Masha Dabelka
Jeder Mensch braucht einen individuellen Zugang zur Musik
Sie hat damit angefangen, Raves in verlassenen Fabriken in Sibirien zu organisieren. Inzwischen hat sie eine DJ-Schule in Wien gegründet, in der sie insbesondere Frauen den Umgang mit den Turntables näherbringen möchte: Masha Dabelka. Dass sie selbst auch musikalisch aktiv ist, versteht sich von selbst. Zum Gespräch via Zoom gewährte sie mir Einblicke in ihr Studio in Wien Margareten und sprach über Übergänge, Mut und Safe Spaces:
„Es ist toll hier. Ursprünglich war das Haus tatsächlich eine Schule und wird nun von Kreativmenschen besetzt. Wir sind hier sehr glücklich. In diesem Raum unterrichte und produziere ich, auch wenn es dafür akustisch nicht so ideal ist. Aber meinem Fokus auf individuellen Unterricht wird es durchaus gerecht.“
Wie groß sind deine Klassen in der Regel?
Gleichzeitig unterrichte ich maximal zwei Menschen. Das macht Sinn, weil wir Beatmatching mit Turntables lernen, was eine rein taktile Erfahrung ist. Turntables sind ein Instrument, das zu spielen gelernt sein will. Es braucht dafür den richtigen Umgang mit den Händen und das ist außerordentlich individuell, denn jeder Mensch hat seine verschiedenen Blockaden, Blockierungen, physisch und mental. Natürlich spielt auch die musikalische Ausbildung eine große Rolle. So unterrichte ich Anfängerinnen und Anfänger, habe aber auch Schüler:innen an der Musik- und Kunstuniversität, die akademisch ausgebildet sind. Jeder Mensch braucht einen individuellen Zugang zur Musik. Es ist wie beim Klavierlernen, Lernende und Lernende sitzen eins zu eins am Instrument. Beim Gruppenunterricht arbeite ich deshalb mit zwei Kolleginnen zusammen.
Was setzt du voraus, um Frauen das DJing beizubringen?
Es hilft natürlich, wenn man schon über musikalische Grundkenntnisse verfügt, um die Bedeutung von Takt, Offbeat usw. besser zu verstehen, denn beim Beatmatching orientiert man sich an rhythmischen Strukturen. Da ist nichts Neues passiert in den vergangenen 200 Jahren.
Und bringen deine Schülerinnen und Schüler bestimmte musikalische Vorlieben mit?
Egal, ob Techno oder House – es ist alles moderne Popmusik und basiert auf Schleifen, sogenannten Loops. Hier liegt der zweite Schwerpunkt beim DJing: Übergänge. Es geht auch um interessante Ausblendungen und die Arbeit mit Frequenzen. Dazu kommt außerdem ein Basisverständnis von den Frequenzbereichen der einzelnen Instrumente, ein bisschen Physik, ein bisschen Musiktheorie und natürlich Engineering, also der Aufbau des DJ-Equipments. Dadurch kommt man oft ganz natürlich vom DJing zur Musikproduktion.
Unterrichtest du im Fach elektronische Musik an der MUK?
Ich bin in der Abteilung Schlagwerk eingesetzt. Das ist logisch, denn wir arbeiten mit Mikrotempounterschieden und rhythmischen Strukturen. Ich sehe einen Turntable als ein Instrument, das zu spielen man erlernen muss. Ich habe zehn Jahre lang Klavierunterricht gehabt und dabei gelernt, dass mit unterschiedlicher Anschlagskraft und unterschiedlichem Anschlagsdruck tausend verschiedene Töne entstehen können. Beim Turntable geht es auch um Töne und Tempo und es ist ein rein taktiles Lernen, wie Pitches ausgeführt werden.
Kannst du dir vorstellen, mit den Turntables Mitglied eines Ensembles zu sein?
Mein Feld sind das DJing und Musikproduktionen, aber es gibt auch andere Projekte. An der MUK entwickeln wir beispielsweise für Januar und Juni 2022 das Festival Poème électronique, wo Studierende der Instrumentalfächer und meiner Abteilung zusammenarbeiten werden. Das ist ein großes Experiment, in dem es natürlich um Musikauswahl und um den Umgang miteinander geht. Dafür soll es zuvor auch eine Lehrveranstaltung geben.
Meint dein Ausspruch „from rave to church – touching all the hot buttons“ deinen Disziplinen übergreifenden Zugang in der Musik?
Die DJ-Schule ist ein Zweig, die Musik ein anderer in meinem Tun und manchmal ist es schwer für mich, zu entscheiden, wo ich besser stehe. Ich habe mit Raves angefangen, sie damals in abandoned Factories in Sibirien organisiert, weil es ganz klassisch keinen Platz für unsere Musik gab. Später ging ich dann nach Wien und konnte zwei Ambient-Konzerte in Kirchen geben. Das ist zwar ein krasser Übergang, aber ganz normal für moderne Musik: Jazz, Funk, Hip Hop haben alle im sogenannten Underground angefangen und jetzt steht Jeff Mills mit seiner Drum Machine und dem Montpelier Philharmonic Orchestra auf einer Bühne. Alle künstlerischen und musikalischen Genres starten ganz wild und enden in einem akademischen Setting. Das ist formal das, was ich mit dem DJing in Wien mache, wenn ich versuche, es in eine akademische Disziplin zu konvertieren.
Woher nimmst du den Mut dafür? Oder wie ist dir der Mut gewachsen?
Ich war sehr lange Zeit sehr unsicher, aber das ist ja nicht unbedingt fehlerhaft. Alle intelligenten Menschen, die ich kenne, sind unsicher. Je mehr du begreifst, desto deutlicher wird doch, dass du nichts weißt. Diese Unsicherheit ist also ziemlich normal. Aber ich war erst siebzehn Jahre alt, also viel jünger als die aktiven DJs, und wagte es nicht, jemanden zu fragen, mir das Auflegen beizubringen. Es war reiner Zufall, dass ein Freund in einem sehr abgefuckten Club auftrat, wo nur russische Popmusik lief, und ich ihn begleiten und bis zum Morgengrauen warten konnte, um dann eine Stunde zu üben. So hatte ich zwar endlich Zugang zu Equipment, übte aber auch viele Fehler ein, weil in diesem Club keiner Ahnung vom DJing hatte. Es hat Jahre gedauert, bis ich das raus hatte und kann deshalb heute umso besser erklären, worauf es ankommt. Grundlegend ist meine Überzeugung dabei: Jeder kann alles. Und das ist echtes Empowerment. Und die DJ-Schule habe ich dann aufgebaut, um anderen Menschen Zeit beim Erlernen des DJings zu sparen. Also Tipps und Tricks, aber auch Kicks in the Ass geben. So lernt man viel effektiver. Und das ist nur der Anfang. Nach dem Abschluss muss man weiter üben. Ich versuche alle möglichen praktischen Übungen mitzugeben, damit allein weiter zuhause geübt werden kann. 80 Prozent meiner Absolventinnen kaufen Equipment für daheim und üben weiter. Das ist das größte Kompliment für mich.
Wie lang dauert so eine Ausbildung?
Ein Kurs besteht aus acht Einheiten à 90 Minuten, ein- bis zweimal die Woche, und dauert ungefähr ein bis zwei Monate.
Was bedeutet Empowerment für dich?
Genug Energie und Vertrauen zu haben, um machtvolle Kraft zu verleihen.
Warum bezeichnest du dich als Zauberin?
Weil nichts egal ist. Jeder Mensch kann ein Zauberer sein, wenn er auf Details achtet. Es ist nicht egal, welcher als nächster Track kommt, wieviel Zeit du für deine Musikselektion verwendest, wie vorsichtig du mit deinen Übergängen bist – es sind diese kleinen Details, obwohl es eigentlich keine kleinen Details gibt.
Es ist von Bedeutung, wieviel Liebe du in diese Welt gibst. Alles, was wir tun, mit viel Liebe auszuführen, macht die Menschen zu Zauberern. Ich habe das Glück, tun zu dürfen, was ich wirklich mag. Und es macht für mich keinen Unterschied, ob ich hinter dem DJ-Pult stehe, einen Live Act vorführe oder unterrichte. Ich nehme und gebe Energie im gleichen Maß.
Auf der Bühne liegen die Verfasstheit höchster Konzentration und höchster Kontemplation nah beieinander – was überwiegt bei dir?
Das ist wie beim Yoga: entspannt und angespannt zugleich. Bei Turntablista beschreibe ich diesen Zustand als gleichzeitig fokussiert und abstrahiert zu sein, sich nicht zu tief von der Musik absorbieren zu lassen. Hat man Probleme, sich auf der Bühne auf die Musik zu konzentrieren, kann man seine Kopfhörer entsprechend tragen, um etwas Distanz zwischen sich und das Publikum zu bringen. Für mich war das ein langer Weg, mich auf der Bühne entspannen zu können. Schaut man meine Videos auf YouTube an, kann man das auch super ablesen. Ich bin sehr ernst und das passt nicht gut in diese Clubwelt. In Sibirien gab es wenige Menschen, die meine Tätigkeit ernst genommen haben, aber für mich war das DJing nie bloß Chichi.
Der entscheidende Punkt war wohl, dass du dich selbst ernstgenommen hast.
Nicht nur mich, auch die anderen. Sie zahlen alle Tickets und wollen zu recht dafür etwas erleben. Und auch die DJs bekommen Honorare, verpflichten sich also, etwas zu leisten. Manche drücken einfach auf den Auto-Sync-Button und andere schwitzen wirklich auf der Bühne. Für mich war das DJing nie leichtes Geld, es war in Wien für mich als Nicht-EU-Bürger aber lange Zeit die einzige Einkommensquelle. Vielleicht habe ich es deshalb auch nie als Spaß abgetan. Mir war klar, dass ich gut sein muss, um wieder gebucht zu werden. Diese Verantwortung fühle ich jetzt nach siebzehn Jahren immer noch, denn die Gage eines Abends in Wien reicht in Russland für die ganze Pension. Diese Verbindung mit der Realität ist noch sehr wach in mir.
Ein Kriterium für Clubbetreibende ist ja immer die Tanzfläche, die durch dich als DJ gefüllt sein muss …
Ich bin selbst kein Partytier und habe einen kleinen Freundeskreis, die allesamt keine Clubgänger sind, sie kommen fast nie zu meinen Veranstaltungen, weil sie dann schon schlafen. Aber ich verstehe diese Perspektive der Promoter total, ich habe anfangs ja auch viele Partys in Wien organisiert. Es ist ein Business, das nur mit gefülltem Club funktioniert. Trotzdem ist es eine Mischung aus dem Namen des DJs und den Freunden, die noch Gäste mitbringen. Wichtig ist aber immer, Künstler:innen zu kennen, die Wert auf Qualität setzen. Gute Promoter setzen auf eine gute Mischung aus Partytieren und sehr musikfokussierten DJs.
Wie hältst du seriöse Lehre am Tag und Partygeschehen in der Nacht aus oder durch?
Begeisterung. Es geht um Begeisterung. Ich freue mich jederzeit, wenn ich die Möglichkeit zum Auflegen bekomme und ziehe daraus so viel Energie, dass ich nur wenig Schlaf brauche und den nächsten Tag gut bewerkstellige. Es ist die reine Energie der Musik. Vor zwei Wochen habe ich auf einer Afterparty im Sass gespielt, nur Cola getrunken, zwei Stunden gespielt, dann zuhause ein paar Stunden geschlafen und bin in den Zug nach Scheibbs gestiegen, wo ich eine Woche unterrichten sollte. Das war schon ziemlich heftig, aber ich beruhige mich dann auch selbst, dass es ja nicht jede Woche so ist. Ich lege ja auch nicht jedes Wochenende auf und brauche auch Zeit zum Produzieren meiner Musik. Gerade ist die neue Platte fertig geworden und Ende des Jahres wird es noch einen Release geben. Ich arbeite ja auch als Sounddesignerin und mache Musik zu Videocontent, Performances, für Theater. Für mich ist das eine ideale Kombination aus der Arbeit mit Menschen und ruhigen Zeiten im Studio. Es ist eine Frage der Balance, du kannst ja immer Nein sagen.
Ist dein künstlerisches Selbstverständnis auch mit deiner Herkunft aus einer Musikerfamilie begründet?
In meiner Familie hat jeder eine Musikausbildung, das ist nie eine Frage gewesen. Ich war von Geburt an von Musik umgeben und ging mit vier Jahren in die Musikschule, da wurde ich gar nicht gefragt. Meine Mutter singt mit ihren jetzt 72 Jahren immer noch auf der Bühne und ist wahrscheinlich eine der ältesten Konzertmeisterinnen und Gesangslehrerinnen von ganz Eurasien. Sie ist superfit und ihre Stimme klingt viel jünger als meine. Sie ist natürlich mein großes Vorbild: Wenn man sein ganzes Leben lang macht, was man wirklich liebt, kann man das bis an sein Lebensende tun. Sie hatte erst irgendein Ingenieursstudium absolviert und sich dann mit ungefähr dreißig Jahren komplett dem Konservatorium zugewandt.
Hast du zu den Begriffen Strenge oder Disziplin ein Verhältnis?
Mein Traum war immer zu tanzen. Und am Ende mache ich Tanzmusik. Ich bin nicht immer dafür, Kinder für alles die Entscheidung zu überlassen. Zwar bin ich noch keine Mutter, glaube aber doch sehr, dass Kinder Grenzen brauchen, um sich sicher fühlen zu können. Trotzdem sehen gute Eltern natürlich die Talente ihrer Kinder. Meine Eltern waren sicher etwas autoritär, haben ja aber mein Potenzial gesehen und ich bin sehr dankbar für ihre Entscheidung.
Du machst ja auch Filmmusik – gibt es da für dich noch einen Unterschied zu deiner anderen Musik?
Mit Joan, einer deutsch-amerikanischen Sängerin, produziere ich Ambient zu ihrem Gesang, sie ist ein Naturtalent ohne jede musikalische Ausbildung und das gefällt mir sehr, denn Musikausbildung kann auch ziemlich schwer blockieren, speziell bei klassischer Musik. Und dann brauchst du Jahre, um diese Rahmung zu sprengen. Auch zu Performances mache ich unterschiedliche Ambientsachen, arbeite mit Mikrofonen und Fieldrecordings relativ abstrakt, aber auch sehr oldschool. Meine Musik ist sehr melodisch und ich mag es, Hooks zu produzieren, Charaktere auch mit etwas Humor darzustellen.
Du willst die Menschen über die Musik erreichen, nicht über die Performance, was bei DJs ja durchaus auch eine Rolle spielen kann.
Natürlich ist ein DJ auch ein Unterhalter, aber du kannst dich ja entscheiden, mit deinen Händen wedelnd oder mit deiner Energie zu unterhalten. Unser Material sind Zeit und Spannungen, diese Tensions auf dem Floor und wie man mit Zeit umgeht. Es hat viel mit Kinokunst zu tun, wie mit den ständigen Improvisationen Spannung auf der Bühne erzeugt wird. Dafür braucht es kein Beifallklatschen. Idealerweise schließen die Menschen ihre Augen und geben sich einer Trance hin. Dieses Vertrauen zu bekommen, braucht viel Energie, aber nicht unbedingt großes Gestikulieren auf der Bühne.
Du sprichst ganz dezidiert Frauen mit deiner DJ-Schule an. Steckt dahinter eine Botschaft an das weibliche Selbstverständnis?
Mit meiner Vision schaffe ich keine Safe Spaces, bin auch kein Fan davon. Österreich ist aus meiner Erfahrung schon safe genug. Ich versuche lediglich, Frauen zum DJing zu motivieren, eine neue Leidenschaft zu entwickeln. Es gibt keine Reduktion auf einen speziellen Zugang, für mich ist eine professionelle, berufliche Ausbildung das Ziel, für Frauen, die damit arbeiten möchten. Und ich pushe Frauen einfach mit meinem Beispiel und lade sie ein, mit an Bord zu kommen, vermittle Kenntnisse und Gigs. Wie in einer geheimen Gruppe bleibe ich erreichbar für alle.
Wie bist du nach Wien gekommen?
Das ist eine bekannte Geschichte. Ich hab mich aus Spaß auf female:pressure registriert, als zweite oder dritte Künstlerin aus Russland auf dieser Database. Österreichische Promoter pickten mich dann raus und holten mich nach Salzburg auf ein Experimental-Music-Festival. Das war ein Wunder und meine große Chance. Ein zweites Mal wurde ich dann eingeladen bei der Viennale in Wien zu spielen, ich war da zufälligerweise auf der Akademie der bildenden Künste und mir war klar, in einem Jahr komme ich hier her. Ich versuchte, mich in drei Klassen gleichzeitig zu bewerben, aber es gab keine Möglichkeit, mein Portfolio online zu präsentieren. Also mietete ich mich über einen Freund in einem Hotel ein und begann von dort aus Aufnahmeprüfungen zu bestehen. Danach ging es sofort wieder zurück nach Russland, um acht Monate auf meinen Aufenthaltstitel zu warten und dann zwei Semester später in Wien mit dem Studium zu beginnen. Noch zwei Jahre später bekam ich eine Stelle als Assistentin im Tonstudio der Akademie und blieb dann insgesamt sechs Jahre da.
In welcher Studienrichtung wurdest du denn an der Akademie genommen?
Ich war in der Klasse Digitale Medien und hatte mich mit einer Stop- Animation mit meiner Musik beworben. Ich war dann die Einzige, die im Sound-Labor arbeiten durfte, weil ich mich schon ein wenig auskannte. Also habe ich mich die sechs Jahre quasi in diesem Keller eingeschlossen und täglich Musik produziert. Später durfte ich dann auch RTS.FM – Vienna Studio kuratieren, das war damals ein riesiges Netzwerk mit 21.000 registrierten Mitgliedern, der Vorgänger von Boiler Room quasi. So habe ich alle kennengelernt, konnte in einem super Studio mit toller Anlage und riesiger Leinwand produzieren. Aber aller Anfang ist low standard. In Russland schaffst du dir als Künstlerin deine Institution immer selbst, organisierst Partys, Raves und Festivals, lädst private Sponsoren ein und bist DJ, Produzent und Promoter gleichzeitig. In Europa wird das oft personalisiert: entweder bist du DJ oder Veranstalter oder Produzent. Damals dachte, dass ich nie werde nur auflegen können, weil ich immer organisieren musste. Mittlerweile denke ich, dass es total gut war, alles gemacht zu haben. So kann ich heute mit mindestens zwei Tätigkeiten umgehen: meiner Schule und meiner Musikproduktion.
Was nährt dich, um Output zu erzeugen?
Das Lied ist drin. Ich sage meinen Schülern sogar immer, dass sie ihre Tracks, Gedanken und Gefühle innerlich singen sollen, um ein musikalisches Gedächtnis und ein inneres Ohr für die Musik zu entwickeln, und mit ihnen kommt der Wunsch zum Schaffen auf.
Wie ist das Mexiko-Video entstanden, wo eine Drohne ihre Fahrt aufnimmt?
Masha Dabelka: Nach Mexiko war ich vom Austria Culture Forum zu einer Residency eingeladen in einem Kino Mexiko, einem Kinoclub, wo Artists zwei Wochen Kino machen. Ich war aber die Einzige, die nur mit Sound arbeitet. Also blieb ich im Hotel, produzierte am Laptop und aß Guacamole. Den Ausflug zur Pyramide nach Yucatan filmte ich dann mit einer Glitch-App meines Handys und hab in den letzten zwei Tagen dann den Sound dazu produziert. Das waren Recordings in den Straßen von Mexiko-City, wo mitten auf einem Platz Menschen in Militäruniformen diese Musik-Boxen spielen. Durch Stretching dieser Field Recordings produziere ich die Substanz, das Fleisch meiner Musik und synthetisiere daraus Ambient-Tracks, die dann auf das Video passten. Mit einem Smartphone kann man so viele lustige Sachen machen. Es war eine sehr intensive Zeit und mir ist es sehr wichtig, am Ende etwas zu haben.
Sammelst du Skurrilitäten oder Field Recordings und gehst mit offenen Ohren? Was setzt für dich Impulse zum Musikmachen?
Das ist situationsabhängig. Ich bin Reaktionskünstlerin, reagiere auf Fragestellung oder Probleme. Und kann deswegen auch supergut mit Deadlines. Profession entsteht natürlich durch tägliches Üben, aber ich kann auch einfach spontan mit einmaligen Sachen antworten. Beim Mexiko-Video soll eine Reihe von Städten auf diese Weise mit Field Recordings der jeweiligen Städte entstehen.
Gibt es Situationen, die deine Kreativität töten oder besonders fördern?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe kein Zuhause-Gefühl gehabt in meinem Leben, hatte nie ein Studio in meiner Wohnung. Zu Beginn wusste ich auch nicht, ob ich in Wien bleibe, habe als Immigrantin auch nach wie vor keine Sicherheit, hier immer leben zu dürfen. Deswegen bin ich es gewohnt, in the field zu arbeiten. Ich brauche nur einen Labtop und kann in einem Hotelzimmer ein Album produzieren. Aber ich arbeite auch analog mit Synthesizern, die in meinem Studio und zuhause stehen. Damit produziere ich komplett andere Sachen, nachdenklichere, konzeptuellere. Gern produziere ich nach meiner Stimmung, doch das ist manchmal auch nicht angebracht. Okay, ich habe keinen Stil, aber ich muss das machen. Mut ist da sehr wichtig. Man sollte nicht immer nur tun, was man mag. Beim Überschreiten der Komfortgrenze entstehen oft so tolle Sachen … der Appetit, die Stimmung kommt sozusagen mit der Mahlzeit.
Du verzauberst nicht nur, du bist auch verzaubert. Von dem Phänomen Leben.
Ja, natürlich. Ich bin Optimistin und glaube daran, dass wir uns als Menschheit bessern werden.
Weil du aus Russland kommst?
Österreich ist ein Safe Space im Vergleich zu Russland. Das ist natürlich relativ und vor allem subjektiv. Wenn man nach sechs Uhr am Abend nicht mehr auf die Straße gehen kann, dann ist man in keinem Safe Space. Aber meine Erfahrungen traumatisieren mich nicht, sie halten mir die Augen offen. Ich bin ja nicht nach Senegal, sondern nach Österreich gekommen, um eine DJ-Schule zu eröffnen. Aber wir sollten uns die Safety zunutze machen, um uns und die Welt weiterzuentwickeln, um zu arbeiten, sprechen, auch rausgehen zu können und nicht, um uns einzunisten und überall die Fenster zu schließen. Gerade wir hier müssen sprechen können, nicht nur Kaffee trinken und über Black Lives Matter oder MeToo reden, sondern aus diesen Komfortzonen raustreten und sichtbar werden. Jeder kann eine ähnliche Erfahrung machen, wenn man verreist oder einfach mit Menschen redet. Es gibt so viele interessante Menschen. Ich verwende Clubs als ein Feld für Diskussionen.
Masha Dabelka ist dein Künstlername, oder?
Naja, Masha ist einfach eine Abkürzung von Maria. Aber Dabelka ist ein Künstlername, weil mein Nachname quasi einen Zungenbrecher darstellt.
Das Russische bleibt mir komplett verschlossen, ich kann es weder lesen, noch sprechen, geschweige denn verstehen.
Alles wird sich ändern mit der AI. Es wird Chips mit allen Sprachen geben, keiner wird mehr Sprachen lernen müssen. Vieles wird sich ändern, aber zum Beispiel nicht die Fähigkeit, Schallplatten „beatzumatchen“ – Roboter werden noch lange nicht in der Lage sein, den Mikromotor menschlicher Hände nachzuahmen.
Bist du ein Technik-Nerd?
Natürlich, wenn man Musik produziert, muss man schon ein bisschen nerdig sein, das ist ganz normal. Ich habe großes Interesse an Physik und Quantenphysik. Das ist für mich schon eine Verschmelzung von Naturwissenschaft und Physiks. Ich glaube in Quantum und Physik liegen alle Antworten der Welt. Du musst ein Philosoph sein und ein Physiker, das ist das Spannende, und Schwere. Natürlich versuche ich auch ständig, die Natur von Klang zu verstehen. Warum hören wir niedrige Frequenzen sogar von unseren Nachbarn, aber fast keine Hi-Hats? Welche Grundkenntnisse helfen dafür wirklich?
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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