Sabine Groschup
Die Handschrift ist die Seele
Anlässlich ihrer großen Personale im Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim) lässt sich Sabine Groschups Œuvre verfolgen, das von Animationsfilmen, Fotografie und Malerei über Installationen, literarischem Schaffen und textiler Kunst reicht. Bezeichnend ist dabei ihr Vermögen, die verschiedenen Kunstformen miteinander ins Gespräch zu bringen. Poetisch eröffnet diese Begegnung neue Bedeutungsräume und bettet Tradition um.
Deine Lyrik der Taschentücher zeitigt eine lange Entwicklung. Begonnen 2013, gab es 2017 mit dem fertiggestellten ersten Zyklus 101 Taschentücher der Tränen eine Ausstellung im Literaturhaus Wien. In weiterer Folge entstanden die 213 Taschentücher der Liebe frei nach Ramon Llull sowie 19 Taschentücher der Krise zur Covid-19-Pandemie. Wie kam es zu den Covid-Taschentüchern?
Sie sind beschränkt auf eine Anzahl von 19, das steckt ja schon im Namen des Virus drinnen. Als er ausbrach, wurden wir mit Statistiken überschüttet, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Statistiken gelesen. Waren es anfangs nur ganz wenige Zahlen, nahmen sie aber überproportional zu und wurden begleitet von diversen Schlagworten, die immer wiederkehrten. Ein Jahr lang habe ich mitgeschrieben und diese Essenz dann verarbeitet. Man kam ja eigentlich nicht umhin, und ich mag Zahlen auch gern.
Der zweite Zyklus heißt Taschentuchgedichte, gewidmet. Das 100. Taschentuch der Tränen war aber auch schon Friederike Mayröcker gewidmet?
Bei den gewidmeten Taschentuchgedichten setze ich mich wirklich mit den Personen auseinander und versuche, auf die Person bezogen etwas zu schreiben. Derzeit befasse ich mich mit John Cage und Peter Weibel. Es sind Personen, die künstlerisch mein Leben begleiteten und Einfluss auf mein Kreatives Tun oder mein Denken ausübten. Oftmals lebten sie noch während meiner Zeit. Bei John Cage fällt es mir deshalb schwerer die passenden Worte zu finden, ihm bin ich ja nie begegnet.
In den Widmungen möchtest du der Person an sich begegnen, nicht abbilden, was dich von dieser Person künstlerisch begleitet hat?
Ich versuche herauszufinden, warum bestimmte Personen mich in bestimmten Situationen beeinflusst haben, aber auch die Essenz der jeweiligen Persönlichkeit einzufangen und abzubilden. Begonnen hat das Unterfangen mit Christel Fallenstein, einer guten Freundin von Friederike Mayröcker. Das Literaturhaus Wien hatte für sie eine Auktion initiiert, um sie bei der Finanzierung ihres Platzes in einer Pflegeinrichtung zu unterstützen. Verschiedene Künstlerinnen und Künstler waren eingeladen und bei mir führte die Auseinandersetzung mit Christel eben zu einem gestickten Gedicht, obwohl ich sie eigentlich kaum kannte – Marion Steinfellner kaufte es übrigens. Mir wurde dabei klar, dass ich diese Art der Suche nach der Essenz einer Persönlichkeit mit Personen weiterführen muss, die ich mit mir in Verbindung bringe. Folglich widmete ich Maria Lassnig das nächste Taschentuchgedicht und so erweitert sich die Liste sukzessive.
Dieser Zyklus ist also nicht abgeschlossen?
Im Gegenteil, er ist noch weit offen. Laurie Anderson und Maryanne Amacher kommen beispielsweise bereits darin vor. Gerade letztere ist eine Vorreiterin der Sound Art. Klangkunst war extrem von Männern dominiert, aber Amacher hat bereits in den 1960er-Jahren im Feld von Elektronischer Musik mit Wissenschaft und Forschung zusammen gearbeitet und total beeindruckende Installationen kreiert. R. Murray Schafer und Nam June Paik gehören zu den nächsten Aspiranten und noch einige andere. Ich muss mich beeilen, es wird soviel gestorben. Mit Ausnahme von Cage habe ich eigentlich alle noch kennengelernt.
Vielleicht auch eine innere Hommage an all die bewegenden Begegnungen in deinem Leben? Bei Nam June Paik und Maria Lassnig studiert zu haben, verpflichtet ja fast dazu.
Maria Lassnigs Name ist erst so groß geworden. Als ich bei ihr zu studieren begann, kannte sie niemand. Das Faszinierende an ihrer Person ist auch ihr später Ruhm, da sie ja zum Glück ein hohes Alter erreichte. Sie war zeitlebens ziemlich frustriert, bis sie 1984 ihre erste große Personale hatte – da war sie bereits 65 Jahre alt. Sie war zwar nie niemand, ist aber erst mit 80 richtig durchgestartet.
Was hast du von der Ausbildung bei ihr mitgenommen?
Man hat bei ihr Sehen gelernt. Jeden Tag Aktzeichnen und Malen. Die Ausbildung war eine großartige Meditation, täglich die Zeit zu haben, Personen zu studieren. Ich kann mir dadurch die Wahrnehmung eines Autisten vorstellen, dessen schnelle Überreizbarkeit. Durch die extreme Konzentration werden Lichtspiele, Schatten, so unglaublich viele Details wahrnehmbar, dass ich mich von Eindrücken überflutet zu fühlen begann. Gleichzeitig kommt eine Ruhe hinein, es war förmlich ein Knistern im Raum spürbar, durch die gewaltige Konzentration aller Anwesenden. Diese Schule des Sehens hat uns gelehrt, Dinge schneller und vor allem differenzierter wahrzunehmen. Beim vorangegangenen Architekturstudium war das Aktzeichnen lediglich ein Zeigen der Energie, der Kraft, die einem selbst und dem abgebildeten Körper innewohnt, in sehr kurzer Zeit. Bei Maria Lassnig bin ich in eine extreme Tiefe gelangt und konnte so meine Wahrnehmung schulen. Das tritt immer weniger zutage, überall fehlt die Zeit dafür. Die Studentinnen müssen heute viel eher schon netzwerken und produzieren.
Nimmt das Sehenlernen auch Einfluss auf die Gestaltung deiner Animationsfilme?
Wir haben damals noch analog gearbeitet und die Filme gezeichnet. Mit der digitalen Entwicklung ist das eine ziemliche Mischung geworden. Maria Lassnigs Filme hatten unglaublichen Tiefgang und Witz zugleich. Ihre Filme arbeiten sich an Themen ab, Couples ist beispielsweise ein sehr witziger Film über die Oberflächlichkeit, mit der Paare ihre Liebe bezeugen wollen. Mich reizt es auch sehr, bei Filmen thematisch vorzugehen.
Deine Filmproduktion bedient sich sehr vielfältiger Techniken …
Das stimmt, ich experimentiere sehr gern im großen Unterschied zu Maria Lassnig. Ihr Thema war die Liebe, in Malerei und Zeichnung. Sie konnte mit meinen Videoprojektionen oder -installationen überhaupt nichts anfangen. Für Trickfilme war sie allerdings sehr zugänglich, dort durfte man sich sehr frei entfalten und seiner eigenen Intuition folgen. Mir gefielen damals in den Anfängen des Animationsfilms jene von Walt Disney und Chuck Jones sehr. Ich wollte dieses Medium hernehmen und ganz anders damit umgehen. Das war eine sehr freudvolle Arbeit, völlig unbeeinflusst und sehr frei. Später gab es erste Festivals, womit der Austausch begann. Bei der Malerei hingegen war die Lassnig sehr streng.
Ging durch diese Freiheit der Selbstentfaltung und Selbstentdeckung dann dein künstlerischer Weg auch in diese Richtung?
Im Moment male ich tatsächlich wieder, nämlich ‚Geister-Portraits‘. Sie sind mir eine Zeit lang immer vor dem Einschlafen erschienen, was dann schon ein bisschen stressig geworden ist. Nun male ich sie, es sind mir unbekannte Gestalten, die sich vor meinem inneren Auge entwickelten, und nehme damit an der Ausstellung Kopflos sind wir alle in der Galerie Frewein-Kazakbaev in Wien teil. Auch meine Arbeit Das letzte Hemd hat keine Taschen werde ich da zeigen, eine Art Kapuzinerhemd, aus unreiner Baumwolle genäht. Hier behandle ich die Gier im Menschen, wenn er glaubt, er könne seinen Besitz bis in den Tod mitnehmen.
Kommt da die Archäologin in dir durch?
Ich habe tatsächlich damals, 1978 Archäologie und Ur- und Frühgeschichte studiert, nachdem ich mit Ethnologie begonnen hatte. Das bedeutete in Tirol aber Volkskunde, die mir, solange ich in Tirol lebte und studierte, zu klein und beengt erschien. Ich hatte es mir viel romantischer vorgestellt, träumte davon, Dinge zu entdecken. Der Besuch bei einem Freund im Archäologischen Museum in Bregenz heilte mich vollständig: er saß in einem dunklen Schlauch und zeichnete den Auf-, Grund- und Schrägriss von Scherben. Später in Wien habe ich mein Interesse an Ethnologie an der Universität Wien immer mal wieder genährt, beispielsweise zu Musikinstrumenten der Aborigines.
Aber auch deine langjährige Tätigkeit im Technischen Museum Wien lässt eine Affinität dahin vermuten …
Da ging es natürlich auch ums Archivieren, Konservieren und Reinigen der Exponate. Aber das war einfach ein „Brotjob“ für mich.
Noch einmal zurück zu den Taschentuchgedichten. Entstehen sie direkt für die Taschentücher der jeweiligen Zyklen?
Ja. Nur bei den Liebestaschentüchern habe ich mich an der Zufallsmaschine des Ramon Llull orientiert. Seine Philosophie begegnete mir in einer Ausstellung im ZKM in Karlsruhe 2014, an der ich teilnahm. Seine Lebenseinstellung behagte mir sehr: Erst war er Troubadour und schrieb Liebesgedichte. Dann verfasste er sein Buch der Liebeslyrik, worin er sich schon zur göttlichen Liebe hinwendet. Ich adaptierte diesen Gedanken insofern, als dass ich mithilfe seiner Kombinatorik Liebesgedichte auf einzelne emotionale Begriffe verfassen wollte. Ich vereinfachte allerdings die Begriffe seiner Maschine, sodass ich auf eine Anzahl von 729 Kombinationsmöglichkeiten kam. Die Grammatik der mittelalterlichen Poeten hat mich sehr inspiriert und im Laufe der Jahre haben sich auch tagesaktuelle Gefühle wie Krieg und Trennung mit hineingewoben. Auch Schmerz war ein Begriff. Ich musste aufpassen, nicht zu deprimierend zu dichten.
Eine zwinkernde Hintertür lässt du in deinen Arbeiten oft offen …
Bei den Taschentüchern der Tränen gibt es weniger Auswege. Es ging ja auch um die Geschichten, die die Tränen erzählen können. Da gibt es natürlich Tränen des Verlustes, des Schmerzes, des Hungers, des Todes – ganz verschiedene Tränenqualitäten. Auch die unterschiedlichen Arten von Trauer wurden mir bei diesen Arbeiten bewusst. Beeindruckenderweise spricht das dann auch eher schwermütige Gemüter an.
Dich treiben die Schattierungen der Gefühlswelt um, aber die Liebe scheint ein zentraler Begriff zu sein: in deinen Filmen, der Taschentuchlyrik, aber auch in deinen Romanen, trotz dem es Kriminal- und Historienromane sind. Die Verstrickungen unter den Menschen haben mit den vielen Gesichtern von Liebe zu tun. Auch der Film Lieb Dich erzählt davon.
Das ist mein jüngster Film, von dem es auch eine Version ohne den Realfilmteil mit dem Schauspieler Markus Meyer gibt: I‘ll Always. Meine Nichte Laura Pegoraro hatte einen wunderschönen Lovesong geschrieben, den ich für I’ll Always verwenden durfte, Martin Lauterer machte dann die Filmmusik daraus. I’ll Always wurde in der Kategorie Musikvideo weltweit gezeigt, unter anderem in Australien und Japan.
Auf Briefkuverts waren die Einzelbilder des Animationsfilmes gezeichnet. Das erinnert einerseits an den traditionellen Liebesbrief, aber auch an das Verschwinden von Gefühlsausdruck, vielleicht sogar Gefühlstiefe.
Das Schreiben von Briefen ist ja kaum noch gegenwärtige Praxis. Kurzmitteilungen wie SMS werden sogar noch bewusst verkürzt, weil sich keine Zeit zum Schreiben und Formulieren mehr genommen wird. Ich fände es sehr schade, würde das Briefeschreiben komplett verloren gehen. Der Versuch, seine Gefühle schriftlich auszudrücken, ist doch etwas wahnsinnig Schönes. Gary Hill, der berühmte Videokünstler, hat seine Partnerin gewonnen, indem er ihr Liebesbriefe geschrieben hat. Sie war total beeindruckt von dem „Mann mit den schönen Worten“. Natürlich ist das eine romantische Vorstellung, aber sie hat doch eine wahnsinnige Qualität, erst recht, wenn doch eh auf Rilke und Hesse ‚abgefahren‘ wird.
Als wäre die Romantik ein zu behauptender Bestandteil des Menschlichen …
Es gibt immer wieder Künstlerinnen und Literatinnen, die darauf zurückgreifen. Ich frage mich auch, ab wann sich meine Arbeiten an der Grenze zum Kitsch bewegen. Aber was kann mir denn passieren? Ich bin mittlerweile alt genug, damit umgehen zu können, und hab keine Sorge mehr, irgendwo schlecht anzukommen.
Wie kamst du denn zur Literatur?
Ich bin eine Quereinsteigerin, komme nicht vom literarischen Fach. Es hat mir allerdings immer schon wahnsinnigen Spaß gemacht, zu schreiben. Kurztexte auf dem Weg zur Ausstellung, um sie damit zu eröffnen, beispielsweise. Kleine Geschichtchen, wie Mini-Drehbücher oder Sketches, Unterhaltsames. Als Jugendliche habe ich in Gedanken jede Menge Brandbriefe verfasst, das belegt wahrscheinlich vor allem mein Interesse an Sprache und dem, was man mit Sprache ausdrücken kann. Viele sagen mir bei Vernissagen und Künstlergesprächen, sie würden ja auch so gern malen oder schreiben. Aber man muss es tun, auch wenn nur für sich selbst. Manche suchen auch nach einem Ansatz, aber genau da hilft ja ein wenig Melodramatik. Oder man sucht sich drei starke Begriffe und beginnt, in denen zu schreiben.
Hast du einen Eindruck, welches Medium sich wofür eignet?
Die Idee bestimmt das Medium, der Inhalt dieser Idee. Die Taschentücher zum Beispiel schlummern ja schon lange in mir. Georg Weckwerth, mein Mann, verwendet welche, deren Aussehen ist teilweise wie Kunstpapier oder Seiten von Schreibheften. Ich habe schon lange überlegt, wie man diese beschreiben könnte. Ursprünglich dachte ich zwar an Malen, aber als ich dann von jungen Mädchen in Portugal oder Spanien hörte, die noch immer Liebesbotschaften in Taschentücher sticken, war mir klar, dass ich Sticken werde. Und zwar mit der Hand, die eigene Handschrift birgt die Qualität und den Zeitfaktor, ein ganz logischer Schritt. Das ist mir beim Film auch aufgefallen. Maschinelle Arbeitsweisen drücken etwas anderes aus, sind aber beispielsweise notwendig bei Vervielfältigungen. Nicht umsonst wird momentan sehr viel auf Kurrentschriften zur Gestaltung zurückgegriffen. Vielleicht passiert das, wenn etwas verlorengeht: Es wird Halt in längst Vergangenem gesucht.
Von Nicolas Mahler habe ich einen Cartoon von Hand animiert, Flaschko – Der Mann in der Heizdecke, der dadurch eine unglaublich starke Seele bekommen hat. Der Arbeitsaufwand war so immens, dass Nicolas bei weiteren Filmen dann doch den Computer verwendet hat, der anhand einer Phase alle anderen Bilder errechnet – der Unterschied lässt sich nicht übertünchen. Die Handschrift ist die Seele. Dasselbe gilt auch für’s Nähen.
Kann es sein, dass das auch den Wert eines Ausstellungsbesuchs ausmacht? Als beispielsweise außerordentlich vielschichtig gestaltete Stoffkutten deines Zyklus Sweet Lady of Darkness in der Galerie Stock in Wien in einem Kontext von Nebelfotografien und Bergzeichnungen und Gegenständen alpiner Rituale hingen, empfand ich das fast schon als ein Eindringen in intimste Sphären deines Denkens. War es dir jemals zu viel, Persönliches von dir so innig herzuzeigen?
Wenn ich an einer Arbeit sitze, beziehe ich den Betrachter doch mit ein. Ich lasse daher auch einen weiten Interpretationsrahmen, um möglichst vielen eine Auseinandersetzung mit meinen Werken zu ermöglichen. Mein Textilobjekt Das letzte Hemd hat keine Taschen betrifft zum Beispiel jeden. Der Tod betrifft jeden. Für mich ist das Interessante daran der Dialog, weniger irgendeine Eitelkeit oder exibitionistische Avancen. Das Thema scheint in Venedig offenbar gerade en vogue zu sein, aber meinen Film Ghosts – Nachrichten von Wem habe ich bereits 1999 gemacht. Menschen kamen nach Präsentationen zu mir und erzählten mir die ärgsten Geschichten. Ich musste jedesmal passen und sagen, dass ich weder Expertin noch Therapeutin sei. Ich umkreise die Themen und arbeite damit, weil ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Deshalb befragte ich in Vorbereitung auf den Film über 30 Personen, was ihnen zu Geistern in den Sinn kommt, und ich habe unfassbare, skurrile, total interessante Geschichten erzählt bekommen, die persönlich nie besprochen werden. Mit einer vorgefertigten Meinung könnte ich damit gar nicht umgehen. Diese Form von Dialog, die mich einerseits zu meinen Werken bringt, und zu denen andererseits meine Werke einladen, ist mir ein Anliegen. Mir werden dann oft Interpretationen offenbart, an die ich nicht im Geringsten gedacht hatte, und dafür bin ich sehr dankbar.
Und deine künstlerische Arbeit ist deine Art, dich mit gegenwärtigen Themen auseinanderzusetzen.
Ich kann die fixe Meinung vieler Menschen nicht verstehen, Meinungen lassen sich ja nicht beweisen. Wie mein Ex-Schwager Walter Groschup einmal sagte: ‚Es ist doch irre, was für eine komplizierte Menschheitsgeschichte sich die Katholiken ausgedacht haben, von der unbefleckten Empfängnis von Mutter Maria bis zur Himmelfahrt.‘ Schon als Kind hatte ich Schwierigkeiten, das zu glauben. Als ich in der Schule zu Himmelfahrt ein Bild zeichnen sollte, entstanden bei mir ein Hügel auf dem Papier und oben am Rand hingen zwei Füße. Die Vehemenz, mit der solche Glaubensfragen verteidigt werden, will mir einfach nicht einleuchten. Auch im Koran stehen zauberhafte Dinge, aber glauben kann ich sie nicht. Im Gegenteil: beim Hinterfragen entstehen Ideen.
So ist eine Form von Geisterbildern entstanden. In extreme fotografische Selbstporträts habe ich eine Präsenz eingestickt, die langsam in das Bild hineinwandert. Es ist ein Dialog zwischen mir und einer weiteren Präsenz im Raum, denn oft habe ich das Gefühl, es ist jemand anwesend. In diesen Bildern wirkte das Selbstporträt erschreckender als das Gespenst. Die nicht greifbare Präsenz erschien eher wie ein Schutzgeist, die Qualität von vermeintlich Realem und Surrealem wurde austauschbar.
In Zyklus Videoletters to Bibi begegnen sich deine Arbeitsfelder Film und Literatur.
Die Künstlerin Cecilia Traslaviña hatte mich zu ihrem Projekt Videoletters Bogota Vienna eingeladen. Mittels der ‚Videoletters‘ begann ein Austausch zwischen einander unbekannten Personen. Bibiane Rojas, die ich zugeteilt bekam, passte aber wunderbar zu mir, wir haben uns unglaublich schön durch Bewegtbilder unterhalten können. Wir haben beeindruckend poetisch kommuniziert und über ein ganzes Jahr einen sehr spannenden Dialog in der Zeit der Coronakrise geführt, in der eine reale Begegnung über Kontinentalgrenzen hinweg gar nicht möglich gewesen wäre.
Dein Vermögen, dir Zeit zum Versenken zu gewähren, findet zugleich oft (s)einen Ausdruck von Zeitlichkeit in deinen Werken. Das findet durchaus Entsprechung in deinem literarischen Schaffen: in einer gedehnten Sprache graviert sich ein Zeitbewusstsein ein. Und sie ist teilweise derart plastisch, dass ein bildnerischer Zugang erkennbar zu sein scheint.
Der Musikkurator Matthias Osterwold sprach von seiner Faszination, in Sprache, Bildern und Denken reisen zu können. Ich kann von einem Moment zum anderen im Kopf den Ort wechseln und mich in eine erdachte oder erinnerte Situation bringen. Meine Erinnerung ist dabei fotografisch genau und sehr lebendig, Atmosphäre und Akustik dieser Räume sind mir sofort gegenwärtig. So tauche ich auch in Begriffe ein und versuche Bilder darin zu finden. Habe ich sie gefunden, ist es dann ein Leichtes, sie umzusetzen. Ich liebe Reisen dieser Art, das Abtauchen in andere Welten und kann Heinrich Böll gut verstehen, wenn er mitten im Satz oder im Wort aufhört zu schreiben – das garantiert den Anschluss.
Wie bist du an die Buchthemen gekommen? Wieso Kriminalgeschichten?
Ich folge da einer ganz logischen Entwicklung: Erst waren da Kurztexte und Drehbücher, auch Gedichte, aber ich habe nicht zur Zeit gepasst, der damalige Schreibduktus war sehr reduziert. Südamerikanische Literatur wie die von Mario Vargas Llosa sagte mir sehr zu, auch wenn sie natürlich mit einer ganz anderen Bedeutungsschwere beladen ist. Auch der Humor und die Tiefe John Irvings beeindruckten mich. Meine frühe Lyrik wurde oft als unmodern bezeichnet, deshalb ließ ich erstmal wieder davon ab. Da Drehbücher eine notwendige Voraussetzung für Filmförderungen sind, habe ich in meiner Zeit in Berlin ab 1995 viele davon geschrieben. Eines ähnelte einem Krimi und ich wurde gefragt, warum ich es nicht als Buch schriebe … Nun, das Schreiben hat mir immer Spaß gemacht und ich war blauäugig genug, zu glauben, die Welt würde ein Interesse daran haben. Würde man anders denken, käme es wahrscheinlich gar nicht zum Schreiben.
Dieses innere Reisen scheint ein Jungbrunnen zu sein …
Vielleicht ist es eher meine Freude am Schreiben. Viele schreiben aus selbsttherapeutischen Gründen, wie jüngst in meinem Workshop in Kroatien auf Basis des Films Selfportrait von Maria Lassnig erlebt. Maria Lassnig hat unheimlich ehrlich mit sich selbst und ihrem Leben gehadert. Ein mir wahnsinnig wichtiges Anliegen: Setz dich ehrlich mit dir selbst auseinander. Wir haben soviele Selfies wie noch zu keiner Zeit, sind aber selten in Kenntnis unseres Selbst. Am Schlimmsten ist’s, dass man mit diesem Nichts auch noch Geld machen kann.
Auch du machst Selfies von dir in immer anderen Kontexten. 2018 gab es Two Sophisticated Austrian Artists in Self-Portraits mit dir und Paul Albert Leitner in der Galerie Lisi Hämmerle in Bregenz und an weiteren Stationen …
Selbstporträt war das Thema von Maria Lassnig. Und als ihre Schülerin fand das Porträtmalen täglich statt. Sich immer und immer wieder selbst zu zeichnen, bedeutet, sich keiner Illusion über sich selbst mehr hingeben zu können. Ich habe mein Abbild gern mit Humor gesehen, was mich mit Albert Leitner zusammenführte. Aus Maria Lassnigs proklamierter ‚Body Awareness‘ wurde bei mir ‚Self Awareness‘, die sich ganz und gar nicht schwer üben lässt, so oft wir spiegelnden Oberflächen im öffentlichen Raum begegnen. Diese Bewusstwerdung beinhaltet auch, sich klar darüber zu werden, wie sehr öffentliche Bilder ein fragliches Ideal sind, das der natürlichen Idee von Vielfalt auch äußerer Erscheinungen fundamental widerspricht. Eine Selbstwerdung erscheint mir heute noch schwerer möglich als je. Um dem eigenen Ich begegnen zu können, bräuchte es weniger Medien- und Meinungsflut. In einer ungeheuren Geschwindigkeit ist man gezwungen, Stellung zu beziehen und diese dann auch zu verteidigen zu Themen, die tatsächlich oftmals sehr banale oder aber private sind – man sollte die Leut’ wieder etwas mehr in Ruhe lassen.
Kürzlich war ein Zyklus mit Self-Awareness-Arbeiten im Projektraum der Künstlerin Ona B in Wien zu sehen, wo du mit Selfies deren Selbstausdruckscharakter befragst. Du beteiligst dich mit deinen Werken an der Wiederverzauberung der Welt, so der Titel der Fotoausstellung, und beschreibst zugleich deren massive Verwundung …
1989 entstand mein Film Guten Morgen Madam Mona, er wurde im März im Künstlerhaus Klagenfurt wieder einmal gezeigt und läuft aktuell in einer Ausstellung im Künstlerhaus Wien und auch in meiner Einzelausstellung im Museum tim in Augsburg. Damals habe ich ein Jahr lang beobachtet, welche Katastrophen in der Welt passieren: Die Exxson Valdez, der amerikanische Öltanker, hatte gerade vor Alaska eine Ölpest ausgelöst und in China war auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Demonstration von Studierenden mit Panzern niedergemäht worden. Ich habe das alles in diesem kurzen Film zusammengefasst und zum Schluss des Films „ENDE … OHNE ENDE“ geschrieben, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Es ist eine Katastrophe, dass sich genau nichts geändert hat. Meine Vorstellung war damals, dass es ein Aufwachen gibt und Aktivitäten stattfinden würden. Aber das war eine Illusion. Guten Morgen Madam Mona ist heute relevanter als damals. Ich könnte heulen, dass ich heute genau den gleichen Film nochmals machen müsste.
Ich bin ein Klangarbeiter
Wojtek Blecharz ergründet das Zusammenspiel von Zeit und Raum und verbindet dabei virtuos und zwanglos benachbarte Felder wie Klangskulptur, Performance, Klanginstallation und Konzert. In seinen komplexen musiktheatralen Werken verarbeitet der Komponist Spezifika von Aufführungsorten, [...]
Ich muss nicht jedem gefallen
Morgana Petriks Handeln steht fundamental auf den zwei Beinen Selbstermächtigung und Selbstverständnis. Als langjährige Vorsitzende der ÖGZM hat sich die Komponistin in die Geschichte der österreichischen Gegenwartsmusik eingeschrieben, der Verein feiert heuer sein 75. [...]
Die Leitlinie ist immer, Win-Win-Situationen zu kreieren
Nadja Kayali besticht mit immerwährender Präsenz, ihrer Menschlichkeit und einem scheinbar unerschöpflichen profundem Wissen im musikalischen Kosmos des Abendlandes und darüber hinaus. Die bekannte Radiomoderatorin trat 2020 die Intendanz für das Osterfestival Imago Dei [...]