Peter Ablinger
Wenn ich scheinbar woanders hingehe, gehe ich eigentlich nur verkehrt zurück
„Mit dem Rücken zur Tür schau ich weiterhin auf das, was ich liebe: das Konzert. Und geh rückwärts aus dem Saal, damit ich besser verstehe, was so ein Saal ist. Und ich geh weiter rückwärts die Konzerthaustreppe herunter, aus dem Konzerthaus heraus, geh rückwärts auf die andere Straßenseite, damit ich sehe, was so ein Konzerthaus ist. Was sind seine Nachbargebäude, welche sozialen Strukturen gibt es? Dann stoße ich bald ans Beethoven-Denkmal oder ich steh dann irgendwo im Garten der Bildenden Kunst.“ Peter Ablinger denkt nicht an Erweiterungen des Musikbegriffs, er reflektiert Musikgeschichte und reagiert darauf und schafft so eine Wahrnehmungslehre von Klängen.
Deine Homepage wirkt wie ein Fundus, ein Archiv, man bekommt ein unglaublichen Einblick in die Fülle deiner Werke und Überlegungen.
Die Website ist auch für mich zur ersten Anlaufstelle geworden, wenn ich etwas suche. Zu jeder Anfrage hab ich die jeweiligen Informationen online gestellt und so ist über die Jahre eine Ordnung entstanden, eine möglichst übersichtliche Orientierung. Sie soll in erster Linie praktisch und zugänglich, einfach handhabbar sein.
Woran hat sich Dein Selbstverständnis entwickelt, deine Werke darzustellen, in eine Übersicht zu bringen?
Ein gut Teil ist einfach schon Anlage, ein gewisser Sinn für Ordnung wohnt mir inne. Es hat einen gewissen Erholungswert für mich, im Bücherregal die Bücher zu ordnen und ähnliches. Als sich mit dem Internet die Möglichkeit einer Website auftat, fand ich das unheimlich erleichternd, weil noch in den beginnenden Neunzigerjahren der postalische Versand meiner Werke fast täglich einen halben Tag Zeit beanspruchte.
Wie kommst du zu Konzentration?
Ich hab da kein Problem. Stressige Phasen sind eher die Reisephasen mit vielen Bewegungen und Terminen. In Zeiten mit wenigen Terminen, jetzt mit Corona ganz besonders, gleicht mein Alltag eher dem eines Mönchs. Ich radel morgens in mein Atelier, bin dann da den ganzen Tag, kehre zum gemeinsamen Abendessen zurück und erledige danach meist den Mailverkehr. Im Atelier hab ich bewusst kein Internet und verzichte auch auf telefonische oder andere Erreichbarkeit. So gibt es dort nur die Konzentration und mich.
Apropos Corona: Wie bist du zur Corona-Suite gekommen?
Das Stück ist entstanden aus einem Loch, in das ich fiel, als Corona begann. Doch obwohl es sich so anfühlt, als sei Corona schuld, ist dem nicht so: Ein großer Auftrag, der gerade im März beginnen sollte, für den ich mir die nächsten drei Monate freigeschaufelt hatte, um nur und ausschließlich daran zu arbeiten, fiel weg. Ich weiß schon gar nicht mehr, was es war, denn ich vergess so schnell. Eine sehr hilfreiche Eigenschaft übrigens. Es war also plötzlich nichts zu tun und gleichzeitig kam der Lockdown. Außerdem hatte ich eine intensive Re-Lektüre-Phase von Samuel Beckett – während seine Theaterstücke ja oft etwas clowneskes aufweisen, erscheinen mir seine Romane oft sehr autobiografisch. Zusammen mit Beckett und der Corona-Atmosphäre schlitterte ich also auf eine Depression zu, hatte das Gefühl der Sinnlosigkeit und empfand die sonstige Gegenmaßnahme, ein Stück zu beginnen, auch sinnlos. Ich habe also dann das Sinnlose als solches getan: irgendeinen Blödsinn, von dem ich niemals gedacht habe, dass ich ihn jemals realisieren würde: kleine Unsinnsideen als Notizbucheinträge, die quasi kleine Tagesaufgaben waren. Zusammen mit dem Corona-Blog konnte ich das dann langsam bündeln.
Du hast auch in San Francisco solchen „Unsinn“ notiert?
Ja, kurz vor dem Lockdown kamen wir aus San Francisco zurück und diese Aufnahmen waren eben auch solche „Kleintaten“, im Gegensatz zu Großtaten, die ich dort am vorletzten Tag aufgenommen und im Rahmen dieser Serie nun veröffentlicht habe.
Es ist also eine Clownssuite, eine Art Notizblock, aber keine Auseinandersetzung mit Corona …
Natürlich nicht direkt, doch auch wenn die Motive zusammengesetzt und nicht nur von Corona verschuldet sind, ist es doch Thema. Im Blog habe ich ja beispielsweise das Sinnlose thematisiert und beschrieben, wie der Unsinn möglicherweise das Einzige ist, was einen stützen kann oder in einem gewissen Sinn auch die Kunst rechtfertigt, und danach auch gehandelt.
Stimmt mein Eindruck, dass Visualierungen in deinem Schaffen stetig zugenommen haben?
Es stimmt schon, dass ich mehr davon rausrücke oder auch Videos beispielsweise produziere, weil der Zugang dazu viel leichter geworden ist. Aber die Bedeutung des Visuellen ist für mich natürlich immer die gleiche geblieben. Als Teenager wusste ich nicht, werde ich Bildender Künstler oder werde ich Musiker? Das war für mich beides essenziell und gleichwertig, blieb es gewissermaßen auch, denn die visuelle Kunst blieb immer mein Begleiter und Inspiration. Was wesentliche Entwicklungen zeitigte: der Phonorealismus ist natürlich ein versuchtes Analogon zum Photorealismus. Als ich mit 19 Jahren, da war ich noch Jazzmusiker, das erste Mal vor einem riesigen photorealistischen Bild stand, waren meine eindrücklichsten Fragen: Was zum Teufel ist das und was würde das in Musik bedeuten? Seither hat mich diese Frage nicht mehr losgelassen, bis ich schließlich in den 90er-Jahren die ersten Kontakte zu digitalen Technologien im Experimentalstudio Freiburg bekam. Ich hatte Fragen an die Technik, die über die bisherigen Instrumentallösungen hinausgingen, musste neue Ansätze finden, und bekam in Freiburg Antworten. Mit Peter Böhm in Wien konnte ich dann weiterarbeiten und schließlich mit dem IEM Graz die Arbeiten über Jahrzehnte perfektionieren.
Deine Suche gilt der Übersetzung in Musik – dadurch kommen Konzepte zustande, für deren Verwirklichung technischer Fortschritt notwendig ist, der teilweise noch Jahrzehnte beanspruchte … es gibt also jetzt Realisierungen längst gedachter Dinge von dir.
Beim Phonorealismus ist es ganz eindeutig so. Ich wusste um die Unglaublichkeit meines Gedankens über einen möglichen „Phonorealismus“ als 19-Jähriger. Ich war total aufgeregt, weil mir klar war, dass allein die Frage wahnsinnig wichtig war, auch wenn ich keinerlei Antworten kannte. Der erste Schritt war zwar so klar wie simpel: Wenn die Maler mit einer Photographie beginnen, musste ich mit einer Phonographie starten, also einer Aufnahme. Unmittelbar darauf legte ich meine ersten Fieldrecordings an. Als damaliger Jazzmusiker begann ich zu diesen erst einmal zu improvisieren, etwas anderes stand mir ja noch nicht zur Verfügung. Eine Art Amalgam, die Aufnahme mit den Instrumentaltönen so zu verschmelzen, dass es Eins wird, schwebte mir vor. Meine Improvisationen dazu stellten mich nicht zufrieden. Aber die Richtung war eingeschlagen und niemals vergessen. Erst als ich 1995 mit digitaler Technik in Kontakt kam, wurde mir schlagartig klar, wie es methodisch umsetzbar ist.
Was ist für dich der Indikator, der dir signalisiert, dass du auf so einen großen Gedanken gekommen bist?
Diese beschriebene innere Aufregung vielleicht, oft aber auch eher ein Erschrecken, eine Furcht: Wirklich? Muss ich das wirklich machen? Und auch wenn ich es manchmal fast als Zumutung empfinde, ist klar, dass ich muss. Klingt nach einem furchtbaren Künstlerklischee. Ich hab beschlossen, Künstler zu werden, als ich mit 13 Jahren die freilich sehr kitschige Biographie van Goghs gelesen habe. Aber so erleb ich es nun mal.
Dieser Entschluss ist ein wesentliches Moment in einer Biographie, wonach sich ergibt, wie mit Ideen, Gedanken etc. umgegangen wird.
Auf jeden Fall. In Lacan’schen Begriffen wäre es das Objet A, ein Nichts am Horizont, dem man folgt, bis es wahr geworden wird. Eine Illusion im Kopf, von der ich nicht ablasse, bis sie Wirklichkeit geworden ist.
Und diese Wirklichkeit zersetzt du dann mit deinen Arbeiten, indem du Unbeständigkeiten der menschlichen Wahrnehmungen aufzeigst?
Der Fachausdruck wären die verschiedenen Register, in denen der Begriff Wirklichkeit spielt Das wirklich gewordene Werk, was jetzt also auf meiner Werkliste steht, zu einer Aufführung kommt oder installiert wird, ist natürlich ein anderes Register als die Thematisierung von Wirklichkeit IN meiner Arbeit. Denn dort geht es ja meist nicht um die Wirklichkeit des Stücks an sich, sondern um einen spezifischen Wirklichkeitsbegriff, der, wenn wir beim Beispiel des Phonorealismus bleiben, in der Musikgeschichte eine ziemlich geringe Rolle spielt, also nämlich das Ab-Bilden von Wirklichkeit, ganz im Gegenteil zur Bildenden Kunst, wo es bis zum Zeitalter der Abstrakten Kunst einen zentralen Wert innehatte. Ein traditionelles Musiksetting mit dem Wirklichkeitsbegriff, zum Beispiel Straßengeräuschen in Begegnung zu bringen, versprach also spannend zu werden und völlig neue Fragen und Kontexte aufzuwerfen. Das war nur der erste Schritt, der Mitte der 90er-Jahre methodisch ausgebreitet werden konnte.
Und dann kamen die „elektronischen Jahre“?
Sehr bald ergaben sich daraus Fragen der Wahrnehmung. Zum Beispiel wenn in den Stücken für computer-gesteuertes Klavier das Klavier eine Annäherung an das Sprachliche vornimmt, eigentlich nur eine vage, spektrale Annäherung zu sein vermag, weil das Klavier die Sprache ja nicht direkt wiedergeben kann, aber einen gewissen Eindruck der Stimme repräsentiert. Durch etwas Unterstützung mit Untertiteln meint man sogar, das Klavier sprechen zu hören. Dieses „Erkennen“ des Stimmklanges ist natürlich eine Illusion. Sie funktioniert ohne Untertitel nur mit sehr bekannten Texten oder eben durch Mitlesen von Untertiteln. Da trickst unser Gehirn, wenn es das Gelesene, also angeeignetes Wissen, auf das Gehörte projiziert, offenbar geht Lesen schneller als Hören. Unter Umständen kann man im Klavierklang Vokale ausmachen, wenn man sich bereits auf der Fährte des Sprachlichen befindet. Sonst hört man ohne Text aber einfach nur ein wildgewordenes Klavier. Es bestehen also zwei völlig verschiedene Wirklichkeiten zwischen akustischem und projiziertem Hören. Eigentlich ist das wildgewordene Klavier das Reale und die vermeintlich verstandene Sprache das Imaginäre.
Die Quadraturen klingen wie ein syllabische Pianospiel – tragen die Klänge von Sprache und Instrument zur vermeintlichen Spracherkennung bei oder ist es eher der Rhythmus?
Das ist abhängig von der Methode. Wenn das Computerklavier mit seinen sehr vielen Anschlägen spielt, ist es nicht genau das rhythmische Empfinden, hat aber etwas mit Zeitlichkeit in einem nicht mehr wahrnehmbaren Bereich zu tun, nämlich der Höhe der Auflösung. Sprachnähe kommt erst bei sehr hoher Informationsdichte zustande. Das Computerklavier spielt ja entsprechend der physikalischen Repetitionsfähigkeit einer Taste, was ungefähr bei 16 Anschlägen pro Sekunde liegt. Ein Pianist könnte dieses Tempo auf einer Taste mit entsprechender Finger-Doppelhand-Technik zwar durchaus für einen kurzen Moment erreichen, aber das Computerklavier vermag das auf der gesamten Klaviatur gleichzeitig zu tun und jeder dieser Anschläge kann eine andere Dynamik haben. Solch eine Informationsdichte kommt dann der der gesprochenen Sprache gleich, es ist ja unglaublich, was in einer Viertelsekunde gesprochenen Wortes an phonetischem Material steckt. Insofern gibt es eine zeitliche Komponente, die den Spracheindruck realistisch werden lässt.
Ist dir das zufällig begegnet? Was spielen Sprache und Sprechen in deinem Kosmos für eine Rolle?
Diese Frage führt natürlich sehr weit. Als Jazzmusiker hab ich die Frage sehr exzessiv abgearbeitet. Gerade vor meiner Freejazz Cecil-Taylor-Wolke gab es immer noch sehr sprachorientierte Klavierlinien, ich wollte mit meinem Instrument sprechen. Als ich mich dann mit Komposition zu beschäftigen begann, mein erster inoffizieller Lehrer war ja Gösta Neuwirth, ein sehr kritischer Kopf, wurde das sprachähnliche in der komponierten Musik problematisiert. Diesen Faden hab aufgenommen und immer weiter verfolgt: ich wollte der Musik diese Sprachorientierung austreiben. Ich war mir ihrer sehr bewusst, mehr als heutige sprachähnliche Komponisten der Szene. Leuten wie Lachenmann oder Sciarrino scheint dieses Bewusstsein vollständig zu fehlen, da deren Musik sehr rhetorisch aufgebaut ist, erzählend funktioniert. Folglich hab ich meine 80er-Jahre damit verbracht, mich davon zu befreien. Aber neben der Aleatorik von John Cage und dem Frühwerk von Boulez, eigentlich nur den structures, gibt es kaum Musik, die nicht sprechen will. Ich suchte nach etwas Abstraktem, einem Tableau, das ich in der Mitte teile, die eine Hälfte färb ich blau, die andere grün – eine völlig andere Organisationsform. Hier war mir wieder vor allem die frühe abstrakte bildende Kunst hilfreich. Die Frage also: Was könnte ein Mondrian in Musik bedeuten? Mich faszinierten im Freejazz auch der Zustand, wenn das ganze Ensemble auf ihrem absoluten Maximum tobt, dann konnte der Raum mit Klang angefüllt sein, dass es ganz still wurde, wie ein Fläche, wie Wasserfall, einfach Alles. Das Sprechen war weg, die Musik musste nicht mehr irgendwohin, sie war schon am Höhepunkt und blieb einfach dort, wenigstens für einen Moment. Das waren Sehnsuchtsmomente für mich, diese habe ich im Freejazz geliebt und gesehen. Und man kann wahrscheinlich wenigstens emotional, vielleicht sogar strukturell, eine direkte Verbindung zwischen solchen Situationen des absoluten Höhepunkts im Freejazz und meiner späteren Beschäftigung mit dem Weißen Rauschen sehen, denn das ist ja physikalisch-akustisch auch Alles.
Alle Farben tendieren am absoluten Maximum ihres Zusammenspiels zum Weiß …
In meinen ersten Instrumentalkompositionen Anfang der 90er-Jahre hört man, wie ich versuche, dieses statische Rasen in Noten zu übertragen. Verkündigung beispielsweise ist wie ein superleiser Freejazz. In Der Regen, das Glas, das Lachen kündigt sich auch das Rauschen schon an; es ist genau die Synthese des Rasen vom instrumentaltechnischen Maximum und dem Stillstand des Rauschens, dem Wasserfall quasi. Mit diesem Stück wusste ich auch, dass ich nun nicht mehr weiter komme mit Instrumenten und begann mich in den elektroakustischen Studios nach neuen Methoden umzusehen.
Also eine Suche nach der puren Musik, die eben nicht rhetorisch agiert, um dann aber das Rauschen mit Sprache wieder begegnen zu lassen?
Rauschen und Sprache kommen seltener vor in meinen Stücken, aber dort geht es genau nicht darum, die Rhetorik zu rekonstruieren, sondern zum Beispiel bei Das Wirkliche als Vorgestelltes darum, dass Sprache mit Rauschen übermalt wird und dann in diese Übermalungen einige Frequenzfenster geschnitten werden und nur eine bestimmte Frequenz der Stimme übrigbleibt. Ein Fenster bei 100 Hz lässt beispielsweise alle Farben von Vokalen und Konsonanten verschwinden, es bleibt ein dumpfes Raunen; schneide ich das Fenster bei 3000 Hz sind nur noch die Kanten der Konsonanten hörbar. Es ist also eine rein skulpturale Betrachtung von Sprache hinsichtlicher ihrer verschiedenen klanglichen Bereiche. Anders natürlich bei Voices and Piano, meinem meistgespielten Stück: Sprechen und Sprache sind durchaus prominent platziert, trotzdem wird aber nicht die Musik rhetorisch, eher analytisch auf die abstrakten Merkmale der Sprache, deren Spektralelemente hin organisiert. In einem zweiten Zugang gibt es wieder sehr viel, was man rhetorisch nennen könnte, weil ich durchaus symbolisch operiere und das Material in einem ikonischen Sinne entsprechend dem Motiv behandle. Wenn ich beispielsweise einen Billy Holiday portraitiere, wird der Klavierpart also ein bisschen Bebob werden. Dabei muss ich viele Entscheidungen treffen, auf welche Weise das Sprachmaterial analysiert, in welcher Geschwindigkeit, mit welchem Raster es abgetastet wird, was später den Rhythmus ergibt. Anschließend stellt sich die Frage nach der Anzahl und Qualität der Töne, die ich wissen will. Oder ist überhaupt das ganze Spektrum von Interesse? Eine polnische Stimme arbeitete ich zum Beispiel nur in den höchsten beiden Klavieroktaven ab, weil die polnische Sprache mit ihren Konsonanten in diesem Spektrum so reichhaltig ist.
Aber die prominenten Beispiele wie Fidel Castro oder Freud hast du doch nicht wegen ihrer stimmlichen Qualitäten ausgewählt?
Ich hab sehr lange über ein Kriterium für die Auswahl der Stimmen für diesen Zyklus nachgedacht und musste alle Optionen nach und nach verwerfen bis nur noch das Persönliche blieb. Ich bestehe nun also darauf, dass ich eine persönliche Beziehung habe zu dem oder der, den/die ich wähle, was aber nicht bedeuten muss, dass ich die Stimme bereits kenne. Ich habe Morton Feldman gewählt, weil ich ihn verehre, aber als ich seine Stimme zum ersten Mal hörte, war ich schockiert!
Ein buchstäblicher Point of no return war für dich die Erkenntnis, dass ein Roggenfeld anders rauscht als beispielsweise Weizen, was dir in den Jahren zuvor nicht aufgefallen war. Gibt es eine Erinnerung des Gehörten?
Für mich geht es hier eher um die Konditionierung des Gehörs, dass wir bestimmte Dinge gar nicht hören, wenn wir sie nicht gelernt haben zu hören. Dann sind sie gar nicht da, existieren nicht und wir müssen sie erst konditioniert haben. Das Rauschen des Getreides spielte lange Zeit keine Rolle, weil wir es nicht gelernt haben, auf den Unterschied zu achten. Umgekehrt gibt es aus der Frühzeit der Ethnologie Anfang des 20. Jahrhunderts die Erzählung, dass ein Forscher in einem afrikanischen Stamm eine Beethoven-Sinfonie auf einer Schellack-Platte vorgespielt hat und die Eingeborenen nichts gehört haben, weil diese Musik für sie keinen Sinn, keinen Orientierungswert hat. Hier schließt sich unser Gespräch zum eingangs Besprochenen, wo der Klang mit und ohne Untertitel zwei völlig verschiedene Welten offeriert, je nach Konditionierung fühle ich mich in der einen oder der anderen wohler. Und da frage ich mich: Ja, was zum Teufel ist denn nun Wirklichkeit?
Zusammen mit der Erkenntnis, dass Wirklichkeit nur durch Konditionierung erfahrbar und augenblicklich dadurch eben auch eingeschränkt wird. Gegenseitige Verschwisterung und Ausschluss zugleich … Sind Field Recordings in deiner Arbeit daher zum bloßen Material geschrumpft?
Ich möchte hoffen, dass ich nein sagen darf. In meinen prominenteren Arbeiten ist es vielleicht so, dass man Field Recordings „Material“ nennen könnte, aber es gibt ja gleichzeitig so etwas wie das Buch der Gesänge – 100 Fieldrecordings auf 6 CDs höchst alltäglicher Dinge eines Stadtmenschen, die wie ein Fotoalbum gestaltet sind. Ein unbearbeitetes Field Recording ohne Schnitte, ohne ein Narrativ oder irgendeine besondere Attraktion so einfach darzustellen, schien mir zu seinem Entstehungszeitpunkt, total neu. In der Bildenden Kunst wurde längst Alltägliches fotografiert, etwas Vergleichbares gab es in der Musik nie. Alltagsfotografien hängen in jeder Zahnarztpraxis, aber Aufnahmen des Alltags hört man nirgendwo. Statt einer skulpturalen Installation dieser CDs war es schliesslich viel eindrücklicher, sie in Konzertformaten, bestenfalls klassischen Konzerten, einzuprogrammieren. Nach einem Klarinettenstück höre ich diese Alltagsklänge plötzlich wirklich wie Musik.
Soll der Hörer das Hören lernen?
Pädagogisch begreif ich mich nicht, auch wenn der erzieherische Aspekt bei Künstlern bis gerade eben noch, gerade in der Neuen Musik, sehr vorherrschend, also traditionell war. Ich möchte nur das herzeigen dürfen, was mir als aufregend begegnet, nicht anders als ein kleiner Junge.
Beim Arboretum geht es auch um Field Recordings. Wurde dieses Werk von einem ökologischen Gedanken getragen?
Nein, mir ging es um das Abstrakte: Eine Aufnahmeserie von 18 Bäumen, jeder Baum 40 Sekunden. Aus dem aufgenommenen Material hab ich jeweils den Ausschnitt gewählt, der am glattesten war, der nur die Farbe hat. Viele Bäume hab ich leider nur im Stürmischen erlebt, da gibt es keinen glatten Moment. Bei der Eiche zum Beispiel oder den Birken aber gibt es so gut wie keine Bewegung, die sind wunderschön, glatt, pure Farbe. Das Konzept war eigentlich ein post-minimalistisches Stück, in dem 18 kleine Quadrate in ihren Grau-Nuancen voneinander abweichen. Der entscheidende Punkt ist der Schnitt zwischen zwei Bäumen. Der Moment, der aus der Zeit rausfällt, der in der Wirklichkeit eigentlich gar nicht existiert. Erst wenn ich von einem Baum zum anderen wechsle, erlebe ich die Unterschiedlichkeit der Farbe. In der Natur hätte ich ein Cross-Fade und keinen Schnitt, könnte das also nicht so wahrnehmen, die eine Farbe blendet in die andere über. Ein Schnitt offenbart mir etwas ganz anderes. Mit meiner Arbeit hab ich verstanden, dass das, was die Welt ist, quasi das Analoge, das Kontinuierliche ist. Das Erkennen macht Unterschiede, führt irgendwo diese Schnitte, eine digitale Stufe ein. Die Anwendung von Worten zur Beschreibung dieser Wirklichkeit ist genau dieser Prozess, etwas Digitales. Wir machen einen Schnitt, indem wir zu einer Sache sagen, dass sie blau ist, weil sie eigentlich etwas viel Komplizierteres ist. Wir machen Schnitte und reduzieren auf ein paar Stufen, weil wir nur wenige Farbworte zur Verfügung haben, wählen eine Tonleiter, obwohl die Tonhöhen zwischen zwei Halbtönen schon unendlich sind. Auch Schrift ist digital, alles Muster, die wir zur reduzierten Abbildung anwenden. Dabei zerstören wir die analoge, sich selbst genügende metaphysische Wirklichkeit, die es natürlich so nicht gibt.
Das heißt, im Beschneiden dieses Wirklichen wird es für uns fassbar, erst erkenntlich.
Ich bin ganz naiven Annahmen gefolgt und hab dann in meinem Werk diese fundamentalen Erkenntnisse geschöpft.
Also hast du Antworten auf Fragen gefunden, die du gar nicht gestellt hattest. Wie arbeitest du nach so einer Bewusstwerdung dann weiter?
Ich entdecke etwas, woran ich nie gedacht habe. Gleichzeitig entdecke ich in uralten Aufzeichnungen, dass ich so etwas schon einmal gedacht hatte. Nur war es noch nicht verstanden oder ich hatte zu der Zeit noch keine Antworten gehabt. Die Fragen hatten schon einmal mein Gehirn gestreift, ich war nur noch unfähig, sie weiterzuverfolgen, es hat mein Fassungsvermögen überstiegen. Ein Geistesblitz schnell niedergeschrieben und schon kurz darauf nicht mehr nachvollziehbar für mich. Da muss mir ein Engel durch’s Gehirn gerauscht sein, hat mir eine kleine Falte gezeigt und ich hab’s schnell im Notizbuch festgehalten. Und Jahre später finde ich den Zusammenhang. Im ständigen Bemühen, zu etwas Anderem hinzukommen, lässt sich feststellen: Es ist immer das Gleiche. Mein einziger Trost ist dann dieser Heidegger-Satz: Jeder große Geist hat nur einen einzigen Gedanken.
Birgt diese Erkenntnis nicht auch etwas Kränkendes?
Meine persönliche Haus-Metaphysik-Metapher schon als Jugendlicher ist so ein Eschersches Gitter, in das wir unendlich hineingehen. Man geht zwar fort vom Hintergrund, aber es bleibt trotzdem immer gleich. Also wir bleiben nicht stehen, aber trotzdem bleibt immer alles gleich. Ein Konzeptstück von mir heißt Weiss/Weisslich 28 und besteht nur aus zwei Worten: „Gehen Aufnehmen“. Man läuft durch die Stadt und lässt ein Mikrofon an sich herunterpendeln, nimmt also seine Schritte auf. Das heißt, wir gehen und gehen, kommen also auch irgendwo hin, aber wir bleiben uns immer gleich nahe.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at.
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