leicht verdaulicher Musik zulässt. Im Kurdischen wurde mit Liedern, sogenannten Dengbej, Informationen ausgetauscht, da in manchen Ländern ja die Sprache bzw. das Sprechen verboten ist. Die tolle Sängerin und meine Kollegin Sakina Teyna hat mir einen tieferen Einblick in die Bedeutung der kurdischen Lieder ermöglicht. Mich haben die Lieder inspiriert, bei denen weder die Musik, noch die Qualität der Stimme, sondern die Geschichte, der Informationsgehalt im Vordergrund stehen. Die obsessive Liebe selbst, das Festhalten an alten Glaubensmustern, das Festhalten an so vielen Ebenen, gerade jetzt in einer Zeit der Veränderung, die für uns alle schwer ist. Wollen wir wirklich unsere Freiheit einschränken lassen, gibt es da Widerstand? Das bearbeitet Amour fou thematisch. Hanns Eisler und Georg Kreisler, die Musik und Sprache verwendet haben, um die Arbeiterbewegung bei Eisler und bei Kreisler zynische Kritik in humoristische Lieder zu verpacken, haben mich motiviert, nach einer Frau zu fragen, die noch gern liebt, nach einem Menschen, der an die Freiheit noch glaubt oder noch Werte an die Demokratie bindet. Was ist, wenn Sexismus, Faschismus, Rassismus wieder zum Tagesthema werden? Geht mich das nichts an oder beziehe ich klar Stellung?
Und tu ich das dann in einem Chanson oder einer Installation?
Im Lied oder der Komposition selbst oder verfremdet in Videos oder Installationen? Bei Amour fou fing alles mit einem Konzert an, wo ich die Kompositionen im Dusk Dawn Club dem Publikum vorstellte. Danach wurde ich eingeladen, eine Installation für die Ausstellung MORTAGED TIME in der Red Gate Gallery in Peking zu gestalten. Ich war schon wieder in Wien und habe gesehen, dass im Volkstheater ein Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan stattfindet. Ich durfte die Lesung aufnehmen, legte Fragmente des Chanson im Hintergrund und setzte so den Rahmen für ein Klangtheater, dass sich von China bis nach Österreich streckt. Dann kamen weitere Herausforderungen: Ich wollte es weiterhin als freie Form bedienen, mit Lesungen, Installationen erweitern und mich bemühen, es zeitlos zu setzen. Andererseits sollte es nicht zu kommerziell sein, dass leicht Verdauliche nicht den Inhalt, das Gesagte überschreiben, der Chanson trotzdem noch erhalten bleiben.
Baust du dann Störsignale oder Brüche ein, um zu ein ‚Einlullen‘ zu vermeiden?
Auf der Bühne fällt es mir leichter, mit dem Publikum zu interagieren und da auch mit meiner Person für Aufmerksamkeit zu sorgen. Herausfordernder ist es für mich mit der Produktion eines Albums, an dem ich seit einem Jahr arbeite. Mit zu vielen Musikern braucht es einen einheitlicheren Rhythmus und es wird mir dann zu poppig, darum hab ich auch grad zurückgerudert in das ganz kleine Ensembleformat, wo Klarheit und Verzerrung im Fokus der Wechselwirkung stehen. Wir hatten schon aufgenommen und dann bin ich wieder zurück auf Null mit einer Menge Zeit, Kraft und Geld, die umsonst geflossen sind, weil das Konzept schon am Fundament falsch war. Falsche Entscheidungskraft, haha. Obwohl oder gerade weil es so eine freie Form des Liedschaffens ist, ist es ziemlich anspruchsvoll, geeignete/die richtigen Prämissen zu setzen, damit die Geschichte im Zentrum der Wahrnehmung bleibt. Ein sehr magerer Weihnachtsbaum wird mit viel Schmuck auch nicht schöner.
Es ist ein unglaublicher Kraftakt, einen solchen Neustart zu wagen. Aber man tut es, weil man sich bzw. dem erzielten Ergebnis treu bleiben muss.
Das war natürlich enttäuschend, andererseits auch sehr befreiend. Mit der Entscheidung, es ein paar Monate liegen zu lassen und dann noch einmal neu anzugehen, kristallisierten sich die Nuancen heraus, die bei diesem Programm wesentlich sind. Jetzt hat es sich um 180 Grad gedreht und ich fühl mich viel wohler beim Tun und versuche natürlich neu und möglichst wenig vorbelastet mit einem neuen, frischen Geist in die Aufnahmeproduktion zu gehen.
Das Besondere am künstlerischen Schaffen ist wohl, zwischen der Quelle des kreativen Schaffens und der eigenen privaten Person zu unterscheiden, die künstlerische Arbeit beginnt erst nach der Verarbeitung der eigenen Emotionen …
Ich hab mir dazu einmal überlegt, dass der Mensch Emotionen hat und ich als Mensch künstlerisch arbeite. Das erlaubt mir, die Privatperson Scharmien zwar beizubehalten, aber sich objektiver als Mensch zu setzen. Mit der Frage: „Was ist ein Mensch?“ hab ich dann direkt mich selbst zum Forschungsobjekt. Diese Art von Setzung geht dann weiter und macht es mir möglich, in viele Rollen zu schlüpfen und diese dann tatsächlich zu erproben und zu erfahren. Dafür schlüpft mein persönliches Ich in Deckung und kommt dann nach Feierabend wieder zum Vorschein. Es war ein Prozess über viele Jahre, zu begreifen, wieviel Emotion in mein künstlerisches Schaffen gehört und was dann noch wahr sein kann. Und es stimmt: Es bleibt immer eine Wechselwirkung zwischen privatem und künstlerischem Ich, wo die Grenzen verschwimmen. Das ist auch manchmal von Vorteil. Gerade in der performativen Kunst.
Die weiße Weste von Cadû – welche Idee lag ihr zugrunde?
Clemens Hackmack, Gitarrist von CADÛ und Triptonus und ein guter Freund, war bei mir zuhause und ich bombardierte ihn mit solchen Texten wie u.a. Die Weiße Weste. Ihm gefiel das Kritische hinter diesem Text. Wir kürzten es, holten Kolleg:innen aus der Szene hinzu, die den Klangteppich webten und schon beschlossen wir gemeinsam mit Max Mayer und Timothy Luger dieses Klangformat auf unser Debüt Album STEELSTREET zu setzen. Ein kurzes Klangtheater. Nicht gerade der klassische Umgang mit einem Rockalbum, aber wir sind auch keine Rockband im klassischen Sinne.
Schreibst du die Texte selbst?
Ja! Bei Dione ging es natürlich darum, selbst zu schreiben. Bei den Performances geht es dann um ein ständiges Interagieren zwischen Notation und Aufführung, wo der Dialog mit den PerformerInnen sehr wertvoll ist, weil ich eher monologhaft schreibe, bevor ich sie zu einem Dialog weiterforme. Grad im vierten Akt hab ich sehr viel mit Eszter Hollósi und Max Spielmann zusammengearbeitet. Beide spielen seit 2018 bei Dione als Schauspierler:innen mit und kennen das Stück und die Hintergrundgeschichte. Für AMOUR FOU schreib ich natürlich die Songtexte. Durch die Zusammenarbeit mit der Schauspielerin, Regisseurin und jahrelangen Freundin Sarah Scherer wurde noch mehr Literatur in die Show eingeflochten. Sie kam mit der genialen Idee, partizipatorisch zu arbeiten und setzte eine Ausschreibung an, wo Menschen aufgefordert wurden, ihre Liebes- und Hassbriefe an uns zu schicken, welche wir in die Show eingebunden haben und so ein Cross-Over zwischen Musik, Literatur und Theater entstand. Bei CADÛ arbeite ich intensiv mit Clemens zusammen. Wir sind ein tolles Team und ich bin dankbar, mit einem solchen Kollegen, der den ähnlichen, aber manchmal doch ganz anderen Mindfuck hat wie ich, zusammen arbeiten zu dürfen. Manche Texte entstehen gemeinsam, manches kommt von ihm, manches von mir und manches schnappen wir uns aus der Welt auf.
Du zeichnest dich auch für den Post-Wiener Aktionismus verantwortlich.
Der Post-Wiener Aktionismus kommt mir gerade jetzt wieder hoch, nachdem es vor zwei Jahren vielleicht eine lustige Nummer war, mit dem Wiener Aktionismus noch nicht genügend Provokation gesetzt zu haben, erscheint es mir im Jahre 2021 doch sehr wichtig. Der Wiener Aktionismus war meines Wissens das letzte Große, was in den letzten Jahrzehnten über die Grenzen geschwappt ist. Mittlerweile braucht man nur politische Eskapaden zu kopieren und hat schon eine Fortsetzung der österreichischen Provokation. Oder ist das schon Kabarett?
Ich hatte eigentlich gehofft, dass damit eine Karrikatur oder sarkastische Verzerrung gemeint ist, wenn jetzt eine Frau den Post-Wiener Aktionismus ausruft. Vielleicht auch, um mal noch was anderes über die Grenzen zu transportieren …
Es ist tatsächlich momentan ein Knackpunkt erreicht, man kann gut mit den Emotionen arbeiten und fühlt sich bei Pressemeldungen aller Art schon provoziert bzw. wütend. Und ich möchte ständig fragen: Was kommt danach? Stecken wir da noch da drin? Haben wir in über 50 Jahren noch nichts anderes? Oder gibt es da schon etwas anderes? Auch hier muss ich noch einmal zurück an den Anfang gehen und das Konzept prüfen. Man kann es ja eigentlich gar nicht ernst angehen …
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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