Golnar Shahyar
Ich befinde mich immer dazwischen
Musik ist Golnar Shahyars Gold, mit dem sie Welt gestaltet. Tiefen Glanz vermag sie mit ihrer offenbar alleskönnenden Stimme in Innen- und Außenwelt zu verbreiten, schafft mit ihren Liedern musikalische Verbindungen zwischen Morgenland und Abendland. Und immer lauter setzt sie diese Stimme auch für demokratische Werte ein, verschafft sich mit Rundschriften Gehör und bildet wie mit We:shape Bündnisse. In wenigen Tagen erscheint ihr erstes Soloalbum Tear drop, das von der Innenwelt einer migrierten Iranerin erzählt. Ein Gespräch über innere Freiheit und die Kraft der Begegnung.
Gerade stehst du fast jeden Abend in der Hauptrolle von Negar auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin, heute ist Pause, am Wochenende geht es weiter. Wie fühlst du dich?
Es ist ja meine erste Oper mit einem sehr dichten Aufführungsplan. Aber daran habe ich mich schon gewöhnt. Herausfordernd waren für mich die Proben, weil ich französisch singen sollte. Die Regisseurin Marie-Ève Signeyrole ist ja Französin und hat in ihrer Sprache gedacht und geschrieben. Da die Geschichte aber in Teheran spielt, muss sie meiner Meinung nach mehrsprachig sein. Außerdem bringen die verschiedenen Sprachen sehr verschiedene Farben in das Stück. Ursprünglich waren drei Sprachen vorgesehen: Französisch, Farsi und Englisch. Ich habe keinen Zugang zu Französisch, das hat mich zu Beginn sehr irritiert.
Wie konnte es gelingen, ein derart aktuelles Thema so zeitnah auf die Bühne zu heben?
Das ist reiner Zufall. Die Entwicklung des Stückes hatte schon vor zwei Jahren begonnen.
Und du warst von Beginn an für die Hauptrolle vorgesehen?
Die Produktionsleiterin Dorothea Hartmann hat mich zusammen mit anderen vorgeschlagen. In Auditions wurde klar, dass Marie-Ève Signeyrole sich eine Stimme vorstellte, die nicht nur an der Oper ausgebildet wurde, sondern auch noch ganz andere Nuancen mitbringt.
In einer Besprechung des freitag wird Negar als Musiktheater vorgestellt – Musik spielt also eine vordergründige Rolle?
Oper ist Musiktheater in meinem Verständnis. Das ist eine Realität.
Martina Claussen beschrieb mir kürzlich, dass sie ihr Stück Blackboxed Voices bewusst „performative Sound Installation“ nannte, weil es mit allen Disziplinen arbeitete, um dem Begriff Oper und dessen brachialen Gewicht zu entgehen.
Es geht um Tradition, um Macht, um genaue Definitionen, damit sich eingeordnet und von da aus verteidigt werden kann. Und das hat eine lange Geschichte.
Spielt es für dich eine Rolle, ob du in Oper oder Musiktheater auftrittst?
Mir ist das egal. Ich möchte Geschichten erzählen, egal in welchem Setting oder unter welchem Namen. Musizieren hat eine andere Bedeutung für mich.
Am 27.11.2022 erscheint dein Debüt als Solokünstlerin: Tear Drop. Was ist die Dramaturgie des Albums?
Ich habe zwar immer in Bands gespielt, bin aber seit Jahren auch als GolNar solistisch unterwegs. Jetzt konnte ich das in ein Album packen und alles selber entscheiden: meine Musik, meine Arrangements. Ich spreche immer über die eigenen Gefühle als den einzigen Weg, sich zu orientieren. Aber wie bei Ode to trust auch darüber, wie sich mit Musik meine Kraft ausdrückt. Dieses Lied enthält eine Menge Kells, die diese Stärke signalisieren.
Was ist ein Kell? Er klingt ein bisschen dem Jodeln in den Bergregionen Österreichs verwandt …
Es ist bei beiden ein Schrei. Auch in kroatischer Folklore gibt es derartiges. Kell ist ein gesanglicher Ausdruck von Emotionen vor allem im westasiatischen und nordafrikanischen Raum, den nur Frauen einsetzen, um ihre eigene Freude oder Trauer und Schmerz zu zeigen, extreme Emotionen also. Auf einem sehr hohen Ton wird die Zungenspitze entweder vertikal oder horizontal in Vibration versetzt. Der Ton wird einfach gehalten und von der Zungenbewegung in Wellen geformt. Er ist in Morgenzeremonien oder auf Hochzeitsfesten von Frauengruppen vor allem im südlichen Iran zu hören.
Ode to trust beginnt sehr leise, fast zurückhaltend. Das zuhörende Ohr wird in das Stück gesogen und anschließend mit in die Höhen solcher Kells gehoben. Da wird so eine lyrische Atmosphäre erzeugt.
Diese Atmosphäre entsteht durch die Musik, aber auch durch ein energetisches Geschehen. Ich zelebriere in meiner Musik und besonders in diesem Lied gern die ganze Bandbreite von Gefühlen, von zart und zerbrechlich bis ungeheuer stark. Empowerment entsteht für mich durch eine Anerkennung der ganzen Palette an Emotionen. Und ich feiere die Verbundenheit. Tear Drop handelt davon: Ich erzähle von dem ganz tiefen Schmerz, sich nicht öffnen zu können. Eine unerwartete Begegnung kann aber ganz plötzlich das Ventil sein, sich zu zeigen. Über genau diesen Moment, wenn Menschen in einen so tiefen Kontakt zueinander kommen, spreche ich.
Aus Erfahrung?
Ja, natürlich. Ich schöpfe so viel Inspiration aus Begegnungen. Dadurch sind sehr viele Lieder entstanden, es war schwer für mich, eine Auswahl für Tear Drop zu treffen. Die Stücke für das Album sind entweder am Klavier oder an der Gitarre entstanden. Zuerst kommt für mich immer die Musik, dann schreibe ich Lyrics dafür. Anschließend arrangiere ich die Stücke gegebenfalls für Ensemble.
Du singst, spielst Gitarre, Klavier, Berimbau so selbstverständlich, als wär Musik für dich der Grundbegriff, das Ganze – unabhängig, womit du sie ausdrückst.
Deswegen habe ich keine Angst, mit den Instrumenten aufzutreten. Ich finde doch nur meine Musik mit ihnen. Und das ist meine Unabhängigkeit. Musik ist für mich Freiheit. Als Vokalistin ist man immer mit Ensemble verbunden und auf eine Funktion determiniert. Da ist es sehr schwierig, seinen eigenen Platz zu behaupten. Ich spiele total gern mit anderen zusammen, aber es ist auch sehr wichtig, eine eigenen Platz für meine Ideen zu schaffen.
Deine Texte singst du auf Englisch, Farsi, Arabisch. Kommt es dem Ausdruck deiner Inhalte zu Gute, dass du zwischen verschiedenen Sprachen wählen kannst? Würdest du auch Deutsch singen?
Vor allem Dialekt finde ich im Deutschen sehr schön melodisch. Durch meine Aufenthalte in verschiedenen Ländern, ist mein Verhältnis zu Sprache merkwürdig: meine erste Sprache ist die Musik, gefolgt von Farsi, Englisch, Deutsch. Ich kann mich aber natürlich nicht in allen Sprachen wie eine Muttersprachlerin ausdrücken. Die neuen Sprache habe ich ja als Erwachsene gelernt, als gleichzeitig ganz andere Dinge zu bewältigen waren. Auf Tear Drop singe ich vorwiegend Englisch, vielleicht auch um universell verstanden werden zu können, schreibe aber auf Farsi. Ich befinde mich immer dazwischen.
Dazwischen findet sich aber so viel.
Natürlich gibt es viel mehr Möglichkeiten, man verliert aber auch sehr viel Tiefe in der Sprache. Es braucht große Klarheit, um auch mit einfachen Worten auf den Punkt zu treffen.
Du warst nicht länger still und seither bereits mehrfach eingeladen worden, Österreich beim NASOM zu repräsentieren. Eine scheinbar paradoxe Entwicklung.
Österreich hat eine sehr korrupte Politik, es liegt immer nur an einzelnen Personen, wenn sich Dinge entwickeln. Was mich aber wirklich schmerzt, ist, wie wenig Österreicher ihre Wirkmacht erkennen und in Anspruch nehmen. Das ist ein gefährliches Signal für die ganze Demokratie. Wir leben gerade in einer sehr polarisierten Zeit. Deswegen kann man nicht mehr still bleiben. Es ist an der Zeit, etwas zu sagen, etwas zu tun. Tust du nichts, trägst du eine Mitschuld für das, was kommt. Wir müssen aktiv werden, um eine Gemeinschaft mit humanitären Zielen zu stärken.
Und humanitäre Ziele definieren, festhalten und ihnen universelle Gültigkeit rund um den Globus verschaffen. Eine Verständigung über die Nutzung von Begriffen wie „Musik“ oder „Klassik“ wären ein Anfang.
Wir müssen in ein Gespräch kommen. Aber viele marginalisierte Gruppen in Österreich glauben, keine Stimme zu haben. Oftmals konkurrieren ebendiese Gruppe auch noch untereinander und glauben, es werde ihnen etwas vorenthalten. Tatsächlich müssen wir aber zusammenkommen, um etwas für uns alle zu erreichen. Einzelkampf ist zum Scheitern verurteilt. Es braucht eine Gesprächskultur, um Standpunkte vermitteln und Verschiedenheiten aushalten zu lernen. Und wir brauchen systematische Methoden und Überlegungen, wie wir ein Verständnis von Diversität, Inklusion, Fairness und Offenheit dafür schaffen können.
Hat die Morgenland Akademie auch dieses Ziel?
Der Morgenland Akademie bin ich in diesem Sommer zum ersten Mal begegnet. Jahrelang wurde dort versucht, anderer Musik eine Plattform zu bieten. Die Umsetzung betrachte ich allerdings etwas kritisch.
Ist WE:Shape die Stimme, die sich gegen vorherrschende Bedingungen aufstellt?
Es ist das Maximum an Bemühungen im Moment. We:shape ist 2020 während der Pandemie entstanden, wir hatten plötzlich viel Zeit. Davor war ich zu den Amadeus Awards in Wien eingeladen und spürte, dass es reicht. Ich konnte nicht mehr länger still sein und erhob dort erstmalig meine Stimme. Ich versuchte zu diesem Anlass in der Brunnenpassage eine kritische Diskussion mit dem Titel Amadeus what? anzuregen und bekam Hilfsangebote von Yalda Zamani, Rojin Sharafi u.a. Durch die Pandemie haben zwar nie Treffen stattgefunden, aber Zooms, in denen wir ein Statement schrieben und Strategien fanden, unser Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Uns fehlen als Soloselbständige allerdings die finanziellen, zeitlichen und energetischen Ressourcen für große Aktivitäten. Wir haben uns gezeigt, versuchen wach und analytisch zu beobachten und auszusprechen, was gesagt gehört.
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Unterbrechung durch einen älteren Mann im Anzug:
Seid ihr nicht falsch hier? Nebenan ist wildes Frollein! – Neenee, wir sind ganz richtig hier. – Okay, alles klar, Mädchen!
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Also vertreten wir das Thema beim Kuratieren, bei Podiumsdiskussionen u.ä. Durch unser Statement zu WE:Shape bekommen wir zunehmend Anfragen, auch für Konzepte zu den Wiener Stimmen oder The Arts beispielsweise. So kommen wir zum Mitschreiben, Mitdiskutieren, Mitspielen, Sichtbar werden und Haltung zeigen.
Findet diese Haltung auch Eingang in deine Musik?
Für mich ist Musik Geschichten erzählen und dabei einen Sinn für Einigkeit, Stärke und Vertrauen zu üben. Es ist eine Praxis für Musiker genauso wie für das Publikum. Es wird kaum über diese Eigenschaften von Musik geredet. Musik ist Praxis, Kommunikation, Sprache. Sie transformiert Energie, Gedanken, erweitert die Vorstellungskraft. Sie ist auch eine darstellende Kunst.
Deshalb ist deine Kunst immer auch politisch.
Sie ist nicht nur deshalb immer politisch, sondern auch aufgrund meiner Geschichte, meines Hintergrundes. Als eine iranische Frau darf ich im Iran keine Solo-Karriere haben, nicht frei singen, die weibliche Stimme ist dort aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Wie kommt es dann zum „Kell“, den nur Frauen im Iran singen?
Natürlich singen die Frauen, auch wenn es ihnen nicht erlaubt ist. Singen ist wie atmen oder das Bedürfnis nach Wasser. Singen lässt sich nicht unterdrücken, das ist noch nie gelungen in der Menschheitsgeschichte.
Dass das aber Realität sein soll im Iran, ist nur schwer vorstellbar.
Es schockiert jede von uns. Obwohl wir wissen, wie es ist: sie stabilisieren ihre Macht seit 40 Jahren durch absolute Gewalt. Und wir wissen, was es bedeutet, dagegen aufzustehen. Jetzt ist es für jedermann sichtbar, doch so war es schon eine schlimme lange Zeit. Ich bin Migrantin der 1. Generation, die aus dieser Region stammt, Wurzeln in der westasiatischen Region hat, einer Region die als Zentrum von Katastrophe, Chaos und Brutalität gilt. Doch ich lebe und arbeite in Europa und finde meinen Weg in einer Gesellschaft, die bereits entschieden hat, welche Sicht sie auf diese westasiatische Region hat. Derweil haben sie keinen Schimmer. So ist es für jeden, der aus dieser Region kommt, eine sehr vielschichtige Herausforderung, hier zu leben und zu arbeiten, vor allem für Kulturschaffende. Weil der Europäer auch von Kultur einen fest einzementierten Begriff hat. KünstlerInnen und MusikerInnen arbeiten mit der ganzen Bandbreite an verschiedenen Menschen zusammen, sodass sie unentwegt neue bzw. andere Räume betreten. Musik ist hierbei meiner Meinung nach die sozial, politisch und überhaupt am meisten entwickelte Disziplin. Musik ist eine der letzten wirklich demokratischen Professionen, die wir kennen.
Das europäische Musikverständnis endet an den Grenzen des Kontinents und meint, die Begriffe damit voll auszufüllen.
Es gibt Labels für Musik. Und alles, was nicht europäisch oder unverstanden ist, wird in das Label „Weltmusik“ gepackt. Ich bin Anti-Weltmusik. Ich positioniere mich bewusst gegen dieses System. Dieses Label brauchten die Europäer, um ihre Nicht-Europäer aufführen zu können – ich nenne es „kommerziellen Exotismus“. Und der hat wenig zu tun mit der Musik, die rund um den Globus gegenwärtig passiert. Es ist wahrscheinlich unmöglich, die Vielfalt aller existierenden Kulturen jenseits von Europa zu beschreiben. Aber hier gibt es nur ein einziges Wort dafür. Das ist doch verrückt!
Dieses Problem ist systematisch und beginnt in den Schulen und Akademien, wo kein Platz für anderes ist. In Österreich gibt es Elitarismus und Klassismus und für Künstler keinerlei tariflichen Schutz. Künstler und Soloselbstständige sind politisch sehr schwach, weil sie für alles kämpfen müssen. Für diese wirtschaftlichen Aspekte gibt es auch kein Fach in der künstlerischen Ausbildung. Sie lernen, still zu sein, während sie nach Perfektion streben. Keiner spricht auch über den Machtmissbrauch in den Akademien, denn er wird als gegeben an- und hingenommen, vor allem in der klassischen Musik.
Sich selber zu labeln ist überlebenswichtig, um gesehen zu werden. Gleichzeitig brauchst du aber einen neuen Begriff, um deine Musik benennen zu können.
Ich vermeide einen neuen Begriff. Ich verwende hundert Begriffe. Solange es nur einen Begriff gibt, bekommen wir Probleme. Wir müssen die Musikindustrie und deren Infrastrukturen für den Rest der Welt öffnen. Klassische Musik, Oper, Rock, Pop, Jazz, Elektronische Musik, Filmmusik – warum glauben wir, dass solche Diversität in anderen Kulturen nicht existiert? Wir müssen die Funktionen von Musik betrachten.
Du bist soviel reicher, weil du um die iranische Kultur und die europäische Kultur weißt.
Das ist keine Frage von Reichtum. Es ist ein anderes System. Aber das Wissen, welches aus anderen Teilen der Welt kommt, wird hier in den Ausbildungsstätten nicht anerkannt. Hier wird eine außerordentlich exklusive Kultur ausgebildet, die exakterweise auch so genannt werden müsste: mitteleuropäische Klassik. Das würde den Blick auf die Ausbildung rechtfertigen. Über Jahre irritierte mich das: ich wusste von europäischer Kultur, aber auch von iranischer Kultur. Ich war überdurchschnittlich ausgebildet, wurde aber unterdurchschnittlich anerkannt. Warum werde ich nicht gehört. Es dauerte Jahre, bis ich dieses System begriff, in dem ich mich befinde. Während meiner Abschlussprüfung an der mdw im Jahr 2016 wurde mir klar, dass die Art von Musik, die ich performe, nicht anerkannt wird. Paradoxerweise wurde ich als nicht „divers genug“ bewertet. Tatsächlich wurde gesagt, dass meine Musik nicht im Repertoire vorkam und deshalb nicht an-erkannt werden konnte. Wann immer von „Pop“ oder „Musik“ gesprochen wird, wird das europäische Verständnis dessen gemeint. Obwohl vor allem in Österreich so gern von „offenen, toleranten Räumen“ die Rede ist, fühlte ich mich sehr verraten und hatte zu kämpfen, meine traumatisierenden Erfahrungen zu verarbeiten. Meine Musik ist sehr persönlich und macht mich sehr verletzlich.
Für dich ist Musik die Sprache?
Beides. Jahrelang dachte ich, Musizieren allein genügt, um verstanden zu werden. Aber das stimmt nicht. Man muss wirklich lernen, darüber zu sprechen und in einen sozialpolitischen Kontext zu bringen.
Also schreibst du deine Texte? Finden sich in deinen Liedern auch Einflüsse aus iranischer Folklore, beispielsweise dem Tasnif?
„Tasnif“ bedeutet Lied in der Popularmusik vor der Revolution im Iran. Es ist ein langes, textorientiertes Lied mit einer eigenen Struktur, die aus Melodie und Improteilen besteht. Meine Lieder kommen aus mir, ich zitiere nicht. Die Texte, die einen Weg in meine Musik finden, sind idealerweise sehr persönlich. Sie handeln von Dingen, denen ich gern Universalität zusprechen möchte. Mittlerweile denke ich, dass ich konkreter werden muss. Die Revolution im Iran fordert das. Mein aktivistisches Tun ist aber der Hintergrund, außerhalb meiner Musik. Das kann sich ja ändern.
Wo glaubst du, konkreter werden zu müssen? In der Musik oder in der Sprache?
Ich schaff es nicht schnell genug, die gegenwärtigen Ereignisse in meine Lyrics zu bringen. Meine Texte handeln von Empowerment, Resilienz, die Verbindung zu sich selbst halten, um weitermachen zu können. Ich hab aber bislang nie politische Begriffe wie Rassismus, Sexismus oder Mullah verwendet.
Oft will deine Stimme mit den Instrumenten verschmelzen, da führt die Konversation zu einer klingenden Verbundenheit: bei Ode to trust mit der Trompete, in der Band Gabbeh mit der Klarinette von Mona Matbou Riahi, manchmal sogar mit dem Bass von Manu Mayr.
Ich umarme diese großartige Fähigkeit der Stimme, sich wie ein Instrument zu verhalten. Ich verstehe uns nicht als Gesang mit Begleitung, sondern behandle alles gleich und setze meine Stimme folglich auch rhythmisch und harmonisch ein. Dadurch werde ich mit meiner Stimme zur Verbindung zwischen den Instrumenten. Die Stimme eröffnet mir eine enorme Vielfalt an Möglichkeiten zu komponieren, aber auch zu singen. Dafür genügt keine Gesangsausbildung, das muss man praktizieren, wie ein Handwerk. Zum Spüren und Verstehen der Stimme kommt das Machen.
Was bedeutet „Gabbeh“?
„Gabbeh“ ist ein Teppich der Nomaden im Iran. Sie improvisieren auf diesem Teppich ihre Gefühle, sehr minimalistisch, mit wenig Bewegung. Normalerweise haben iranische Teppiche sehr starke Muster und Farben, aber Gabbeh produzieren Frauen ganz nach ihrem Gefühl. Es ist auch eine Reflexion der Natur, in der sie sich ja unentwegt aufhalten.
Wie entstehen eure Stücke, wer notiert und komponiert?
Bei Gabbeh arbeiten wir zusammen. Hauptsächlich bringen Mona und Manu die Ideen, die wir gemeinsam dann entwickeln. Die performative Ebene kreiere ich dann meistens.
Und im Trio Mahan?
Seit mehr als 10 Jahren arbeite ich mit Mahan zusammen, wir habe anfangs gemeinsam komponiert. Jetzt komponieren wir unabhängig voneinander, das fordern unsere Arbeitsalltage einfach. Es ist keine Zeit mehr für gemeinsames Entwickeln und Erkunden.
Nadja Kayali eröffnete in diesem Frühjahr das Festival Imago Dei mit einem großen Liederzyklus, der Kulturen einander begegnen ließ, auch für Wiener Stimmen im Musikverein standst du im … als Vokalistin auf der Bühne. Ist das nicht Inbegriff deines Statements?
Meine Fokus liegt nicht auf Tradition, ich versuche meine persönliche Stimme zu formulieren. Aber politisch vertrete ich natürlich genau diese Haltung. Wiener Stimmen im Musikverein war symbolisch ungeheuer wichtig und ein superstarkes Statement. Dass sich der Musikverein für unsere Stimmen öffnet, ist ein großartiges Signal. Jetzt beginnen die Umsetzungsprozesse: Wie kann man die europäische Klassik und unsere Musik zusammenbringen? Es müssen Arrangeure gefunden werden, die sich wirklich mit den Kulturen auskennen, die die Sprachen sprechen und sich inhaltlich sehr gute auskennen. Dafür braucht es Offenheit, Lernbereitschaft, Recherche und größere Netzwerke von relevanten Personen. Sonst geraten Aufführungen zu Token Projects, Werke kultureller Aneignung.
Das ist der erste Schritt des Aufbruchs: Räume öffnen, Begegnung ermöglichen, Austausch und Diskurs anregen und natürlich dabei auch Fehler machen und Missverständnisse aushalten. Schritt für Schritt diesen Prozess vollziehen.
Deswegen stehe ich vollkommen hinter diesen Projekten und gehe in den Austausch an kritischen Stellen. Wir machen uns auf in neue Gefilde und ich freue mich sehr darüber. Und ich hoffe, dass diese Auseinandersetzung zusammen weitergeht, dass wir dranbleiben.
Auch beim diesjährigen wien modern erhebst du deine Stimme für das Projekt Fraufeld …
Für die letzte Produktion von Fraufeld habe ich mit Rojin Sharafi die zwei Lieder Jeeve II und Jeeve III aufgenommen. Wir sind beide so beschäftigt und freuen uns total, wenn wir mal konzentriert zusammenarbeiten und aufnehmen können. Die beiden Lieder, die wir bei wien modern spielen, sind bei einer gemeinsamen Impro-Session vor zwei Jahren entstanden. Rojin verwendet da Elemente, die nach „Jeeve“ klingt, was soviel wie „Quecksilber“ bedeutet.
Nach Berlin bist du beim KLAENG Festival in Köln, trittst bei wien modern auf, danach bist du über den Jahreswechsel in den Vereinigten Staaten …
Gott sei dank darf ich zum Arbeiten wieder unterwegs ein. Ich bin nicht die Künstlerin, die weiß, was im nächsten Jahr passieren wird. Es fehlt in der Ausbildung auch an Struktur, wie man nachhaltig künstlerische Aktivitäten haben kann. Wir brauchen zum Beispiel Teams und Kooperationen mit/für Künstler, die Netzwerke in den Szenen für PR, Booking, Managemnet bedienen. Eine Fehlstelle, die SolokünstlerInnen nicht auszufüllen schaffen. Für marginalisierte KünstlerInnen gilt das noch 10 Mal mehr. Wir brauchen mehr Lobbys.
Was ist Identität für dich?
Identität ist wandelbar. Sie ist der Punkt, wo sich der Fußabdruck der Vergangenheit und die Vorstellung von Zukunft begegnen. Sie formt sich unentwegt. Es war für mich ein jahrelanger Prozess, zu erkennen, was die vielen Labels und Begriffe bedeuten, in welchem System ich arbeite, mit welchen Problemen das einhergeht, wie man es weiterentwickeln kann. Ich kam ja ohne jede Idee hierher, hatten keinen blassen Schimmer und hab natürlich auch erst einmal unbewusst mitgespielt. Bewusst vielleicht auch ein bisschen, weil ich nicht wusste, wie es anders gehen soll. Mittlerweile bin ich klar, erkenne ganz genau und kann es auch ansprechen. Ich weiß um meine Identität, meine Musik und was ich damit erreichen möchte.
Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
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