büro lunaire
Wir wollen nicht auf sicherem Terrain die ganze Zeit sein
büro lunaire sucht und entwickelt neue Formen zeitgenössischen Musikschaffens. Der Verein wurde 2018 gegründet, um gewohnte Wahrnehmungsbedingungen von Kunst herauszufordern und neue Diskursebenen zu eröffnen. Aus der Notwendigkeit, auf gegenwärtige Rezeptions- und Produktionsbedingungen zu reagieren, werden Musik, Theater und bildende Kunst miteinander in Verbindung gesetzt. Die Schauspielerin, Vokalistin und Autorin Gina Mattiello und der Komponist, Klangregisseur und Musiker Reinhold Schinwald sind die Initiatoren.
Dies ist die Fortsetzung unseres ersten Interviews, bei dem die Aufnahme missglückte. Dieses Gespräch wie einen zweiten Durchlauf zu verstehen, hilft zwar, es in Angriff zu nehmen, trotzdem gruselt mir die Wiederholungstäterschaft, wohlwissend, dass das erste Gespräch in seiner Gesamtheit und Einzigartigkeit für immer verloren ist.
Reinhold Schinwald: Diese Einmaligkeit eines Ereignisses ist ja den darstellenden Künsten inhärent und ermöglicht es uns, Zeitlichkeit in verschiedensten Tiefendimensionen zu empfinden. Es ist für mich immer wieder verblüffend, zu sehen, wieviel Zeit und Energie in eine Produktion fließt, doch schon kurz nach einer Aufführung ist „die Bühne“ wieder leer, noch bevor das Publikum den Raum verlassen hat. Und ich nehme es vorweg: Wir sind zuletzt nicht in den digitalen Raum abgewandert. Für den Zuschauer wie für den Interpreten ist dieses Ereignis unwiederbringlich vorbei und hat doch bewusst oder unbewusst Spuren hinterlassen. Diese unmittelbare Erfahrung konfrontiert uns mit Zeitlichkeit, zwangsläufig mit unserer eigenen Endlichkeit. Genau darin liegt doch auch die Kraft einer Aufführung.
Gina Mattiello: Zum zweiten Versuch: Kierkegaard sagt, es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Beim Einstudieren einer Partitur oder eines Textes wiederhole ich immer wieder gewisse Abschnitte auf unterschiedliche Art und Weise und versuche mich so dem Material anzunähern. Auf der Bühne ist jede Wiederholung ebensowenig gleich, weil ich in dem einen Moment womöglich etwas anderes betone und auf die mich umgebenden Ereignisse reagiere. In der Wiederholung entstehen minimale Verschiebungen, die neue unvorhergesehene Verknüpfungen entstehen lassen.
Ist die Partitur, das Textliche nur eine Skizze, ein Geländer zur Orientierung, die Wiedergabe des Inhalts jedoch immer Sache der Interpretation? Im Geschriebenen steckt ja nie ausreichend das Gemeinte.
Gina Mattiello: Jede erneute Wiederaufnahme eines Textes ermöglicht eine neue Lesart. Da könnte ich mir die Frage stellen: Bin ich jetzt eine Andere geworden? Wir überführen uns so unserer oftmals unmerklichen, aber doch ständigen Veränderung. Vielleicht betrachten wir uns oder die Sache aber auch nur aus einer anderen Perspektive und das Wesentliche, der Kern bleibt bestehen. Bei manchen Künstler:innen beobachte ich, dass sie immer wieder um gewisse Themen kreisen.
Peter Ablinger befand jüngst im Interview, dass er oft Antworten auf Fragen fand, die er gar nicht gestellt hatte. Trotzdem ist er seinem Kernthema treu geblieben bzw. immer wieder darauf gestoßen, was er an früheren Aufzeichnungen auch belegen kann. Als gliche das Leben einem Bild von H.C. Escher: Der Mensch läuft darin unentwegt seinem Kern entgegen. Das nicht als Kränkung, sondern natürlichen Lebensvollzug zu erfahren, ist doch eine himmlische Haltung.
Reinhold Schinwald: Mit der Assoziation zu Escher bin ich mir nicht ganz sicher. Bei den Bildern, die mir da in den Sinn kommen, laufen die Menschen ja nicht einem Kern entgegen, sondern sind in einer Schleife gefangen. Solch paradoxe Systeme, die in sich geschlossen und gleichzeitig potenziell unendlich erscheinen, haben auf mich immer eine etwas beunruhigende Wirkung, da sich darin Zeitlichkeit als Geschichtlichkeit nicht manifestieren kann. Ich denke hier eher an Samuel Becketts Arbeit an einem durch Sprache vermittelten Verhältnis zwischen Bewusstsein und Welt. Sprache stellt zwar einen grundlegenden Bezug zwischen uns und der Welt her, dieser ist jedoch durch die Begrenztheit von Grammatik und Begrifflichkeiten markiert und hat zur Folge, dass uns ein unmittelbarer Zugang zur Wirklichkeit vorenthalten ist. Sein Werk begleitet ja der Versuch, diese Differenz voran zu schieben, was ihn in seiner Romantrilogie beispielsweise an die Grenze des Sprachlichen führt: totale Verknappung, ein permanentes Setzen und sofortiges Auslöschen, Irritieren oder Überschreiben.
Wo kommt man denn dann hin, wenn man diese Grenzen überschreitet?
Reinhold Schinwald: Erstmal wird die vermeintliche Sicherheit, die uns Sprache als Orientierung in der Welt gibt, infrage gestellt. Dieser Prozess schreitet bei Becketts Romantrilogie auf einer vordergründigen Ebene immer weiter voran und bringt seine Figuren gleichzeitig sozusagen an den Beginn ihrer Geschichte zurück. Wenn man so will ein zyklisches, geschichtliches Denken. Geschichten, die immer wieder um Geburt, Leben und Tod kreisen. In der Musik verhält sich das ganze ja etwas anders. Sie ist zwar stark in der Sprache verwurzelt, was sich auch in ihrem oftmals sprachhaften Charakter festmachen lässt. Sie kann ihren Ausgangspunkt aber auch wo ganz anders haben, wie man an den Entwicklungen der letzten siebzig Jahre gut sehen kann. Musik kann als Zeichensystem verstanden werden, das jedoch nicht an konkrete Begrifflichkeiten gebunden ist.
Wie steht es um den Zusammenhang zwischen Denken und Musik? Gerhard Richter verwies in einem Interview darauf, dass er ja male, um genau nicht denken zu müssen, was er male.
Reinhold Schinwald: Ich könnte mir vorstellen Gerhard Richter wollte mit dieser überspitzten Formulierung ausdrücken, dass Malerei eben Malerei und keine Philosophie oder Sprachkunst ist. Dass für ihn Entscheidungsprozesse anders ablaufen als in einer Welt, die mit konkreten Begrifflichkeiten oder sprachlichen Setzungen operiert. Da fällt mir ein Gedanke von Morton Feldman ein, der an einer Stelle einmal vom Komponieren als „etwas in Gang zu bringen“ gesprochen hat. Das Wesentliche beim künstlerischen Prozess scheint mir gerade das Abkommen von Ideen. Sie helfen zwar für eine gewisse Zeit, aber im Grunde sollen sie – um im Bild zu bleiben – etwas in Gang bringen, das einen im besten Fall selbst überrascht und frühere Vorstellungen mitunter auf den Kopf stellt.
Gina Mattiello: Die Offenheit des Ergebnisses ist das Geschenk im künstlerischen Prozess.
Reinhold Schinwald: Die Sache hat ein Eigenleben. Es braucht oft einen gewissen Aufwand, aber wenn es dann läuft, muss man auch wagen, einen Schritt zurückzutreten und der eigenen Intuition zu vertrauen. Und genau dann können diese Dinge passieren.
Ist das beim Schreiben auch so?
Gina Mattiello: Meine aktuelles Buch ist ein Abkommen vom Vorgenommenen. Als ich vor zwei Jahren in Paliano war, um an Aufzeichnungen einer Blinden zu arbeiten, sind Fußnoten entstanden, die mich schließlich immer mehr interessierten. Einer Schreibübung gleich, habe ich jeden Tag eine Fußnote festgehalten, die in meinen Prosaband Im Bett des Imaginariums mündeten.
Und ist bei dir für das Schreiben selbst eine Art Antriebsenergie notwendig, die diesen Prozess in Gang setzt, durch den sich ein „Eigenleben“ dann materialisieren kann?
Gina Mattiello: Es muss sich in mir etwas entzünden. Das kann durch ein Bild, ein Musikstück, Gelesenes oder ein Ereignis geschehen. Bei Aufzeichnungen einer Blinden waren es Werke von Philosoph:innen und Autor:innen, die sich mit dem okularzentristischen Denken auseinandersetzten und die Privilegierung des Auges in Frage stellen. Dazu gehören unter anderen Roland Barthes, Hélène Cixous und Jacques Derrida. Der Titel des Hörspieltextes Aufzeichnungen einer Blinden nimmt direkt Bezug auf Derridas Mémoires d’aveugle – L’autoportrait et autres ruines, eine für den Louvre zusammengestellte Ausstellung, bestehend aus Zeichnungen, die geschlossene, halb geöffnete, verbundene, zerstochene Augen zeigen. Das Thema der blinden Aufzeichnungen, „mémoires“, das Phänomen der „blinden“ Schrift wie auch die Frage, was geschieht, wenn der Sehsinn durch den Tastsinn ersetzt wird, geriet zunehmend in meinen Fokus. Es ging schließlich auch darum, die Blindheit der Sprache ins Spiel zu bringen, blinde Flecken sichtbar zu machen.
Hat dieses Interesse auch biografische Hintergründe?
Gina Mattiello: Ja. Basierend auf Gesprächen mit blinden Menschen habe ich zwei Frauenfiguren entworfen, die sich in ihrer Geschichte langsam annähern. Die eine ist blind, die andere sehend. Die sehende Frau leidet an Sehstörungen, an denen auch ich zeitweise gelitten habe.
Aufzeichnungen einer Blinden ist das jüngste Stück, das büro lunaire entwickelt hat.
Reinhold Schinwald: Richtig. Wir bezeichnen diese Arbeit als Live-Hörspiel, bei dem sehende als auch blinde und sehbeeinträchtigte Menschen weitestgehend die gleichen Bedingungen vorfinden sollten. Dafür haben wir den Raum abgedunkelt, das Publikum mit Dunkelbrillen ausgestattet und einzeln an die Plätze geführt. Eine Stunde lang konnte dieser Raum durch den Text, Schlagwerkstücke und Raum-Klang-Kompositionen für Cello und Live-Elektronik vordergründig „akustisch abgetastet“ werden. Für manche Sehende war es ein sehr eindrückliches Erlebnis nach dem Abnehmen der Brille die Differenz zwischen dem rein durch akustische Reize vorgestellten und dem gesamten Raum zu erfahren.
Gina Mattiello: In Kooperation mit dem Österreichischen Blindenverband und der Hilfsgemeinschaft der Blinden konnten wir trotz der erschwerten Umstände das Projekt mit Publikum realisieren. In dem schmalen Spalt der Öffnungen konnte die erweiterte Fassung im Künstlerhaus Wien stattfinden. Die Uraufführung war bereits im November 2019 im Schauspielhaus Graz über die Bühne gegangen.
Geht es büro lunaire um Erkundungen im Feld von Musiktheater?
Reinhold Schinwald: Auf jeden Fall. Aufzeichnungen einer Blinden ist ein Beispiel dafür: ein theatraler Prosatext in dem klangliche Beobachtungen und Beschreibungen aus der Alltagswelt der Figuren eine wesentliche Rolle spielen, war der Ansatz. Gerade für blinde Menschen dient das Hören und Tasten vor allem der Orientierung. Ich habe Stücke für Schlagwerk geschrieben, die sich in einer Nähe zum Text bewegen und weitere Assoziationsräume schaffen sollten. Neben dem Fokus auf die Klangwahrnehmung bildet der Tastsinn als eine Art erweitertes Auge einen zentralen Aspekt des Textes. Um diese Inhalte klanglich zu projizieren, habe ich mit Streich- und Wischgeräuschen auf Fellinstrumenten gearbeitet. Es war der Versuch eine poetische Klangumgebung zu schaffen, die es über Umwegen den blinden Zusehern ermöglichen sollte, bekannte Klänge aus ihrem Alltag von ihrer funktionalen Wahrnehmung zu entbinden. Gemeinsam mit der Inszenierung des Raumes und der Führung des Publikums haben wir ein musiktheatrales Setting erzeugt. Mit dem Konzert-Format Live-Hörspiel haben wir bereits beim früher entstandenen Projekt In Conversation – Voices and Piano gearbeitet, das auch musiktheatrale Anteile beinhaltet.
Ein Pendant zu Ablingers Voices and Piano?
Reinhold Schinwald: Eine konkrete Referenz. Ausgangspunkt waren die Radio-Conversations zwischen John Cage und Morton Feldman, die in den fünfziger Jahren über mehrere Tage hinweg in einem New Yorker Radio-Studio aufgenommen wurden. Darin diskutierten die beiden befreundeten Künstler sehr ungezwungen und kettenrauchend über ihr Welt- und Kunstverständnis. Was wir bei diesem Projekt herausarbeiten wollten, war, inwieweit die Fragestellungen der beiden Künstler in Bezug auf das Verhältnis von Wirklichkeit, Kunst und Alltag für unsere Zeitgenossenschaft sowie für aktuelle Kunstdiskurse, Gültigkeit haben. Zu den Radiogesprächen waren die Nature pieces for Piano von Morton Feldman sowie John Cages Child of Tree zu hören, das mit akustisch verstärkten Kakteen und Pflanzenmaterial als Klangerzeuger arbeitet. Dazu haben wir Werke von Peter Ablinger gesetzt. Das Tonbandstück The Vertical unthought mit seinem konkreten Bezug zu Morton Feldmans Werk Vertical Thoughts wurde an diesem Abend uraufgeführt. Besonders gefreut hat uns, dass Peter für dieses Projekt seinem Zyklus Voices and Piano einen „Cage-Feldman“ hinzugefügt hat, der auf dem Textanfang der Radio-Conversations beruht.
Also eine Erweiterung von Ablingers Stück, das ursprünglich nur eine Stimme verarbeitete …
Reinhold Schinwald: Ja, soweit mir bekannt ist, gab es bis zu diesem Zeitpunkt nur Solos.
… und dessen Aufführung im Wiener Museum für Moderne Kunst stattfand.
Reinhold Schinwald: Das mumok war für uns der ideale Ort dafür. Zu diesem Zeitpunkt war gerade die Ausstellung Malerei mit Kalkül zu sehen.
Gina Mattiello: Ein Jahr lang haben wir auf die Eröffnung dieser Ausstellung gewartet. In Absprache mit der Kunstvermittlung des mumok konnten wir unsere Idee realisieren und so eine Wechselwirkung von Bild und Musik möglich machen.
Reinhold Schinwald: Und das Warten hatte sich gelohnt: beispielsweise war ein großformatiges monochromes Bild von Gerhard Richter Teil der Ausstellung. Es hatte eine sehr dichte Textur, vergleichbar mit einer Wand und war auch noch grau! Vor diesem Werk haben wir Das Wirkliche als Vorgestelltes aufgeführt. Es war für mich beglückend zu erleben, wie zwei meines Erachtens verwandte Werke völlig unterschiedlicher Materialität miteinander im Raum vibrieren. Das Stück arbeitet mit einem live gesprochenen Text, der von unterschiedlichen Rauschklängen überformt wird, die aus dem vorab aufgenommenen Textmaterial hergestellt wurden. Die Stimme befindet sich – bildlich gesprochen – hinter unterschiedlich dichten Vorhängen. Sie vermag nur in Teilen und Momenten durchzudringen und führt so den Hörer an gewisse Wahrnehmbarkeitsgrenzen. Die Beschäftigung mit solchen Phänomenen zeigt sich ja in vielen seiner Stücke und stehen für mich in einem Bezug zu einigen Arbeiten Gerhard Richters.
Gina Mattiello: In mir entstand das Bild von unterschiedlichen Fenstern oder kleinen Öffnungen, durch die die Stimme hindurchdringen konnte.
Hattest du das Bedürfnis, dagegen anzuschreien, die Stimme zu erheben?
Gina Mattiello: Eine physiologische Reaktion wäre sicher ein Dagegen-Angehen. Aber es war wichtig, da einfach zurückzutreten. Dieses Prinzip ist mir von zeitgenössischen Theatertexten vertraut: Heiner Müller und auch Elfriede Jelinek haben an verschiedenen Stellen davon gesprochen, dass die Schauspieler hinter den Text zurücktreten müssen, dass sie einen Text nicht sprechen, sondern, dass sie vielmehr das Sprechen selbst sind. Es ging also darum, herauszufinden, was der Komponist und Autor eigentlich intendierte. Im Fall von Peter Ablingers Komposition musste ich mir die Lautstärke und die Sprechtonhöhe meiner Stimme von der Aufnahme memorieren und diesen „Abdruck“ an den Aufführungsort anpassen. Ich war natürlich unverstärkt.
Wie ist das Stück konkret umzusetzen, „verarbeitet“ es doch die Stimme des Interpreten, die in Aufführungen zuvor immer die des Komponisten selbst war?
Reinhold Schinwald: Die Komposition ist nicht an die Stimme eines bestimmten Interpreten gebunden. Peter hat eine sehr exakte Anleitung für die technische und interpretatorische Umsetzung erstellt. Da die zugespielten Rauschklänge zur Gänze aus dem vorab aufgenommen Text erzeugt sind, muss auch für jeden Interpreten ein individuelles Aufführungsmaterial erstellt werden. Wie das konkret zu machen ist, hat Peter, wie ich in eurem Interview gelesen habe, ja sehr ausführlich dargelegt.
Gina Mattiello: Dass Das Wirkliche als Vorgestelltes an den Anfang von Conversations – Voices and Piano gesetzt wurde, sollte als eine Art Statement verstanden werden. Ablingers Arbeiten sind konsequent und radikal, verunsichern Gewohntes und eröffnen einem ein anderes Denken, erst recht, wenn man, wie ich, von einer anderen Sparte, vom Theater kommt.
Führte euch das gemeinsame Interesse an sprachkritischer Philosophie zu büro lunaire?
Reinhold Schinwald: Das ist auf jeden Fall ein Aspekt. Wir beschäftigen uns intensiv mit sprachkritischer Literatur und Kulturkritik, die daran angrenzt und sich mit Spracherwerb und Machtdiskursen auseinandersetzt. Sichtbar und hörbar wird dies vor allem in unseren musiktheatralen Arbeiten.
Gina Mattiello: Unser erstes gemeinsames Projekt war die Kurzoper fremd körper beim Taschenopernfestival in Salzburg. Das war zwar vor der Gründung von büro lunaire, aber die Basis für unsere Zusammenarbeit hat sich daraus ergeben. Wir bemerkten, dass wir an denselben Dingen leiden. Im Laufe der Arbeit stellten wir fest, dass wir uns auf verschiedenen Ebenen treffen: es ist nicht nur unser gemeinsames Interesse an bestimmten Textsorten, sondern wie wir Musiktheater insgesamt denken. Die prinzipielle Fragestellung warum, wie und wann auf der Bühne gesungen oder gesprochen wird, ist für uns zentral für die Entwicklung musiktheatraler Formen. Dazu kommt unsere Vorliebe für Inszenierungen und Bühnenbilder, die stark von der bildenden Kunst geprägt sind, wie es beispielsweise bei den Arbeiten von Claudia Doderer der Fall ist. Gemeinsam mit ihr entwickeln wir das Musiktheaterprojekt RING Modulationen bei dem von Beginn an ein kollektiver Prozess unter Einbindung der Möglichkeiten von Musik, Theater und bildender Kunst im Mittelpunkt steht.
Wofür hat es büro lunaire dann gebraucht? Und wie kommt es zu dessen Namen?
Gina Mattiello: Es ist aus der Notwendigkeit entstanden, auf gegenwärtige Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu re-agieren. Die Zusammenarbeit mit Künstler:innen aus anderen Bereichen öffnet uns Räume und neue, ungewohnte, manchmal auch ungeahnte Perspektiven. Wir müssen unsere Hör- und Sehgewohnheiten immer wieder hinterfragen. Wir wollen nicht auf sicherem Terrain die ganze Zeit sein.
Reinhold Schinwald: Was die Namensgebung anbelangt: büro lunaire bezieht sich klarerweise auf Arnold Schönbergs Melodram Pierrot Lunaire – einem Klassiker der Moderne bei dem Musik über gesprochenem Text läuft. Darüber hinaus behandelt dieses Werk das Problem des Sprechtons im musikalischen Kontext. Dies war auch Thema des oben genannten Opernprojekts fremd körper, bei dem die Klanganalyse eines vorab aufgenommenen dramatischen Textes die Grundlage für die musikalische Struktur bildete. Intention der Klanganalyse war es, eine musikalische Struktur zu gewinnen, die eine Kohärenz zum Textmaterial aufweist und es ermöglicht, die klanglichen Anteile der Stimme wie beispielsweise das permanente Schwanken der Sprechtonhöhe oder die komplexe Rhythmik kompositorisch zu bearbeiten. Die Stimme wurde so zum eigentlichen Protagonisten des Musikdramas.
Gina Mattiello: Als Stimmperformerin interessieren mich gerade solche Zugänge der Sprachbehandlung wie sie auch der Komponist George Aperghis in seinen Récitations verfolgt, in dem Theater aus den musikalischen Anteilen des Sprechens selbst hervorgeht. Diese Schnittmenge bildet die Grundlage unserer musiktheatralen Arbeiten …
Reinhold Schinwald: … die in unserem „büro“– vergleichbar vielleicht mit einem Architekturbüro – von der Idee bis zur Realisierung entwickelt werden.
Ist nicht dem gegenüber Schreiben bzw. Komponieren ein sehr isolierter, einsamer Vorgang?
Gina Mattiello: Ja, Schreiben ist sicherlich ein einsamer Vorgang. Man muss sich zurückziehen können.
Reinhold Schinwald: Aber wir zehren vom kollektiven Prozess unserer Projekte. Und die Arbeit an Kunst besteht doch aus dem stetigen Wechsel des sich Aussetzens und wieder Zurückziehens. Meinen Kompositionen gehen oftmals Instrumentalrecherchen voraus, die in enger Zusammenarbeit mit den ausführenden Interpreten erfolgen.
Es kann also eine stufenartige Entwicklung stattfinden bzw. gibt es Stufen verschiedenartiger Zugänge. Klassisch total voneinander abgetrennt, wie zu den Anfängen der Oper, als Librettist und Komponist nicht miteinander agierten …
Reinhold Schinwald: Aber gib es auch früheste Beispiele von Kooperationen: Claudio Monteverdi und Alessandro Striggio zum Beispiel. Oder später auch Ranieri de’ Calzabigi und Christoph Willibald Gluck. Was Du vielleicht meinst, ist die Phase, als Oper eine kurzlebige Unterhaltungsform war, die am laufenden Band produziert wurde und eine Vielzahl an bereits vorhandenen Libretti verschlang.
Gina Mattiello: Der Rückzug in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm ist wohl eine veraltete Vorstellung, die Arbeitsweisen und Formen sind andere geworden.
Reinhold Schinwald: Wir denken unsere Disziplinen nie isoliert und das ist auch ein Punkt, an dem wir uns treffen.
Gina Mattiello: Bei Aufträgen von Opernhäusern sieht die Situation für Komponist:innen oft ganz anders aus. Das hängt auch mit der Schwerfälligkeit der Institutionen zusammen. Im Kontext der freien Szene können leichter andere Formen und Arbeitsweisen erprobt werden, was oft dazu führt, dass Projekte von Anfang an gemeinsam entwickelt werden können. Bei unseren büro lunaire-Projekten fragen wir uns nach den Bedingungen, die es braucht, um Kunst entstehen lassen zu können.
Reinhold Schinwald: Dazu benötigt es natürlich auch Produktionspartner, die diese Prozesse mittragen wollen und können.
Ist das räumliche Denken von und in der Musik die Folge vom Einbezug der Bildenden Künste?
Reinhold Schinwald: Es gab einige Arbeiten von mir, in denen Konzepte der Bildenden Kunst meinen Kompositionen zugrundeliegen.
Bei Grid for Agnes Martin zum Beispiel?
Reinhold Schinwald: Auch, ja. Dieses Stück ist eine Hommage. Was mich interessierte waren klangliche Entsprechungen zur Luzidität ihrer Farbschichtungen zu finden. Ihre Arbeiten haben etwas sehr Leichtes, …
Gina Mattiello: … Atmendes!
Reinhold Schinwald: … aber auch Strenges. Die Frage der Durchlässigkeit von Klangschichtungen beschäftigt mich aber schon seit Längerem. Schichtmodelle begannen mich während einer Residency in den USA zu interessieren, wo ich die New Yorker bildende Künstlerin Mary McDonnell kennenlernte. Sie steht, wie Agnes Martin, in der Tradition der abstrakten Expressionisten und betreibt in erster Linie Tafelbildmalerei. Sie verwendet für ihre Ölbilder Holzstöcke, Eiskratzer oder Rakeln mit denen sie unzählige unterschiedlich durchlässige Farb- und Terpentinschichten übereinander lagert, die oftmals auf unvorhersehbare Art miteinander reagieren und so eine spezifische Komplexität hervorbringen. Die Künstlerin sprach in diesem Zusammenhang oftmals von ihren struggles. Die Einblicke in ihre Arbeitsweise und die Eindrücke ihrer Arbeiten inspirierten mich einige Zeit später ein Ensemblestück zu schreiben. Interessant waren für mich die Übergänge dieser Überlagerungen, wo keine Einzelfarben mehr auszumachen sind, wo ein großer Reichtum an Farbabstufungen und Amalgamierungen entsteht. Das erzeugt eine immense Tiefenwirkung. Gleichzeitig sieht man an den Rändern die Einzelbestandteile, sieht , woraus es gemacht ist. Das habe ich versucht in mein Stück zu übertragen.
Gina Mattiello: 2018 haben wir mit der Künstlerin an zwei aufeinander folgenden Tagen und an unterschiedlichen Orten in Wien die Projekte re-lay^1 und re-lay^2 realisiert. Wir haben einige ihrer Arbeiten gezeigt und Kompositionen aufgeführt, in denen bildnerische wie klangliche Konzepte gleichermaßen wirksam sind. Neben einer Auswahl ihrer Ölbilder war eine Arbeit zu sehen, die eigens für dieses Projekt entstanden ist. Es handelte sich dabei um das von der Künstlerin überstickte Manuskript des Ensemblestücks von dem Reinhold eben gesprochen hat.
Kennst du diese „struggles“ mit dem Material auch?
Reinhold Schinwald: Ja, durchaus. Es erstaunt mich, dass beim Komponieren immer wieder der Eindruck entsteht, bei Null anfangen zu müssen, womit zeitweise ein Gefühl von Verzweiflung einhergeht.
Das ist eine buddhistische Manier, sich gefühlt auf Null zu setzen, um immer wieder von Neuem erfahren zu dürfen, sich immer wieder vor ein leeres Blatt zu setzen. Was lässt euch immer wieder da ansetzen? Warum macht ihr das? Aus Interesse am Ergebnis? Das unbedingte Erleben-wollen einer möglichen Antwort auf die Frage?
Reinhold Schinwald: Ich weiß es nicht. Komponieren ist eine verrückte Tätigkeit. Der Weg von ersten Ahnungen bis zur Aufführung ist oft langwierig und voller Ab- und Umwege. Wenn es bis zur Aufführung kommt, ist es eine doch meist beglückende Erfahrung, vielleicht vergleichbar mit einer anstrengenden Bergtour, bei der man am Ende mit einer grandiosen Aussicht belohnt wird. Hier wie da ist das Runterkommen dabei oftmals der gefährlichste Part.
Es zieht einen diese Magie in ihren Bann, auch wenn der Preis dafür ein hoher ist. Sich herauszugeben in etwas Ungewisses ist auch immer ein Akt der Selbstveräußerung und …
Reinhold Schinwald: … Hingabe.
Gina Mattiello: Es geht immer um einen Prozess des Sich-Aussetzen-Wollens, um Entdeckungen, Entwicklung von Beziehungen, die Suche nach neuen Formen, vielleicht auch nach Unmöglichem. Ich denke, es geht nicht um Antworten. Es geht darum, Fragen zu stellen. Wachsam zu bleiben gegenüber der eigenen Praxis. Welche Folgen haben meine Handlungen, was passiert, wenn ich einen Prozess unterbreche oder abtrenne? Kann ich die Fäden wieder aufnehmen?
Ist das nicht auch eine ganz gegenwärtige Beschreibung der Zustände, nämlich radikal abgeschnitten worden zu sein, sodass ein Vakuum und die Frage nach dem Weitertun und -nähren entsteht?
Gina Mattiello: Absolut. Das Anteilhaben an solchen Prozessen ist wesentlich, auch die Frage, wie verschiedene Ebenen in Einklang zu bringen sind. Beim Wegbrechen von so Vielem wurden wir mit der Frage konfrontiert, wie sich Lähmung überwinden lässt. Wie bleibe ich im Fluss des Schaffens, des Schreibens, des Hinausgehens und Präsentierens, des sich wieder Zurückziehens, des Sammelns? Das sind essenzielle Vorgänge, die uns als Individuen wie als Gesellschaft am Leben halten. Das letzte Jahr hat uns die Verletzlichkeit des Menschen, ja ganzer Gesellschaften vor Augen geführt.
Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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