Toteis
Das Irre ist die Flüchtigkeit
Die Oper Toteis ist eine gemeinsame Kreation der Komponistin Manuela Kerer und des Theaterautors Martin Plattner. Sie ist entstanden durch das Verschmelzen zweier kreativer Prozesse – eine Art des Zusammenwirkens und Zusammenarbeitens, die die Menschheit erst noch lernen muss. Zur Grundlage hat diese Art der Zusammenarbeit innere Größe und das Vertrauen, alles sagen zu können, was allgegenwärtiger Skepsis und grundlegendem Misstrauen entgegensteht. Entstanden ist eine Danksagung an das Leben wider alle menschlichen Abgründe.
Geplant war die Uraufführung von Toteis für März 2020. Coronabedingt musste sie abgesagt werden. Das Stück findet nun voraussichtlich nächstes Frühjahr seine Uraufführung in Bozen. Hofft ihr, dass es dann keine Corona-Anpassungen erfahren muss? Ist denn die kammermusikalische Voraufführung im September in Wien eine solche?
Manuela Kerer: Im Grunde war immer eine kleinere Version für Wien geplant, bedingt durch das kleinere Theater und das kleinere Orchester. Das Haus würde es auch nicht tragen, dort das volle Sinfonieorchester zu verwenden. Wobei ich auch korrigieren muss: Es ist nicht wirklich eine kammermusikalische Version, sondern tatsächlich ein Kammerorchester. In Wien findet also die Uraufführung der kleineren Fassung im September und in Bozen die Uraufführung der großen Fassung im März statt.
Wie kam eure Zusammenarbeit zustande? Woher kam die Idee?
Martin Plattner: Matthias Lošek von der Stiftung Haydn von Bozen und Trient ist an Manuela und an mich gleichzeitig mit der Idee herangetreten, eine Oper zu machen. Sie sollte in den Alpen spielen. Matthias Lošek schlug uns die Figur der Viktoria Savs vor. Damals kannte ich nur einen Aufsatz über diese doch sehr unheimliche und gespenstische Frau und staunte über den Mut, sich so einer Biografie annehmen zu wollen. Der Stoff hat mich relativ schnell gereizt, weil ich in meiner Arbeit nie nach Sympathiewerten entscheide. Manchmal sind gerade die sehr sperrigen und in dem Fall höchst problematischen Figuren und Biografien sehr spannend.
Manuela Kerer: Unabhängig davon haben die Stiftung Haydn von Bozen und Trient, die Vereinigten Bühnen Bozen und die Neue Oper Wien als Kooperationspartner auch mich angesprochen und da ein großartiges Gespür bewiesen, dass wir gut zusammenpassen. Wir haben uns schon beim ersten Teamtreffen mit Matthias Lošek, Irene Girkinger und den Dramaturgen gut verstanden und gemeinsam lachen können. Das ist meiner Meinung nach eine sehr gute Basis für eine Zusammenarbeit. Im Grunde genommen standen wir von diesem Tag eins an in einem regen Austausch, haben sehr viel diskutiert und uns aber auch Phasen des Allein-Arbeitens zugestanden.
Martin Plattner: Es ist mir in meiner achtzehnjährigen Laufbahn noch nie passiert, dass ich auf Anhieb mit jemandem so offen und auch so überraschend gut reden konnte.
War dir, Martin, diese Art des Zusammenarbeitens schon vertraut?
Martin Plattner: Für Sprechtheater habe ich bereits einiges an Auftragswerken bewerkstelligt, aber Oper bzw. Musiktheater ist ganz anders strukturiert und wesentlich komplexer aufgebaut, sodass viel mehr Instanzen bzw. Teilbereiche mitgedacht werden müssen. Auch die Teams hatten anfänglich eine unüberschaubare Größe für mich. Meine einzige Vorerfahrung waren Couplet-Texte, die ich vor Jahren für eine Nestroy-Produktion in Niederösterreich geschrieben hatte. Tatsächlich ist Toteis mein erstes Libretto.
Manuela Kerer: Normalerweise gibt es ja erst das Libretto und dann wird die Musik geschrieben. Aber wir waren in andauerndem Austausch und ich hatte zu Martins Entwürfen gleich Ideen und Vorstellungen. Der erste Plot von Martin war schon so gewaltig – das hat mich umgehauen. Zudem war Martin auch so aufsaugfähig, wie ich es mir gewünscht habe. Das ist auch gar nicht so selbstverständlich, denn häufig verteidigt jeder sozusagen nur „seine“ Kunst. Aber Martin war vollkommen offen. Und wir waren uns auch erstaunlich oft einig, sodass wir auch die anderen der Gruppe von einzelnen Aspekten überzeugen konnten. Zwar hat es die Musik dann erst einen Schritt später gegeben, aber während des Prozesses gab es bereits viele Sachen, die musikalisch sehr klar waren. Wie zum Beispiel in einer Szene, in der ein Ensemble von Sängern die Rolle des Orchesters übernimmt. Wir konnten uns schlüssig den Ball zuwerfen, wenn Martin und ich die Szenen dergestalt vice versa ausarbeiteten. So fließend Hand in Hand zu arbeiten habe ich noch nie erlebt. Folglich hat sich alles ganz stimmig ergeben.
Wie geht man an so einen wuchtigen Stoff heran?
Martin Plattner: Es war mir eine riesige Hilfe, jemanden zu haben, dem ich vertrauen und dem ich auch Hirngespinste mitteilen konnte. Für mich war der magische Moment ein Musikstück von Manuela in Wien, zu dessen Aufführung sie mich ins Konzerthaus eingeladen hatte, etwa zwei bis drei Monate, nachdem man uns „zusammengespannt“ hatte. Dieses Live-Erlebnis ihrer Musik, den Instrumentalistinnen und Instrumentalisten beim Spielen zusehen und zuhören zu können, Manuelas Sound im Körper zu spüren, hat bei mir einen Schalter umgelegt und mir das Schreiben des Stücks möglich gemacht.
Welches Stück war das?
Manuela Kerer: Oscillare, aufgeführt vom Klangforum Wien. Mit zwei besonderen chinesischen Instrumenten. Dieses Stück war auch deswegen eine gute Wahl, weil da „fremde“ Klänge eine Rolle spielen. Bei Toteis kommen Alpenländisches und die Zither zum konventionellen „bekannten“ Orchester hinzu.
Wie hast du aus dieser Biografie dein Libretto entwickelt, Martin?
Martin Plattner: Ich habe in dieser Biografie nach einem neuralgischen Punkt gesucht, da ich wusste, dass ihre Geschichte im Ganzen in keiner Weise erzählbar ist. Diese Frau hat so ein absurdes und zudem auch langes Leben geführt, dass ein Bio-Pic von der Kindheit bis zur Bahre ziemlich unmöglich und von meiner Seite aus auch nicht wünschenswert gewesen wäre. Ich musste einen Punkt finden, an dem ich bestimmte prägende Ereignisse aus ihrem Leben zusammenlaufen lassen und Situationen aus ihrem monströsen Leben schlüssig und kompakt in ein Setting binden konnte. Ich überlegte mir ein Veteranentreffen, an dem sie als bereits ältere Frau, die beide Weltkriege hinter sich hat, teilnimmt. Sie glaubt, man ließe sie dort hochleben. In Wahrheit bringen ihr diese Männer aus unglaublich brutalen Männerbünden vor allem Verachtung – Frauenverachtung – entgegen. Im Laufe dieses Veteranentreffens beginnt in ihr alles zu kippen. Sie kehrt an den Schauplatz zurück, an dem sie als achtzehnjährige Soldatin ihr Bein verlor und schwelgt anfänglich noch in verklärender Stimmung. Je mehr Alkohol an diesem Abend fließt, desto fataler entwickelt sich die Situation. Im Laufe der Nacht betrinken sich die Veteranen mehr und mehr. Und plötzlich brechen all diese Homophobie und der Sexismus aus den Figuren heraus. Es entpuppt sich als eine ziemliche Horrornacht für Viktoria. In diesem Setting von nachmittags bis fünf Uhr in der Früh sind circa fünfzehn Stunden zusammengezogen, in denen die „Gespenster“, also Ereignisse aus ihrer Vergangenheit, aber auch Traumsequenzen auftreten, wenn sie zum Beispiel ihrem Vater begegnet, der mit ihr an der Front gekämpft hat.
Da Sympathie für Viktoria Savs offenkundig nicht der Grund für die Bearbeitung ihrer Biografie war, welcher war es dann? Warum wird dieses Thema ausgerechnet jetzt bearbeitet?
Martin Plattner: Das Erstarken der Rechten und insbesondere dieser seltsame Nationalismus, der in letzter Zeit verstärkt wieder aufflammt. Und: Viktoria Savs’ Geschichte hat etwas wirklich Gespenstisches, sie hat mich immer wieder an Schauerliteratur erinnert, in der es ja auch oft grausame Protagonistinnen und Protagonisten gibt, die völlig verblendet in sich selbst gefangen bleiben und keinerlei Läuterung erfahren. Manchmal kehren sie nach ihrem Tod sogar als Untote wieder und finden immer noch nicht aus ihren Konflikten, Irrungen heraus. Da sehe ich leider Parallelen zur Gegenwart. Wir haben uns alle vor ein paar Jahren noch nicht vorstellen können, welche dumpfen, grausamen und unfassbaren Ideen kursieren, die viele von uns für tot gehalten haben, die aber offenbar doch untot sind – in immer grausameren Verkleidungen und Maskeraden. Allerdings war Manuela und mir sehr schnell klar, dass wir keine Oper mit erhobenem Zeigefinger machen und auch nicht die Moralkeule schwingen wollen, sondern dem Publikum genügend Abstraktionsgabe zutrauen und zumuten. Ich traue dem Publikum immer alles zu.
Hast du dafür eine direkte Übersetzung ins Musikalische, Manuela? Das Wiedererkennen bzw. Wiederaufleben von Strömungen und Haltungen durch gewisse Auslöser hat auch ein gewisses psychologisches Moment.
Manuela Kerer: Es gibt viele Momente, wo ich direkt übertragen kann. Ich arbeite sehr gern mit Klangfarben und habe diese sehr intensiv eingesetzt. Zum Beispiel die Luft der Bläser: Wenn Viktoria Savs sehr plakativ nur von ihren Heldentaten spricht, dann passiert im Orchestergraben sehr viel, aber es ist eigentlich nur heiße Luft. Das gefiel mir sehr gut und das kann auch sehr gut Ausdruck im Sprachlichen finden. Aber es gibt hier auch ein Dilemma: Ich finde diese heiße Luft von den Bläsern unglaublich schön. Und das wollte ich der Viktoria eigentlich gar nicht so geben. Aber wir haben uns beide geeinigt, dass es so sein muss, weil man diese braune Soße leider nicht einfach in eine Schublade stecken kann. Sie lebt ja überall. Und kommt gerade wieder immer mehr heraus. Und wir schaffen es ja eben gerade nicht, sie irgendwohin zu stecken. Und da ist es doch ganz wichtig zu zeigen, dass sie auch durchaus ästhetisch daherkommen kann. Genauso verhält es sich mit dem Kratzen der Streicher. Es sollte im ersten Moment wehtun in den Ohren, aber eigentlich ist es für mich und in der zeitgenössischen Musik ein schöner Klang. Also stellte sich wieder die Frage: Wo setze ich das ein? Auf der anderen Seite ist es ja auch das Schöne an so einem großen Sinfonieorchester, dass 45 Stimmen sozusagen zwischen den Zeilen spielen können. Deswegen gibt es auch ganz minimalistische Momente, wo praktisch jede und jeder im Orchester eine eigene Stimme spielt. Ich bin auch draufgekommen, dass im Grunde in jeder Figur etwas von Viktoria vorhanden ist, sie ist in jeder Figur! Genauso schwingt im Orchester alles irgendwie immer mit. Und ich habe zum Beispiel beim Zitieren von Volksweisen oft mit mir gerungen, ob und wieso ich der rechten Gesinnung jetzt diese Musik geben soll, sie haben sie ja schon missbraucht. Aber ich komme ja selber von der Tiroler Volksmusik und liebe sie, ganz im Unterschied zur volkstümlichen Musik. Trotzdem habe ich ihnen etwas Schönes geschrieben, auch einen Schuhplattler. Es ist Fakt, dass diese Musik nach wie vor benutzt und missbraucht wird, obwohl es die Musik gar nicht will. Ich singe als Mama fast täglich Maikäfer flieg und bin entsetzt über den Inhalt. Wieso singen da alle: „Pommerland ist abgebrannt“? Das Lied ist ja schon sehr alt, wurde aber im Ersten Weltkrieg vor allem gesungen, als Kinder Maikäfer einsammelten und wie eine Währung behandelten, weil das Vieh damit gefüttert wurde. Für mich ist dieses Lied der Inbegriff von etwas total Beruhigendem, mit dem die Kinder einschlafen, doch derweil brodelt es im Text dermaßen, auch eben die Zeit um den Ersten Weltkrieg. Schon deshalb musste ich dieses Lied, wenn auch ganz subtil, verarbeiten. Auch mit einem langsamen Jodler von meinem Urgroßvater, der Komponist war, habe ich etwas Biografie eingebracht – einfach, um in mehreren Momenten diese Musik zu haben und für mein Seelenheil zu sorgen, mir diese Musik nicht nehmen zu lassen, während ich zeitgleich zugeben muss, dass sie die Rechten für ihre Zwecke auch verwenden. Man muss ja den Tatsachen ins Auge sehen.
Man sagt dir nach, dass du die Musiken gern auch mal in ihren Kontexten belässt, um sie beim nächsten Mal komplett zu defragmentieren, dass du also mit deren Überfrachtungen spielst. Es klingt, als wäre man geradezu gezwungen, diese ganzen Überfrachtungen immerfort mitzudenken, wenn man zitiert.
Manuela Kerer: Kritik ist unsere Aufgabe, man muss alles hinterfragen. Allein durch den Stoff gab es schon viel Wirbel. Selbst bei den Proben im Orchester gab es die Frage: „Wieso gebt ihr dieser Nazi-Frau eine Bühne?“ Und genau das will dieser Stoff von uns: dass wir uns in jeder Sekunde umdrehen und hinterfragen, was wir damit wollen, auslösen, ob wir damit leben können. Das ist meiner Meinung nach eine Vorlage für den Umgang mit Geschichte überhaupt. Trotz – oder gerade wegen – der abgrundtiefen Ernsthaftigkeit des Stoffes war diese Arbeit für mich unglaublich spannend, weil sie im Grunde ans derzeitige Leben appelliert: Wie ist es möglich, dass in den USA, in Ungarn, aber auch bei uns oder in Deutschland rechte Redner:innen Sendezeiten bekommen? Kunst darf nie nur einfach sein, auch für die Künstler:in selbst. So gab es natürlich Passagen, die uns leicht von der Hand gegangen sind, aber andere Stellen zwangen uns zu wirklich schwerer Auseinandersetzung. In dieser Schwere steckt dann aber auch etwas Befreiendes, weil man versucht, zu verstehen.
Martin, du sagtest, dass die Toten manchmal sogar als Untote wiederkehren und es nicht schaffen, aus ihren Irrungen herauszufinden. Musste nicht also deswegen genau diese Biografie einer Nazifrau als Stoff herhalten?
Martin Plattner: Diese Figur hat das absurde Moment, dass sie Veteranin des Ersten und des Zweiten Weltkrieges ist. Sie hat im Zweiten als „Schreibtischtäterin“ in Belgrad für die NSDAP gearbeitet und vermutlich unter anderem auch Listen mit Namen von deportierten Menschen geführt. Das ist unvorstellbar. Wie kann man im Ersten Weltkrieg sein Bein verlieren und gleich zu Beginn des Dritten Reiches als eine der Ersten Mitglied der NSDAP werden? Ihr Leben scheint mir vom Beginn bis zum Ende eine einzige fanatische Fantasie, die man nur schwer nachvollziehen kann.
Ursprünglich dachte ich, dass dort der Knackpunkt des Stücks liegt, aber offenbar liegt der noch viel später, während die Ursache wahrscheinlich sehr viel früher in ihrem Leben zu suchen und zu finden ist …
Martin Plattner: … und auch in ihrer Wahlheimat, wenn man so will. Sie ist ja nicht in Südtirol geboren, aber doch sehr früh mit ihrem Vater zuerst nach Norditalien und dann nach Meran gezogen.
Manuela Kerer: Sie war auch in Trient.
Martin Plattner: Als Kind war sie ein Fan von Andreas Hofer. Schon da hat bei ihr eine Überassimilation mit ultranationalistischem und patriotischem Gedankengut stattgefunden, sie war tirolerischer als Tirol! Vielleicht auch, weil sie laut Zeitzeugen immer ein Bub und kein Mädel sein wollte. Sie lief in Meran mit Bubenhaarschnitt und in Bubenkleidung umher und lehnte gleichaltrige Mädchen ab. Sie wollte früh Teil von Männerbünden sein, Teil einer Männerwelt, fern von jeder auch nur annähernd gedachten Gleichberechtigung von Mann und Frau. In dieser unglaublich frühen inneren „Militarisierung“ steckt etwas Beklemmendes, ihre Biografie hat in ihrer Gesamtheit etwas Verstörendes. Sie ist 1979 im Alter von achtzig Jahren verstorben und hat als sehr alte Frau in Salzburg noch immer an Veteranentreffen teilgenommen und all ihre Orden aus beiden Weltkriegen an ihrem Revers getragen. Sie hat diese Orden den Rest ihres Lebens vorgeführt! Von einer Zeitung wurde damals sogar kolportiert, dass sie mit ihnen beerdigt worden ist, dass „das Heldenmädchen mit all seinen Orden beigesetzt wurde“.
Hast du diese Hybris, diese Übersteigerung einer Person direkt übersetzt, Manuela?
Manuela Kerer: Es gibt ja zwei Seiten. Die Übersteigerung war ihr Bild von sich selbst. Sie hat sich mit den Nazigrößen ablichten lassen und es hat ihr gefallen, dass sie hofiert wurde. Und ein Knackpunkt war für uns, dass sie sich bis zum Schluss nicht geläutert oder irgendeinen Zweifel geäußert hat. Dem gegenüber steht, und das kommt im Libretto von Martin so genial heraus, was sie wirklich ist: sehr klein und fad. An einer Stelle trifft die alte Viktoria in einer Art Albtraum auf ihr junges Ich, das sagt: „Ich darf hier nur Nachttöpfe ausleeren.“ Und man weiß nie so genau, welche Stimme eigentlich recht hat. Diese Gegenüberstellung von Selbstüberschätzung und einem müden Schatten eines Nachttopfs habe ich in Musik übersetzt.
Wo wird die Geschichte der Viktoria Savs ambivalent? Man könnte meinen, sie hätte Zeit ihres Lebens sehr stringent ihre militärische, totalitäre und nationalistische Einstellung bewahrt. Und ist der Antwort auch eine Erklärung für das aktuelle Wiederaufleben rechter Gesinnung inhärent?
Manuela Kerer: Davon bin ich überzeugt. Aber ich glaube auch, dass jede und jeder etwas Eigenes für sich herauslesen kann und das ist dem gelungenen Libretto von Martin zu verdanken. Was aber nicht möglich ist: dass jemand von der AfD oder FPÖ sich nicht in der Figur der Viktoria Savs wiederfindet. Denn sie war nicht der böse Wolf und es waren viele so wie sie, die bis zum Schluss geglaubt haben oder immer noch glauben, dass diese Maßstäbe und Urteile richtig sind. Die Frau, die eigentlich um ihren Minderwert wusste und wahrscheinlich nur die Betten machte und Nachttöpfe leerte, tut mir als altes Weibele, dass sie 1979 war, eigentlich leid. Sie hat es einfach nicht geschafft, sich einzugestehen, auf dem falschen Weg zu sein. Dann wäre sie wahrscheinlich mit einem besseren Gefühl gestorben.
Martin Plattner: Es gibt aber tatsächlich noch eine andere Ambivalenz in ihrer Biografie: Es ist viel über ihre Sexualität spekuliert worden. Ich fand es aber nicht angemessen, ihr diese latente homoerotische Komponente, die durchaus vorhanden ist, im wahrsten Sinne des Wortes „anzudichten“. Es gibt dafür die Figur des Hansl, eines Prügelknaben dieser Männervereinsleute. Die reale Viktoria Savs hat als vieles gegolten: als lesbisch, als transsexuell, was sie sicher nicht war, weil es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass sie ihr Geschlecht verändern wollte. Was aber geschieht, wenn man sich in Kreisen bewegen möchte, die von Homophobie nur so strotzen. Das muss für sie als Frau, die nie verheiratet war, furchtbar gewesen sein. Ihre einzige nachweisliche Beziehung, mit der sie eine längere Zeit eine Wohnung teilte, war eine wesentlich jüngere Frau, die sie adoptiert hatte. Allerdings war das damals auch eine Praxis, dass lesbische Frauen adoptiert haben, um mit ihren Partnerinnen zusammenleben zu können. Diese Frau namens Charlotte hatte wohl auch ein Verhältnis mit einem Mann, brachte sich aber in der gemeinsamen Wohnung in Salzburg dann selbst um. Die einzige Paarbeziehung im Leben der Viktoria Savs bleibt also sehr fragwürdig und mysteriös. Und doch ist Viktoria Savs, die sicherlich einiges an homophoben Verunglimpfungen über sich ergehen lassen musste, aber immer wieder genau in diese Kreise „zurückgesprungen“. Immer wieder hat sie versucht, an die Männerwelt anzudocken. Sie hat alles getan, um nicht als weiblich zu erscheinen. Als junge Frau hat sie sich selbst immer Vickerl genannt, eine männliche Abkürzung für Viktor und nicht für Viktoria. Um die Figur aber nicht zu überfrachten, spiegle ich einige dieser Themen in anderen Figuren. Sie spiegelt sich in Männerfiguren und das finde ich sehr treffend für sie. Sie wollte sich an Männern messen und an ihnen gemessen werden.
Deine Aufführungsliste lässt vermuten, dass dir Heldenstoffe und Märchen oft als Grundlage dienen. Hat dieses krasse Material der Viktoria Savs eine neue Dimension eröffnet?
Martin Plattner: Märchen sind unerschöpfliche Schatzgruben, die seit Hunderten von Jahren Motive unser aller Gedankenhaushalt mitbestimmen. Es ist unglaublich, wie einige Bilder von Märchen so ins kollektive Gedächtnis der Menschen haben eingehen können, sich nie abnutzen und immer wieder etwas Neues heißen. Mich interessieren aber auch Traumlogiken ungemein, sei es ein Albtraum, ein Klartraum oder ein absurder Traum. Das war für mich auch eine Schneise hin zum Stoff der Viktoria Savs. Es referenziert sehr auf die Art der Traumdeutung von C. G. Jung, der Traum und Theater in einen Kontext gesetzt hat und in ihm Begriffe wie Regie, Hauptrolle und Kostüm zuwies. Das kommt meiner Vorgehensweise beim Schreiben meiner Texte sehr entgegen, wo ich ebenfalls versuche, eine Art Traumqualität zu erzeugen und mit Traumstrukturen zu arbeiten, denn auch Träume folgen einer Logik. Auf diese Weise kann man wahnsinnig viel kondensiert, dicht und mehrdeutig erzählen, was man bei einer bloßen Aneinanderreihung von Ereignissen nicht könnte. Und im Zusammenhang mit Träumen wird das Ganze musikalisch, weil es in der Musik ja Gleichzeitigkeiten neben Ungleichzeitigkeiten und Überschneidungen gibt, die man sprachlich oft nur wahnsinnig schwer oder gar nicht herstellen kann.
In deinem Werken spielt Humor eine große Rolle, Manuela. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass er in dieser Arbeit Eingang findet.
Manuela Kerer: Es gibt schwarzen Humor. Man wird wahrscheinlich nicht in Lachen ausbrechen, aber zum Glück entsteht doch auch Leichtigkeit in diesem Stück. Ein Aspekt, der Martin und mich auch verbindet. Es gibt auch Hoffnung, zum Beispiel in der Figur der Kellnerin Karola, die sich um den Hansl sorgt. Wir haben viel über Horrorliteratur, Albträume und Schauermärchen geredet. Das Leben ist nun mal nicht immer nur lustig, es hat seine Schatten- und Lichtseiten, und es war uns auch wichtig, das zu zeigen. Auch Hoffnung zu machen, dass die braune Soße mit viel Menschenverstand und einer gewissen Menschlichkeit auch zurückzudrängen ist.
Wofür braucht die Musik das Wort und vice versa?
Manuela Kerer: Musik braucht das Wort, um einen gleichberechtigten Partner an der Hand zu haben. Erst zusammen konnten wir erschaffen, was wir auch ausdrücken wollten.
Martin Plattner: Auch für die Flüchtigkeit im positiven Sinne. Es ist ein irrsinnig spannender Moment, wenn Musik und Wort praktisch gemeinsam passieren und dann aber auch verschwinden, weil Musik und Text ja weitergehen. Das ist es, was ich generell am Theater, am Sprechtheater wie am Musiktheater, so liebe: dass man nicht mit einem Textbuch dasitzt, wo man nachschauen kann. Das Irre ist die Flüchtigkeit. Dass man etwas beiwohnt und Teil von etwas ist, was live und in diesem Moment stattfindet, ist sehr bewegend. Man kann so etwas nicht konservieren, auch wenn man es hundertmal mitschneidet. Der zunehmende Dokumentationszwang der letzten zehn, fünfzehn Jahre via Facebook, Instagram und Co. ist eine wahnsinnige „Beständigkeitsmaschine“.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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