Julia Lacherstorfer
Musik ist mein Medium
Da ist eine melancholische Grundschwingung, mit der Julia Lacherstorfer Menschen oft dort begegnet, wo es schmerzt. Gab es mit ihrem Solodebütalbum Spinnerin eine Umschreibung traditioneller Liederzählungen in die weibliche Perspektive, holt die Violinistin mit ihrem zweiten Soloalbum Nachbarin, das am 14.4.2023 veröffentlicht wird, Gefährtinnen im Raum, im Geist und in der Seele in ihre Kompositionen. Daneben leitet sie zusammen mit Simon Zöchbauer bereits seit 2018 die wellenklænge in Lunz am See, ein Festival für zeitgenössisches Musikgeschehen zwischen den Künsten. Julia Lacherstorfer über Narratives Komponieren, den weiblichen Blick und Contemporary Folk.
Die Spinnerin bewegt ein transgenerationales Thema der weiblichen Linie. Ist dir das bewusst?
Dieses Thema beschäftigt mich eigentlich unentwegt. Wahrscheinlich weil ich sehr eng mit meinen Großeltern aufgewachsen bin und zu dieser Generation immer einen sehr liebevollen Bezug hatte. Ich mochte es, Geschichten davon zu hören, wie es früher war, auch als ich damals in einem Altenheim arbeitete. Mein Vater ist ein Sammler von alten Sachen und meine Mutter beschäftigt sich viel mit Familiensystemen, das hat mich sicher beeinflusst. Mir war immer klar, dass die Geschehnisse aus den vorigen Generationen eine Wirkung auf uns haben. Wenn dafür ein Kanal in einem geöffnet ist, sind Dinge auf anderen Ebenen wahrnehmbar, für die schwer rationale Erklärungen zu finden sind. das Interesse, in die Geschichten hineinzuspüren, ließ mich so viel erkennen: wie eng meine Großmutter mit ihrer Schwiegermutter zusammengelebt hat, die sehr böse zu ihr war. Warum meine Großmutter zu der geworden ist, die sie war. Was das mit meiner Mutter gemacht hat und mit meiner Schwester und mir. Es ist einfach ein grundlegendes Interesse an solchen systemischen Zusammenhänge da.
War es eine bewusste Entscheidung, diesem Gespür auf künstlerischem Wege Ausdruck zu verleihen? Eignet sich Musik ganz besonders dafür?
Ich kann meine Wünsche und Passionen musikalisch total in meinem Bandkollektiv ALMA umsetzen und in verschiedensten Formationen gemeinsam mit meinem Mann Simon Zöchbauer. Was mich innerlich beschäftigt und antreibt, wollte ich aber keiner Gruppe aufdrücken, nicht jeder kann damit etwas anfangen, was mich beschäftigt. So ist Spinnerin entstanden und jetzt in Folge Nachbarin. Eine Verarbeitung von inneren Prozessen steht allerdings gar nicht so sehr im Vordergrund. Es ist eher die Anteilnahme an dem, was gesellschaftlich passiert. Das schließt mich natürlich mit ein: Ich erlebe Auswirkungen des Patriarchats, spüre ein Gefühl von Ungerechtigkeit gegenüber Menschen marginalisierter Gruppen aus meinem Umfeld. Dafür ist Musik und der Ausdruck davon das Mittel, das mir zur Verfügung steht. Ich bin keine Politikerin, zum Glück. Musik ist mein Medium, mich diesen Themen anzunähern.
Viele Lieder singst du in Dialekt, was natürlich sofort in den entsprechenden Sprachraum führt. Es gibt aber auch Lieder in Hochsprache, eines auf bosnisch …
Mir war klar, dass ich nicht auf Englisch singen würde, weil es einfach nicht meine Muttersprache ist und nicht ausdrücken könnte, worum es mir geht. Gleichzeitig hatte ich auch sehr lang Hemmungen, Texte in Dialekt zu schreiben, weil mir die Gefahr zu groß schien, nach Schlager zu klingen.
Ich habe gerade für Spinnerin die Texte sehr oft überarbeitet. Auch bei Nachbarin gab es Lieder, bei denen ich von Anfang an wusste, wovon ich singen will, in meinen ersten Skizzen aber erkannte, dass es unmöglich so geht. Enorm häufiges Drübergehen, Kürzen und Verschlanken waren nötig, damit eine Essenz übrig bleibt, eine Emotion auszudrücken, ohne kitschig zu werden. Die Lieder in Hochsprache mussten einfach so sein. Im Moment des Schreibens ist es eigentlich recht klar, was welche Sprache für mich erfordert. Stade se cvijee rosom kititi ist ein traditioneller bosnischer Sevdah. Nataša Mirković hat es mit eingebracht, wir wollten schon lange gemeinsam etwas singen. Und in dem Stück Atmen, Rennen, Halten spricht sie von ihren Fluchterfahrungen.
Wie kommt der Buddhismus mit zu Nachbarin?
Im Sommer wurden wir vom besten Kindergartenfreund meines Mannes zum Besuch seines Lamas in der Stupa in Grafenwörth mit eingeladen. Ein irrsinnig schöner Ort. An einem Tag erzählte dieser von der grünen Tara und das faszinierte mich, weil es eine feministische Gottheit ist, die es ablehnte, als männliche Gottheit wieder zu inkarnieren. Das Mantra der grünen Tara lässt mich seitdem nicht mehr los.
Das narrative Komponieren ist deine indivdiuelle Arbeitsmethode, was verstehst du darunter?
Die Musik entsteht sehr unterschiedlich. Manchmal reicht schon das Wissen um ein geplantes Interview mit einer bestimmten Person und ich habe schon vorher eine bestimmte Vorstellung von dem Stück und Texte werden dann eingeflochten. Manchmal ist es so, dass ich erst beim Nachhören des Interviews Musik daraus entsteht. Bei dem Gespräch mit der Sängerin und Historikerin Monika Schwabegger über ihre Großmutter war es so, dass ich mit dem Erzählten das Stück in einem Gang fertig geschrieben habe. Die Inspirationen kommen also sehr unterschiedlich daher. Manchmal funktioniert es, dass ich mit einem bestimmten Fertigstellungslimit produktiv werde. Aber für einen so großen thematischen Bogen wie meinem Album versuche ich mir, Zeit zu geben, um sicherzugehen, dass die Ideen, die ich habe, auch wirklich gut und aus einer ungestörten Anbindung entstanden sind, nicht erzwungen und konstruiert, sondern ein echtes Bedürfnis.
Hörst du die Gesprächsinhalte musikalisch?
In irgendeiner Weise müssen Thema oder die Person in meinem Innenleben etwas auslösen. Das versuche ich dann mit verschiedenen Instrumentarien und Stilistiken experimentierend in eine Form zu bringen. Eine Person, die mich nicht anspricht, würde ich nicht zum Interview bitten. Und wenn eine Person sich die Zeit für so ein Gespräch nimmt und ich das filme und aufnehme, ist es schon klar, dass ich damit etwas fertigen werde. Das so abschätzen zu können, ist einfach Teil meiner Recherche.
Kannst du dich an den Moment erinnern, als die Idee geboren wurde, narrativ zu komponieren, also für Spinnerin und Nachbarin Frauen zu befragen, um zu weiblichen Perspektiven für Female Folk bzw. Contemporary Folk zu kommen?
Ich wusste, dass ich an einem Programm arbeiten wollte, das sich mit weiblichen Narrativen im traditionellen Liedgut beschäftigt und musste relativ schnell erkennen, dass es wahnsinnig mühselig ist, diese Lieder zu finden. Es gibt Menschen wie Evelyn Fink in Vorarlberg, die einen Buchband zu Weiblichkeit im traditionellen Liedgut herausgegeben hat. Aber das sind nur ganz vereinzelt Bücher in einem Universum von Büchern mit männlichen Narrativen. Das war der zündende Moment: im österreichischen Volksliedwerk hab ich mich durch Bücher durchgearbeitet und erkannt, dass ich keine Ethnomusikologin bin, es ist nicht mein Arbeitsbereich, dass ich mich durch Archive ackere, sondern ich will Musik machen. Wenn es so schwierig ist, diese Lieder zu finden, dann gibt es offensichtlich zu wenige davon. Ich wollte also mit einem zeitgenössischem Zugang Narrative einfangen und Lieder machen, weil das, was wir jetzt singen, bereits hunderte Jahre alt ist. Wenn ich will, das die Narrative im traditionellen Liedgut und generell in der Gesellschaft sich ändern, muss ich anfangen, sie zu sammeln und in Musik zu übersetzen. Sonst singen wir in 200 Jahren noch immer das, was vor 300 Jahren entstanden ist. Dann sind die Inhalte schon 500 Jahre alt. Das ist mein Beitrag an Veränderung, die passieren möge, den ich leisten kann.
Die Narrative verändern, aber auch das Musikalische im Lied erneuern.
Das passiert automatisch, weil ich meinen Stil habe. Musik ist ja auch Ausdruck einer Kultur, Musik aus den Bergregionen Österreichs klingt anders als Musik aus Skandinavien. Mir ist wichtig, dass Musik, die ich kreiere, zeitgemäß klingt.
Was ist eine Nachbarin für dich?
Das ist eine Person, mit der ich mir eine Gesellschaft teile. Sie kann örtlich neben mir wohnen, aber mich auch als musikalische Nachbarin inspirieren, wie zum Beispiel Eva Jantschitsch, deren Lied Roter Mond sich mit auf dem Album befindet. Oder auch Personen, die nichts mit Musik zu tun haben, aber die ich spannend finde, wie die Philosophin Amani Abuzahra. Ich bin bei der Podcast-Reihe Jeannes Heldin #34 auf sie gestoßen. Mit jedem Satz, den sie sagt, hat sie mich dermaßen fasziniert. Sie ist eine unglaublich kluge und lustige Frau und fasziniert mich inhaltlich extrem. Außerdem sprechen wir den gleichen Dialekt, weil sie in Gmunden im Internat war – das ist auch sehr verbindend.
Wie kommt es zu dem Titel Farvel auf dem Album?
Vor Jahren unterrichtete an einer dänischen FiddleSchool in Breklum unter der Leitung des dänischen Geigers Harald Haugaard. 140 junge Leute verströmen dort eine super Energy. Und auf der Heimfahrt von Dänemark schrieb ich dann dieses Stück Farvel. Es lag ewig in der Schublade, bis letztes Jahr meine Kollegin Nicole Janß ihre Tochter Vivi durch Suizid verloren hat. Wir sprachen für Nachbarin in einem Interview darüber, worin sie mir von den herausragenden Malkünsten und Restaurationsarbeiten ihrer Tochter erzählte. In Kirchen Dänemarks hatte sie Fresken und Reliefs gemalt, wovon Videos existieren, in denen sie Geige spielt. Plötzlich wusste ich wofür Farvel da ist – Farvel ist das dänische Wort für Farewell: es ist ein friedvoller, liebevoller Abschied für sie. So hat das Stück seine Bestimmung gefunden.
Möchte man eine Linie von der Spinnerin zur Nachbarin nachzeichnen, wird die Methode fortgeführt, inhaltlich aber subjektiver, wenn du von deinen Nachbarinnen erzählst, während es zuvor eher auf deine Herkunft und deren Umgebung zielt.
Ich empfinde es eher umgekehrt: Spinnerin war ein subjektiverer Blick auf meine Vergangenheit, meine Großmutter, die bäuerliche Linie. Bei Nachbarin, sprechen die Personen für sich. Ich hab sie zwar ausgewählt undin gewisser Weise kuratiert, aber die Personen sprechen für sich, erzählen ihre Geschichte. Und ich möchte, dass diese Geschichte hörbar wird und ich Anteil nehme.
Entspringt deiner Musik so etwas wie eine Universalität des Fühlens, obwohl deine Erfahrungwelt durch Referenz an traditionelles Liedgut Vermittlung findet?
Was ich mache, klingt so wie es klingt. Natürlich bin ich beeinflusst, aber ich intendiere nicht mit meiner Musik. Ich könnte es mir sonst viel leichter machen und gesellschaftstauglichere Musik schreiben und produzieren. Im Moment aber treibt mich etwas anderes an. Natürlich ist so ein Abend, wo es um Flucht, Verfolgung, Kindsmord, Tod geht, kein Mainstream-Abend. Aber es ist das, was mich im Moment beschäftigt. Und wenn ich 50 Leute damit erreichen kann und sie wirklich berührt sind, ist mir das wichtiger, als 300 Menschen zu erreichen, die sich eine leichte Unterhaltung wünschen, wogegen überhaupt nichts einzuwenden ist. Musik ist unser Medium, wir sind ja nicht zur Wissensvermittlung da, aber versuchen das, was wir schon wissen, spürbar zu machen.
Ist auf dem Cover von Nachbarin eine Todesengelin zu sehen?
Nein, das ist ein traditionelles, oberösterreichisches Kopftuch, was traditionellerweise zu einem Dirndl getragen wird.
Eine zusätzliche Erzählebene liefert die Ästhetik deiner Musikvideos, mystisch oder märchenhaft erscheinen sie oft. Entspringen diese Inszenierungen deinen Ideen?
Ja, die Ideen und Bilder überlege ich mir, drehe im Vorfeld und gebe das Material aber dann der Bühnenbildnerin Marlies Fornbacher zum Schneiden.
Ganz oft gibt es dich einmal in der Position der Liegenden. Geordnete Ruhe oder gar Stille sprechen daraus mit dem anschließenden Zuversicht stimmenden Moment des Weitergehens.
Das ist mir auch schon aufgefallen. Das hat in den unterschiedlichen Video verschiedene dramaturgische Funktionen: man verabschiedet sich vom Leben, weil man müde ist. Bei Und der See schweigt ist es mit dem Tüll wie eine schwere Decke unter dem Wasser. Und beim Trailer von Nachbarin ist es eine Darstellung dessen, was Nataša Mirković auch sagt: Sie hat den Eindruck, dass Österreich schläft und das gern ruhig und lange. Das bewusste Aufstehen aus diesem Schlafen, dieser Verneinung, diesem ewig Gestrigen, loszugehen und zu versuchen, irgendetwas zu verändern.
Willst du mit dieser Art, Geschichten zu kuratieren, fortfahren?
Ich hab zwar eine vage Idee, aber alle meine mir nahestehenden Personen gebeten, mich davon abhalten mögen, jetzt gleich wieder etwas Neues zu machen, weil es einfach irre viel Arbeit ist. Die letzten zwei Jahre haben soviel Zeit und Geld diesbezüglich gekostet. Ich bring so oft Projekte ins Rollen, die mich überrollen und dann hol ich wieder auf. Das ist ein ungeheurer Kraftakt, der mir aber auch immer wieder viel Erfüllung bringt.
Dein selbstverständlicher Umgang mit Musik ist in deiner Herkunftsfamilie gewachsen …
Mein Großvater hat immer am Abend Akkordeon gespielt, mich und meine Schwester dafür zu sich geholt. Mein Vater hatte eine Volksmusikgruppe damals, in die meine Mutter später mit einstieg. Es waren immer Musikinstrumente verfügbar, ich lebte in einem sehr musikalischen Umfeld, war auch mehrmals in der Woche in der Musikschule.
Die Entscheidung, die Musik zum Beruf zu machen, war dann also keine schwere?
Unsere Eltern haben das nicht unbedingt forciert und vor allem meine Mutter wollte unbedingt irgendeine Form von Leistungsdruck verhindern. Ihr wäre es deshalb wahrscheinlich lieber gewesen, es wäre ein Hobby geblieben. Vielleicht ist es genau deshalb für mich und meine Schwester so klar gewesen, dass wir Musik studieren wollen: Es war eine ganz freie Entscheidung. Mit der Nebentür Pädagogik – Marlene hat einen Lehrauftrag an der mdw und ich unterrichte privat immer wieder gern – war klar, dass wir den Weg zur Bühne wollen.
Folglich lag die Entscheidung, gemeinsam in einer Band zu spielen, ziemlich nah?
Wir haben immer wieder in Formationen gemeinsam gespielt. Ich war als Streicherin mit ihrer Band Velojet auf Tour, sie hat immer wieder in Volksmusikprojekten von mir mitgespielt. Wir setzten bezüglich der bevorzugten Musikrichtungen zwar immer schon unterschiedliche Schwerpunkte, aber als ich 2011 die Band ALMA gründete, war Marlene die erste, die ich frage, ob sie dabei sein will. Mir war es damals so wichtig, Menschen zu finden, die in der gleichen Musik wie ich aufgewachsen sind, aber visionärer unterwegs waren.
Welche Alma hat deiner Band ihren Vornamen gegeben?
Ich empfand Alma ganz lang als den schönsten Mädchennamen der Welt. Nachdem es das spanische Wort für Seele ist und „Alm“ drin steckt, man außerdem im Innviertel zu einem Jodler auch „Alma“ sagt, war es eigentlich recht offenkundig.
Bringt denn das Aufwachsen in volksmusikalischem Liedgut ein Bewusstsein für die Stimme mit?
Es ist für mich tatsächlich ein Thema, weil ich ja nicht Gesang studiert habe. Deshalb nehm ich Gesangsstunden und lerne auf diese Weise, was ich für meine Ideen brauche. Gleichzeitig berühren mich extrem ausgebildete, technisch perfekte Stimmen oft gar nicht so sehr. Ich hab einen sehr intuitiven Zugang zu meiner Stimme, das war ja immer Teil der volksmusikalischen Praxis.
Kann man eher gut singen, weil man immer gern Liedgut gepflegt hat, oder singt man erst, wenn bzw. weil man gut singen kann?
Es ist eine Verquickung. Abgesehen von Dingen, die man mag, aber nicht kann, ist es glaub einfach zu sagen: Ich mag das, das fällt mir leicht. Irgendwo ein zweite oder dritte Stimme dazu zu singen, lernt man automatisch, wenn man österreichische Volksmusik macht. Austerzende Mehrstimmigkeit oder auch dann Dreistimmigkeit hört man dann einfach und es wird klar, wie so ein Stimmverlauf gehen kann. Ich find es super, dass es viele VolksängerInnen gibt, die ganz markante Stimmen haben, ohne jemals irgendeine Ausbildungsstätte dafür besucht zu haben. Ich bin ein Fan von Naturstimmen.
Du hast neben ALMA ja noch weitere Projekte: Ramsch & Rosen als Duo und extended, du leitest mit Simon Zöchbauer das Festival wellenklænge in Lunz am See …
Ich versuche sehr achtsam mit meinen Kräften umzugehen, weil ich immer wieder in Erschöpfungszustände gerate. Zwar kann ich viel auf die Beine stellen, brauche vielleicht dazwischen aber auch mehr Erholungsphasen als andere Menschen, kommt mir manchmal vor. Dieser Eindruck wird noch stärker, wenn ich sehe, wie meine Schwester mit kleinem Kind wahnsinnig viele Konzerte spielt, nach Deutschland tourt und an der Uni unterrichtet. Sie tut das mit einer sehr großen Gelassenheit, die ich sehr bewundere. Meine Arbeit erfordert so viel Headspace und kommt mit viel Verantwortung daher, das macht es manchmal etwas erschöpfend. Gleichzeitig ist es ja so bereichernd, etwas für Andere auf die Beine zu stellen: Förderanträge für KünstlerInnen in Lunz am See, unglaublich viele organisatorische Prozesse und herausfordernde Koordination. Und es gibt auch noch viel Luft nach oben bezüglich des Förderwesens für Musik generell. Das ist im Tanz, Theater- und Performancebereich einfach viel durchdachter strukturiert, wenn beispielsweise mitbedacht wird, dass ein Bühnenprogramm sechs Wochen Probenzeit im Vorlauf braucht. In der Musik gibt es zwar Verantwortliche, denen das klar ist, aber es ist noch nicht umgesetzt. Und deshalb arbeiten MusikerInnen in Wirklichkeit viel zu oft unbezahlt.
Die Schwierigkeit der Einordnung lässt Fördermöglichkeiten nicht zu, wenn Musik die Disziplinen aufsprengt, was einen unglaublichen Gewinn darstellt.
Ich fühl mich in diesem Anliegen von der Stadt Wien und der Musikabteilung MA7 sehr gesehen und weiß, dass ihnen das ein Anliegen ist. Es wird einfach trotzdem noch dauern, bis wir dort sind, wo der Theaterbereich beispielsweise längst ist. Man muss sich das Wissen so zusammenklauben. Deshalb haben Simon und ich uns auch im Rahmen der wellenklænge das Jahresprogramm we:create für künstlerische Entwicklung überlegt, in welchem wir auch Beratungen in Projektentwicklung und Fördermittelsuche anbieten. Das ist etwas, das uns nie jemand beigebracht hat. Diese vielen Jahre an Versuch und Scheitern können so vielleicht etwas weiterbringen. Auch künstlerischer Unterricht bei Lylit, Marie Spaemann, David Six, Lukas Kranzelbinder und anderen ist Teil dieses Programms.
Wie gelingt es euch als Paar diese Aufgaben auszufüllen und euch dabei nicht abhanden zu kommen?
Wir haben uns oft die Frage gestellt: Welche Zusammenarbeit tut uns als Paar gut? Als wir die Wellenklänge gemeinsam übernommen haben, lag ein sehr intensives Jahr als Duo hinter uns, wir waren viel auf Tour, zeigten viel vom NASOM-Programm und arbeiteten an der Ganymed-Produktion. In diesem Konzertleben waren wir sehr angespannt und haben daher unsere musikalische Zusammenarbeit sehr reduziert. Wir wollten auch weniger für Auftritte ins Flugzeug steigen. Die Zusammenarbeit für das Festival lässt sich besser aufteilen, jeder hat seinen Aufgabenbereich und es gibt einen Jour fix pro Woche. Da können wir mit weniger Spannung und Stress zusammenarbeiten. Aber es ist ein permanentes Schauen, was uns gut tut, wann etwas zu viel wird.
Lunz am See trägt dieses Jahr den Slogan: Wut & Wandel. Ich verstehe Wut hier als Energie, die den Wandel hervorbringen könnte.
In gewisser Weise ist es eine logische Fortführung vom Thema des Vorjahres: Mut & Gerechtigkeit. Zudem ist es von Amani Abuzahra inspiriert, mit der ich für Nachbarin ein Interview geführt habe und deren neues Buch Ein Ort namens Wut heißt und davon handelt, was Rassismus mit unseren Gefühlen macht. Die produktive Kraft von Wut, wo sie herkommt, was sie verdeckt, dass sie uns ins Handeln bringen kann, aber auch ein Indikator für Ungerechtigkeit ist und aber eben auch der feministische Aspekt davon: dass man Frauen Wut weniger zugesteht als Männern und diese Emotion bei ihnen und marginalisierten Gruppen anders konnotiert als bei Männern. Es ist einfach eine sehr unbeliebte Emotion, aber ein sehr großer Indikator und kann in der produktiven Ausführung ein Warnsignal mit sich bringen, vorausgesetzt, die Leute schenken dem auch Gehör und sind bereit, Privilegien aufzugeben und nicht zu glauben, mehr Rechte zu haben, weil ich zufällig hier geboren bin.
Wandel ist ein ebenso unbeliebtes Thema, keine angenehme Bewegung. Wird es ein schwieriges Festival dadurch?
Es bringt Herausforderungen mit sich, klar. Jedes Thema, jede Saison hat ihre eigenen Tücken. Auch hier: Wir könnten es uns leichter machen. Aber der Kartenverkauf ist auch heuer wieder sensationell angelaufen und es ist schön zu sehen, dass unser Publikum unseren Weg so treu mitgeht!
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
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