Judith Fliedl
Mein Kammermusikpartner ist das Publikum
Erst kürzlich erhielt sie den „Best Practice Award“ für die erfolgreiche Zwischenpräsentation ihrer PhD-Studien an der Kunstuniversität in Graz und wird im Februar beim Impuls-Festival als Solistin ebenda gastieren: Violinistin Judith Fliedl. Ihr berufliches Gerüst ist so komplex wie stabil errichtet und legiert in ihrer Person Qualitäten wie Virtuosität und Repertoirekenntnis mit Nahbarkeit und analytischem Spürsinn.
Neben künstlerischem Doktorat und so einigen Musikprojekten trägst du auch eine NASOM-Nominierung in das kommende Jahr hinein.
New Austrian Sound of Music ist das zweijährige Förderprogramm des österreichischen Außenministeriums, in welchem ich letzten Sommer im Bereich der Zeitgenössischen Musik nominiert wurde. Durch meine Teilnahme an einer Podiumsdiskussion im Rahmen von wien modern im November als Forscherin im künstlerisch-wissenschaftlichen Bereich kam dann die Idee zu diesem Interview.
Diese Nominierung bedeutet, international sichtbarer werden zu können.
Während Corona war ich schon einmal 2020 bis 2022 ein NASOM-Act mit meinem Trio Artio, das sich mit rein klassischer Musik beschäftigt. Uns gibt es ja schon sehr lange, wir haben auch wegen NASOM unglaublich viel gespielt, waren Jeunesse-featured Artists. Die klassische Ausbildung zur Geigerin ist absolut die Basis meines Künstlertums. Erst in der Coronazeit begann meine intensivere Beschäftigung mit der zeitgenössischen Musik. Es geht seither in eine ganz andere Richtung bis hin zur zweiten NASOM-Nominierung, die mir als Solistin in der zeitgenössischen Musik mit meiner Forschung gilt. Ich möchte eine Publikumsdimension in meine Konzerte mit einbetten, die ich viel direkter und konkreter erkunden kann, wenn ich die einzige Interpretin mit nur einem Zuhörenden bin. Mein Kammermusikpartner ist zur Zeit eigentlich das Publikum. Und um diese Dimension weltweit zu erforschen, ist bislang geplant, auf Festivals neben meinen Solokonzerten auch Workshops zu halten und dadurch den Publikumsaspekt mit einzubeziehen.
Es bahnte sich mit der klassischen Musik ein erfolgreicher Weg für dich. Wie kam es dann zur Hinwendung zum Zeitgenössischen?
Es war keine bewusste Entscheidung, keine Wende. Musikmachen bedeutet, zu suchen. Ich hatte immer eine ganz natürliche Verbindung und viel Freude an der Neuen Musik. Sie gibt von allen Seiten ganz neue, teilweise noch nie dagewesene Strukturen und Muster vor, man kann sich darin also viel leichter erforschen und finden. Ich absolvierte das Nebenfach für zeitgenössische Musik beim Klangforum Wien und lernte bei der Violinistin Sophie Schafleitner. Sie war es, die mich dann einlud, 2021 noch ein Postgradualstudium für ein Jahr beim Klangforum Wien dranzuhängen. So konnte ich mir diesen ganz anderen Zugang zum Musikmachen einverleiben, ein ganz anderes Umfeld und eine andere Art und Weise, die Musik zu erforschen, kennenlernen. Ich bekam neue Blickwinkel auf die Gestaltung von Konzerten und die Präsentation von Musik und bin darin komplett aufgegangen.
Diese Erfahrung brachte dich dann zur PhD-Forschungsfrage, wie sich Konzerträume entwickeln lassen, um Publikum anders zu involvieren?
Wenn man ein Doktorat beginnt, glaubt man meist noch, es bräuchte eine klare Frage, die erforscht und abschließend mit dem Doktortitel honoriert wird. Tatsächlich definiert und präsentiert man sich immer wieder mit dem gerade aktuellen Stand und verändert sich dann weiter. Dieser andere Zugang zur Musik und damit auch zum Publikum der zeitgenössischen Szene brachte mich dazu, die Perspektiven innerhalb dieses Settings auch als Interpretin zu hinterleuchten. Aus der klassischen Musik kommend, gab es immer eine Barriere, die Neue Musik als zu intellektuell, zu trocken, zu schwierig, wenig ansprechend usw. einordnet. So wurde es mir zur Mission, zeitgenössische Musik so zu präsentieren, dass sich mehr Leute angesprochen fühlen können. Ich finde es schade, dass gegenwärtige Musik schwieriger Zugang findet. Nach zwei Jahren in der Forschung hat sich dieses Anliegen soweit geändert, dass ich das Publikum als Mitgestalter meines Forschungsprojektes nutze. Ich forsche also nicht über die Musik, über mich, über das Publikum, sondern mit allen Komponenten. Die Interpretin, die zum Glück direkt ich (selbst) sein kann, forscht mit der Musik, mit dem Publikum über das gemeinsame Erleben. Ich nutze zeitgenössische Musik, um mit ihrer Hilfe die Verbindung zwischen InterpretIn und zuhörender Person zu erkunden, zu analysieren und neu zu beleuchten und herauszufinden, was da eigentlich zwischen zwei Menschen mit und durch Musik passiert bzw. auch passieren kann.
Welche Mittel nutzt du dafür? Belehnst du dich an der Psychoakustik, Hörpsychologie? Welche Felder streifst du da?
Es gibt so viele Möglichkeiten, man hat unentwegt zu entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. Anfangs war mein Plan, neue Konzertformate zu erstellen und dafür interdisziplinär zu agieren. Recht schnell zeigte sich, dass es sinnvoller ist, im Kleinen zu beginnen und erst einmal herauszufinden, was es überhaupt bedeutet, wenn ich für jemanden spiele. Ich analysiere also das Kleine und gewinne daraus möglicherweise hoffentlich eine neue Qualität und ein anderes Bewusstsein. Ich führte 1:1-Experimente mit ganz unterschiedlichen ProbandInnen durch: gute Bekannte, Unbekannte, mit befürwortender und ablehnender Haltung zu zeitgenössischer Musik im Alter von 20 bis 80 Jahren. Dabei hat mich die Phänomenologie, das Erfassbarmachen des Erlebens interessiert. Ich entdeckte die interpretative phänomenologische Interviewmethode für mich, die in der Psychologie und Psychoanalyse Anwendung findet und wendete sie auf Interviews mit dem Musikerlebnis als Inhalt an. Das waren sehr intensive Gespräche mit bis zu vier Stunden Interviewdauer. Ich musste das Handwerkszeug lernen und lerne da auch sicher noch Jahre. Im Minciospace, einem Künstlerkollektivraum in der Minciostraße 17 im 15. Bezirk, konnte ich diese Gespräche führen und in die Tiefe gehen. In unterschiedlichen Settings spielte ich unterschiedliche zeitgenössische Stücke vor und erfragte dann das Empfinden und Erleben der jeweiligen Zuhörenden. Es entstanden sehr verschiedene und teilweise total unerwartete Ergebnisse und Situationen. Völlig unbedacht hatte ich die Frage gelassen: Was macht das mit mir? Ich wollte ja das Erleben der Zuhörenden untersuchen.
Nach welchen Kriterien geschah die Auswahl der Stücke? Und was ließ sich herausfinden?
Ich entschied mich, drei Stücke mit unterschiedlichen Charakteristika zu bearbeiten: ein ruhiges, leises, ein sehr körperliches, um das direkte Mitfühlen zu untersuchen, und ein außerordentlich komplexes Stück. Ich wollte herausfinden, wie die Grenzen gesprengt werden können, wenn man sich in die Komplexität richtig hineinfallen lassen kann. Dabei wurde die räumliche Distanz verändert, man konnte sich bewegen, mir auch sehr nahe sein. Viele entstandene Ergebnisse wurden bereits erforscht. Extrem spannend war aber das Aufbrechen von Nähe und Distanz, das durch Zufall geschah. Ein Proband hatte sich ganz nah an mich beim Spielen herangetraut. Im Interview danach kamen wir beide darauf, dass es einen sehr speziellen, magischen Moment gegeben hatte, eine Art Flow-Zustand, in dem wir die Musik gemeinsam so stark gleich gefühlt haben, dass es sich für mich anfühlte, als würde diese Person mich steuern, als gäbe es ein Zusammenspiel. Ich spiele nicht mehr nur für jemanden, sondern die zuhörende Person lenkt plötzlich den musikalischen Inhalt genauso, weil sie Einfluss nehmen kann, wenn ich das als Interpretin zulasse. Dieses Phänomen hab ich jetzt im zweiten Forschungsjahr tiefer ergründet.
Dieses Erlebnis nährt deine Mission, gibt dir gleichzeitig Antrieb und Orientierung. Peter Ablinger beschrieb ein solches Erlebnis als Schlüsselmoment, der sein ganzes Schaffen ausrichtete. Wie ein Trabant um seinen Planeten kreiste er sein ganzes Leben um diese eine Frage, der er in jungen Jahren wie vom Blitz getroffen begegnet war, und versuchte sie mit seinen Arbeiten zu ergründen, zu befragen, zu durchleuchten.
Für mich ist das sehr nachvollziehbar. Es gab ein Aha-Erlebnis, diesen besonderen Moment und der trägt mich durch mein künstlerisches Schaffen und gibt mir auch Halt.
Aber was heißt es überhaupt, dass jemand Einfluss auf ein Geschehen nehmen kann, während er zuhört? Das setzt ein Verständnis von Hören als Aktivität wie das Spielen voraus.
Dieses Erlebnis teile ich mit dem Zuhörer, er bezeugt es quasi und es ist dokumentiert, dass es eine Qualitätsveränderung meines Spielens gab. Auf ganz vielen Ebenen hat sich ab dem Moment des gemeinsamen Empfindens etwas geändert. In meiner Forschung nenne ich es mittlerweile “Miteinander-Fühlen”. Oft ist dieser Moment natürlich nicht entstanden. Er war eine Ausnahme, wie ein Geschenk, ein Schatz, den ich jetzt erforschen will.
Mit diesem Forschungsthema berührst du das Phänomen, welches sich während der Aufführungsbeschränkungen in der Corona-Pandemie zeigte: Was ist eine Konzertsituation ohne Publikum? Wie unterscheidet sie sich von einer Generalprobe? Gespräche darüber ließen Dynamiken zwischen Spielenden und Hörenden da eher diffus benennen.
Nunja, dieses Phänomen ist auch sehr individuell. Es gibt viele KünstlerInnen, die den Kontakt total brauchen, und manche, denen er nicht vordergründig für ihre Kunst erscheint. Für mich aber war das Gegenüber immer schon wichtig. Ich kann Nähe auch sehr zulassen, brauche diesen Kontakt sogar. Für meine Forschung jetzt zeigt es sich als Vorteil, dass ich sehr stark spüren kann, wann wie jemand bei mir ist oder nicht. Das ist vielleicht eine Art Begabung und Glück. Ich hatte im nächsten Schritt Kompositionen von StudentInnen meines Betreuers Clemens Gadenstätter an der Kunstuni Graz schreiben lassen, um zu erkunden, wie man mein Erlebtes aus dem 1:1-Setting in einem größeren Setting möglich machen kann. Wenn ich allein auf der Bühne stehe und 200 Menschen zuhören, ist diese starke Verbindung natürlich gar nicht so einfach herzustellen. Das Stück des Studenten Gerard Erruz mit vier im Raum verteilten Lautsprechern ermöglicht dem Publikum umherzugehen, während ich in der Mitte stehe und eine Person sich so nah wie möglich an mich herantraut. Sollte dieser Moment des gemeinsamen Erlebens entstehen, müsste das für die anderen im Raum über die Lautsprecher hörbar werden. Ich habe das in unterschiedlichen Konzertsituationen experimental auf mich zukommen lassen, erkundet und wahnsinnig spannende Ergebnisse erhalten, weil das dem Publikum natürlich nicht immer gleich leichtfällt. Gerade die zentrale Person, die sich in der Mitte mit mir zu agieren traut, braucht schon spezielle Eigenschaften. Wenn es trotzdem passierte, hat das die ganze Atmosphäre derart verändert, dass dieses Geschehen zwischen zwei Menschen wiederum eine Auswirkung auf die anderen Zuhörenden hatte und ein Gruppenempfinden entstehen konnte. In Videodokumentationen sieht das teilweise wie ferngesteuert aus, eine Person steckt die andere an und alle sind dann in einem Fluss, die Musik gewinnt an Qualität. Nun werden in weiterer Folge neben zwei jungen aufstrebenden Komponisten der Komponist Bruno Strobl sowie Gerd Kühr, der 2024 den österreichischen Staatspreis erhalten hat, ein Stück für mich und meine Forschungsvorhaben schreiben.
Was verändert sich da im Detail in der Musik?
Es ist eine ästhetische Erfahrung, aufgrund der sich das Bewusstsein für Raum und Zeit extrem wandelt. Seitdem sich dieser innere Schatz in mir befindet, weil ich diese Erfahrung mit der mir zuhörenden Person machen durfte, hat sich langfristig eine andere Vorstellung von Raum in mir entwickelt. Wenn ich jetzt eine Partitur lese, sehe ich gleich einen Raum, Distanzen. Musik hat eine Dimension gewonnen. Ich behandle und fühle die Musik beim Spielen jetzt ganz anders. Auch mein Zeitempfinden hat sich so verändert, dass die Distanzen nicht mehr so absehbar waren und dadurch ein Raum geöffnet werden konnte. Dieses Öffnen ist auch für die ZuhörerInnen spürbar. Man kann das unter anderem an meiner Körperhaltung sehen: ich werde lockerer. Dadurch gewinnt der Klang an Qualität, weil ich den Ton anders produzieren kann. Und ich bin mehr im Moment. Das Verweilen im Moment geschieht aber nur mit und wegen meinem Gegenüber. Dort entsteht diese neue Dimension.
Trotz meiner Angewohnheit, Interpretierenden und Improvisierenden bei Konzerten nicht zuzuschauen, um dem Hören weniger Ablenkung zu verschaffen, habe ich beim Hören deiner Donatoni-Interpretation dein Augenschließen an den Zäsuren, wenn Stille ist, bemerkt. Als würdest du diesen Moment im Stück figürlich ausstatten anstatt beispielsweise Zeiten zu zählen oder einfach abzuwarten. Ich habe diesem Augenschließen ein Einleben abgelesen. Und das hat mich an und im Stück gehalten.
Das war noch vor den Experimenten. Wenn ich zeitgenössische Musik spiele, kann ich meine Vorstellungskraft sowieso anders nutzen als bei dem Spielen klassischer Musik, weil ich da das Gefühl habe, sie mir mehr zu eigen machen zu können. Das andere so eingespielte Stück von Malin Bång habe ich nach der Erfahrung dieser Interviews noch einmal neu aufgenommen. Das ist zwar leider optisch nicht so schön, aber es klingt für mich wie eine andere Welt. Es ist so spannend, wenn man sich traut, ein Detail zu erforschen. So kann ja dann vielleicht auch etwas Großes entdeckt werden. Den Perspektivwechsel und das Kleine behutsam zu erkunden, hab ich durch diese Forschung bislang am meisten gelernt.
Wie ist es dir denn gelungen, diese Drehung vom Großen zum Kleinen zu vollziehen? Das hilft ja auch, überhaupt ein bearbeitbares Feld abzustecken und nicht in der Überforderung zu ersticken.
Ich habe mir einen tollen Studienplatz ausgesucht. Die Doktoratsschule für künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in Graz ist die älteste in Österreich. Seit einem Jahr habe ich dort auch eine Forschungsstelle unter der Leitung von Deniz Peters. Man lernt da, was es bedeutet, künstlerisch zu forschen. Ein wichtiges Tool ist es, viel zu lesen und zu experimentieren. Je nachdem, welcher Text bei einem zündet, findet man seinen Weg, wo man zu graben beginnt und in Details taucht und diese im künstlerischen Kontext ergründet und experimentell erforscht. Und so entwickelt sich die eigene Forschung auch ein bisschen zufällig, entlang der gefundenen Texte, Gedanken und gewonnenen Ergebnissen der Experimente.
Ob das dann Zufall ist, bleibt noch offen. Für mich lässt sich daraus auch ablesen, das künstlerische Forschung bedeutet, seinem eigenen, also einem sehr individuellen Weg zu folgen, der aber einen Mehrwert für alle bieten kann. Indem zugelassen bzw. eingestanden wird, dass das Erleben die forscherischen Fragen beeinflusst und nährt. Nur wie füllst du dieses ungeheure Fünfbein Promotion, Research Assistenz, Festival-Organisatorin, Musikerin und Trio-Gründerin mit Leben, ohne dabei zu erschöpfen?
Es ist viel. Seit Juli bin ich ja auch Residenzmitglied beim Klangforum Wien und spiele sehr viel mit ihnen. Das ist fantastisch, denn da kann ich in die zeitgenössische Musik auf dem allerhöchsten Niveau eintauchen. Das ist natürlich sehr zeitintensiv, genau wie meine eigenen Projekte, dazu die NASOM-Konzerte mit meinen Soloauftritten. Außerdem arbeite ich gerade auch an einem Theaterstück mit Jaqueline Kornmüller, die Ganymed gegründet hat. Dazu kommt die Stelle in Graz und die eigene Forschung. Ich hab zwar gerade überhaupt keine Freizeit, aber das entspricht auch meiner Lebensphase, in der ich noch keine anderen Verpflichtungen und genügend Kraft habe. Zudem bin ich mit dem großen Glück gesegnet, nur Dinge zu tun, die mich interessieren. Es ist natürlich nicht immer alles lustig und leicht, aber ich habe nie das Gefühl, schwer zu arbeiten.
Weil dich die Themen derart interessieren und reizen.
Sie bringen mich extrem weiter. Immer wieder stoße ich an meine Grenzen und weite sie aus. Ich war es beispielsweise als Musikerin gewohnt, auf der Bühne zu stehen. Vorträge halten und die eigenen Gedanken und Ergebnisse präsentieren zu müssen, war eine ganz andere Welt und nicht immer leicht für mich. Beruflich bin ich gerade auf eine Weise eingebunden, die mich immer wieder zur Erweiterung und Ausdehnung meiner Grenzen bringt. Ich hab zum Glück großen Gefallen daran gefunden und finde es schön, mich immer wieder zu trauen.
Du kommst mit deiner Arbeit ja dem Übersetzen zwischen Individuen, möglicherweise sogar anderen Lebewesen als nur den Menschen, also einem nonverbalen Kommunizieren näher. Das Austauschen, Aufeinander-Eingehen, Miteinander-Umgehen steht dezidiert im Fokus. Anders als bei der Impro, wo das Publikum zuschauen kann, wie Interpreten in Echtzeit miteinander agieren und aufeinander reagieren, unterstützt ja die Möglichkeit, über/mittels Musik Brücken zu bauen. Kommunikation zwischen Hörendem und Spielendem kann geschehen, abseits von Vorträgen, wo du dann darzustellen oder zu erklären versuchst.
Das drückt aus, was mir wichtig ist. Es ist nicht immer leicht zu erklären, was ich in meiner Forschung erlebe bzw. erlebt habe. Die künstlerische Forschung gibt mir Zeit, niederzuschreiben und zu analysieren, was MusikerInnen wahrscheinlich eh immer schon erleben.
Bereitet dir der Wechsel von einer Spielbühne an ein Vortragspult Schwierigkeiten?
Ich musste erst eine wissenschaftliche Sprache finden. Einen eigenen Vortrag zu halten, hat meinen Perfektionismus noch mal aufs Neue geweckt. Ich habe mir viel Zeit genommen, um solche Präsentationen wie ein Konzert vorzubereiten und zu üben. In meiner Zwischenpräsentation letzten Oktober wollte ich dann aber unbedingt aus diesem trockenen Vortrag ein Erlebnis machen und ein bisschen die Konventionen sprengen, wozu bin ich denn sonst Musikerin? Es war ein großes Verlangen, auf eine andere Art und Weise auch wissenschaftlich zu arbeiten. Das ist doch grad der Vorteil der künstlerischen Forschung: Wissenschaft und Kunst können sich fundamental bereichern und neue Erkenntnisse liefern.
Das setzt die Gleichstellung der verschiedenen Disziplinen voraus. Dann können Verständnis und Verständigung auf viel mehr Ebenen geschehen.
Ich habe da großes Glück mit meinen Eltern: meine Mutter ist Philosophin und Künstlerin, mein Vater Sprachphilosoph, in der Computerlinguistik tätig und Musiker. Mir ist es sehr vertraut, am Frühstückstisch zu philosophieren und zu diskutieren. Das unterstützte mein Interesse an anderen Themen neben meiner Liebe zur Musik und macht einen interdisziplinären Zugang selbstverständlich für mich. Es war schon immer mein Ziel und Suchen, auch noch etwas anderes zu studieren. Die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung ist jetzt deshalb das Richtige, weil es die Musik ja nicht ausklammert.
Für welches Projekt hast du 2023 ein Startstipendium für Musik und Darstellende Kunst des Bundesministeriums erhalten?
Das war schon ein Vorreiter zu meinen jetzigen Forschungen und eine große Hilfe, mich dieser Thematik intensiv zu widmen. Ich wollte die Wechselwirkungen zwischen Neuer Musik und dem Publikum anders ergründen.
Du arbeitest auch bei dem Theaterprojekt Ganymed-Bridge mit und hast 2023 ein Stück von Johanna Doderer mit aufgeführt.
Sie war auf mich zugekommen, als sie für Ganymed ein Stück schrieb, das im Kunsthistorischen Museum aufgeführt werden sollte. Eine total spannende und interessante Begebenheit, die wieder mein Thema, nämlich die Nähe zum Publikum nährte. Zu dieser Zeit sollten im Natur- und im Kunsthistorischen Museum 30 unterschiedliche Acts stattfinden, das Publikum bewegte sich durch die herrlichen Räumlichkeiten dieser beiden Museen und kam einem dabei sehr nah. So lernte ich also Jaqueline Kornmüller auch kennen, die jetzt im Strauß-Jahr ein Stück inszeniert, das jetzt im Jänner 2025 Premiere hat. Darin spiel ich wieder die Musik von Johanna Doderer mit.
Es bietet sich ja an, zeitgenössisches Musiktheater, das die Konventionen bzw. Trennung von Agierenden und Rezipierenden oft zu stören versucht, auch in deine Forschungsreise mit einzubeziehen. Wojtek Blecharz‘ Parkoper beschreibt ein ähnliches Setting, wo es dem Hörenden selbst obliegt, seine Dramaturgie zu gestalten, indem er sich zwischen den einzelnen Akten und Bestandteilen einer Oper bewegt und so eine ganz eigene Erleben erschafft. Der Hörende gestaltet mit unerwarteten Hörereignissen aktiv die Dramaturgie und erfährt trotzdem jedes Mal den Raum anders als erwartet und kann sich gleichzeitig sein Eigenes daraus nehmen, das Eigene wird freigelassen. Es wird eine Selbstermächtigung des Hörenden gleichzeitig vorausgesetzt und zugelassen. Ein demokratisierendes Prinzip.
Ein Kriterium zeitgenössischer Musik ist ja der Aufbruch, das Aufbrechen vorhandener Strukturen und Hierarchien, da gibt es bereits eine Menge toller Konzertformate, die das Publikum zur freien Entscheidung einladen, wann es wo hört. Dieser Aspekt ist in dem Forschungsstück meiner Zwischenpräsentation auch enthalten. Aber reden wir noch einmal in zwei Jahren, ich bin gespannt, in welche Richtung das gehen wird. Am wichtigsten ist für mich ja der Aspekt, gemeinsam im Moment, im Hier und Jetzt etwas zu erleben und zu teilen und sich wirklich aufmerksam zu öffnen, das auch zuzulassen.
Hat das Spielen auf einer Violine von Lorenzo Storioni eine erhabene Kraft für die Interpretation zeitgenössischer Musik? Wie ist es, dieses mit 300 Jahren Geschichte beladene Instrument in die Gegenwart zu führen?
Diese Violine begleitet mich schon gute acht Jahre und ermöglicht es mir, meine Vorstellung von Klängen ganz neu zu entdecken und mit und an ihr zu wachsen. Wahrscheinlich gibt es Menschen, die meinen, dass zeitgenössische Musik genau das gar nicht bräuchte. Aber dies erscheint mir als Fehlgedanke, der dazu führt, das diese Musik nicht so gut angenommen und gespürt wird. Das Suchen nach Klangvielfalt, unterschiedlichen Dimensionen und Schichten im Klang ist auch in der Zeitgenössischen Musik notwendig. Das Hegen und Pflegen von Klangdimensionen ist eine meiner größten Leidenschaften, egal, welche Musik ich spiele. Im Februar beim Impulsfestival spiel ich unter anderem ein Solostück von Georg Friedrich Haas, das natürlich an Tiefe gewinnt, wenn man mit so einer Geige spielen kann, weil sie mir einfach mehr Möglichkeiten bietet. Diese Geige ist zu meiner Wegbegleiterin geworden und wir gewinnen alle drei: sie, ich und die Musik.
Du hast auch ein Festival organisiert im letzten Jahr …
Das Sonify-Festival hab ich 2024 mit meinen MitdoktorandInnen im Rahmen meiner Universitätsassistenzprofessur organisiert. An der KUG ist glücklicherweise eine Stelle mit dem PhD-Vorhaben verknüpfbar: Ich darf viel der Zeit meiner Forschung widmen, hab aber natürlich auch Verpflichtungen gegenüber der Uni. Das Sonify-Festival war ein Teil davon und auch ausnehmend lehrreich. Dieses Jahr organisiere ich mit meinen KollegInnen ein Symposium für künstlerisch-wissenschaftliche DoktorandInnen und beginne mit dem Unterrichten. Ende 2026 ist das Doktorat dann auch schon vorbei.
Kannst du dir das Ende deiner Studien tatsächlich vorstellen?
Seit meinem 18. Lebensjahr bin ich auf der Suche und frage danach, was denn Musik bedeuten kann. Wie kann ich sie präsentieren, damit sie meinen Vorstellungen gerecht wird? Das ist eine lange Reise. Begonnen hat sie am Mozarteum in Salzburg bei hervorragenden Lehrern, ging dann zum Kammermusikstudium nach Wien, weiter nach Graz und ein Jahr in London. Ich hatte immer das Gefühl, noch mehr Inhalte zu brauchen. Dadurch hatte ich wahrscheinlich an die zehn LehrerInnen, darunter Igor Ozim, Pierre Amoyal und Heinrich Schiff. Das darauffolgende Postgradualstudium beim Klangforum Wien und Sophie Schafleitner noch gar nicht mitgezählt. In den letzten Jahren war ich natürlich schon beruflich sehr eingespannt. Aber das Lernen und Weiterentwickeln ist mir sehr wichtig, denn als Künstlerin studiert man ja eigentlich im besten Fall sein Leben lang. So wird aber auch deutlich, was mich als Musikerin ausmacht: der Prozess, das Ergründen und Suchen.
Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
Mein Kammermusikpartner ist das Publikum
Erst kürzlich erhielt sie den „Best Practice Award“ für die erfolgreiche Zwischenpräsentation ihrer PhD-Studien an der Kunstuniversität in Graz und wird im Februar beim Impuls-Festival als Solistin ebenda gastieren: Violinistin Judith Fliedl. Ihr berufliches [...]
Ich bin ein Klangarbeiter
Wojtek Blecharz ergründet das Zusammenspiel von Zeit und Raum und verbindet dabei virtuos und zwanglos benachbarte Felder wie Klangskulptur, Performance, Klanginstallation und Konzert. In seinen komplexen musiktheatralen Werken verarbeitet der Komponist Spezifika von Aufführungsorten, [...]
Ich muss nicht jedem gefallen
Morgana Petriks Handeln steht fundamental auf den zwei Beinen Selbstermächtigung und Selbstverständnis. Als langjährige Vorsitzende der ÖGZM hat sich die Komponistin in die Geschichte der österreichischen Gegenwartsmusik eingeschrieben, der Verein feiert heuer sein 75. [...]