David Six
Übezeit ist die wertvollste Zeit
Zwischen Gelsensurren und Rabenkrähen spricht David Six im Türkenschanzpark direkt nach einer Aserbaidshan-Tournee eigenwillig verhalten. Doch je näher es inhaltlich den Tasten kommt, desto strahlender werden die Gedanken. Eine Reise durch Klanglandschaften, Bioressourcenmanagement und Instrumentalfelder.
Dance with the Ghosts soll eine Trilogie werden: eine Einspielung mit Quartett, mit Sextett und Werken für SolistInnen.
So ist es. Das Quartett wurde schon Anfang des Jahres veröffentlicht. Das Sextett wird am 21. September im Rahmen von einem Releasekonzert im ORF Radiokulturhaus Wien präsentiert. Der dritte Part kommt später im Jahr. Es sind dies dann Stücke für SolistInnen, gar kein festes Ensemble, sondern einzelne Werke für die Gitarristin Zsòfia Boros, den Saxophonisten Andrej Prozorov , für Solo-Klavier, das ich selbst spiele, für den Trompeter und Zither-Spieler Simon Zöchbauer und weiteren Stücken für zwei Schlagwerke, bedient von András Dés und Amir Wahba.
Du hast diese Stücke vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Flüchtlingssituation entwickelt.
Eines davon – das erste. Die Flüchtlingssituation war die Initialsituation zu dem Projekt. Erstmals ich habe ich da Musik ganz gezielt zu einem bestimmten Zweck komponiert. Davor entwickelte ich einfach nur Musik, wo mir die Kompositionsstruktur oder die gefundenen Klänge zugesagt haben. Das ist eine eigentlich ganz übliche, häufige Vorgehensweise in der instrumentalen Musik und das ist auch gut so. Nur dann war das Stück Moria plötzlich da und ich habe angefangen mehr darüber nachzudenken.
So plötzlich kann das ja nicht sein. Du hast dir einen außereuropäischen Zugang zur Musik gelegt …
Ich habe vor ca. zehn Jahren begonnen, indische Musik, hauptsächlich Percussion, zu studieren. Das habe ich in Berlin angefangen und später in Colombo, New Delhi und jetzt hier in Wien fortgesetzt. Begonnen habe ich auf der südindischen Mridangam und später auf den Tablas weitergemacht. Ich höre häufig indische, aber auch sehr viel iranische, bulgarische, georgische Musik.
Du kanntest die Musik von Hesam Inanlou, bevor du mit ihm zusammen spieltest?
Genau. Ich hab Hesam 2017 kennengelernt, als ich auf einem Klavierfestival in Teheran auftrat. Dort war auch der Pianist und anerkannte Filmkomponist Peyman Yazdanian, er hatte mich mit Hesam in Kontakt gebracht. Hesam spielt Kamantsche, ein iranisch-persisches Instrument, das wunderschön klingt und so gut mit dem Klavier zusammenpasst.
Mit welcher Musik bist du sozialisiert? Was hast du gehört, bevor du zum Musikstudium kamst?
Ursprünglich traditionelle österreichische Volksmusik. Ich komm ja aus dem Salzkammergut, wo es eine ganz spezifische Musiktradition gibt, die meine Eltern in verschiedenen Gruppen gespielt und zu Hause auch oft geprobt haben. Kontrabass, Gitarren, Okarinas und Gesang waren quasi Muttermilch für mich. Mein Vater spielte den Kontrabass aber auch im Kirchenchor: Schuberts große Messe in C, Diabellis große Messe in C die ganzen Mozart-Messen. Da hab ich dann diese Musik kennengelernt, die heute so tief berührt, wie kaum eine andere. Irgendwann begann ich Klavier zu spielen und lernte klassische Stücke. Vor dem Klavierstudium hab ich mich aber eher zu den Beatles und Pink Floyd hingewandt und die gesamte Jugendzeit eher elektrische Gitarren gespielt, weniger Klavier. So wuchs ich auch immer mehr in den Jazz hinein. Zu dritt mit dem Bratschisten Johannes Pennetzdorfer und dem Gitarristen Andreas Haidecker entdeckten wir gemeinsam schon in der Schulzeit sehr viel Musik. Johannes hatte mit seinen zwei älteren Brüdern, beides Philharmoniker, richtig gute Jazz-Aufnahmen – damals waren CDs noch nicht so selbstverständlich zugänglich wie heute. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir lange auf neue CDs gespart und gewartet haben. Jedenfalls hatte Johannes’ Plattensammlung uns ziemlich die Ohren geöffnet.
Daran kann ich mich auch erinnern. Und es war toll, CDs erwerben zu können, weil die haltbarer waren als Tapes. Die beinhalteten oft eigene Aufnahmen, aber die Musik auf CDs ließ sich halt länger bewahren. Für dich war der Umgang mit Instrumenten aber total selbstverständlich …
Ja, schon irgendwie. Es gibt so eine Anekdote, die mir öfters erzählt wird: Als wir auf der Volksschule gemeinsam musizierten, ich weiß nicht mehr, welches Instrument ich da spielte, fragte mich eine Lehrerin: „David, soll ich dir zeigen, wie’s geht?“ Und meine Antwort war offenbar etwas brüskiert: „Nein, ich weiß es eh längst.“ Also musikalisches Talent scheint es also bei mir gegeben zu haben. Ich habe aber nichts dafür getan, es war einfach da.
Glück ist doch aber, wenn du damit dann etwas anfangen kannst. War es denn ein ganz leichter Schritt zum Klavierstudium?
Nein, das kann ich nicht behaupten. Es stand lange im Raum, dass ich den Hof und den landwirtschaftlichen Betrieb meiner Großeltern übernehmen sollte. Dass ich so ganz die berufliche Richtung ändern wollte, war nicht leicht, denn es gab ja in der Gegend auch für mich selber keine konkreten Vorbilder, auf deren Erfolg ich hätte verweisen können. Es haben zwar immer alle Musik gemacht und auch komponiert – aber halt eben nicht beruflich. Mir wurde erst viel später klar, dass es tatsächlich klappen kann, beruflich Musiker zu sein und damit mein Brot zu verdienen.
Die mangelnden Vorbilder erschweren vielleicht den Weg, aber deiner scheint sehr schnurgerade zu verlaufen.
Naja. Ich hab zuerst hier um die Ecke an der BoKu studiert: Umwelt- und Bioressourcenmanagement, bevor ich mich der Musik zugewendet habe.
Richtung Landwirtschaft. Zukunftsträchtig wär es ja, sich in irgendeiner Form mit Natur zu beschäftigen …
Das steht für mich mittlerweile schon wieder im Raum, weil es eben toll ist, Arbeit zu verrichten, deren Auswirkungen man unmittelbar spüren kann. Das fehlt speziell beim Komponieren ja sehr oft. Man sieht dabei die Früchte seiner Arbeit erst sehr spät. Manchmal dauert es Jahre. Dafür ist es dann aber umso schöner, wenn etwas gelingt.
Was also brachte dich dann zum Musikstudium?
Ich spielte seit meinem zwölften Lebensjahr in Bands. Ein Saxofonist aus der ersten Band empfahl mir das Musikstudium in Linz. Auch die Brüder eines Freundes hatten dort Musik studiert. Irgendwann wollte ich das auch für mich: Gleich nach dem Hauptschulabschluss an das Stiftergaymnasium in Linz wechseln und während der Matura bereits ein Vorstudium absolvieren. Ich durfte das damals aber nicht. Also bin ich später zuerst hier auf der BoKu gelandet. Aber aus dem Radio kannte ich Christoph Cech, der auch der Institutsleiter vom Institut Jazz & Improvised Music an der Bruckneruni in Linz war. Der hat mir irgendwie getaugt – auch seine Stimme und die Klarheit, mit der er gesprochen hat – also hab ich ihn angerufen und ihm später vorgespielt. Darauf hin hat er mir empfohlen, die Aufnahmeprüfung für Klavier zu machen und die hab ich auch bestanden.
Und da hast du dann gelernt, wie man daraus einen Beruf macht?
Nein, leider, das kann ich nicht behaupten. Auf der Uni habe ich das Klavierspielen gelernt und mich total darauf konzentriert, speziell auf den klassischen Schwerpunkt. Man lernt dort, wie man auf dem Klavier zu einem Ton kommt. Ich hatte dort sehr gute Lehrer. Auf der Jazz-Abteilung hab ich im Wesentlichen das gemacht, was mich interessiert und hatte auch dafür eine gute pädagogische Begleitung.
Aber an der Uni lernt man in erster Linie, sich mit etwas auseinanderzusetzen, man bekommt quasi die Erlaubnis dafür. Ich hatte nach meiner Inskribierung als Musikstudent auch eine Rechtfertigung, nicht noch zwei andere Jobs nebenbei zu machen oder in der Landwirtschaft zu arbeiten. Diese Freiheit war mir sehr wichtig. Meine Hauptaufgabe war es, zu üben. Das habe ich sehr genossen. Es ist auch jetzt immer noch das Schönste. Die Übezeit ist die wertvollste Zeit. Die Idee zur Beruflichkeit des Klavierspielens kam eher nach dem Studium, als ich direkt danach nach Berlin gegangen bin und zu meinem alten Freund Johannes, der mittlerweile Bratsche bei Tabea Zimmermann studierte, in die WG zog.
Diese Wohnung war ein Konzertraum?
In dieser WG gingen zahlreiche MusikerInnen ein und aus, Jazz-MusikerInnen und klassische, heute alle wohlbekannte Persönlichkeiten in der Musik. Diese WG war quasi ein musikalischer Hotspot, ausgestattet mit zwei Klavieren, Orgeln, Schlagzeugen, Kontrabässen, Bratschen, Geigen, Tuben, Susaphon, Trompeten, Klarinette – einfach irgendwie allem. Dort habe ich auch gesehen, dass es funktioniert, freiberuflich zu musizieren und vor allem unter eigener Flagge zu segeln, Projekte umzusetzen, als Solokünstler aufzutreten, als Bandleader usw. Das war damals sehr inspirierend und wichtig für mich. Mindestens so wichtig, wie das Musikstudium selbst.
Du lerntest Stargaze da kennen.
Genau. Ich bin in das Projekt mehr oder weniger reingefallen und hatte einfach Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
… mit den geeigneten Fähigkeiten. Und very open-minded Menschen. Stargaze spielt ja von Hip Hop über Minimal …
… zu neuen Beethoven-Arrangements bis hin zu Ligetis Cellokonzert. Ganz gemischt eigentlich. Wir hatten auch viel Bach gespielt, Barockmusik, Hiphop, Neue Musik und natürlich unsere eigenen Werke. Sehr spannend war bei diesem Ensemble auch von Anfang an, dass der Gründer des Ensembles, André de Ridder, sehr gute Connections zu allen großen Konzerthäusern und Festivals hatte, da er damals auch schon die L.A.-Phil oder das BBC-Orchester und dann wieder die London Philharmonic dirigiert und Aufnahmen mit Marilyn Manson und allen Top Größen gemacht hat.
Es hat dich nicht weiter Richtung Pop getrieben?
Nein, das ist doch eine ganz andere Schiene. Pop ist ganz stark mit Gesang verbunden. Dafür hab ich eigentlich gar nicht so das große Interesse – auch wenn es dabei natürlich Ausnahmen gibt.
Genau, mit Mira Lu Kovacs hattest du ein Duo.
Das ist richtig. Mit Mira hab ich studiert und in einigen Bands gespielt. Die Zusammenarbeit mit ihr war sehr schön. Es gibt ja Menschen, deren Stimme schon soviel mitbringt, dass der Text für mich gar keine so wichtige Rolle mehr spielt. Lisa Hannigan gehört auch dazu oder Golnar Shahyar. Ich kann mich aus der Zeit mit Mira daran erinnern, dass sie damals oft von Wien und den musikalischen Entwicklungen in der Stadt geschwärmt hat. Ich pendelte noch viel zwischen Wien und Berlin. Aber für mich war das damals schon zu spät, ich musste raus aus Wien und Berlin war augenöffnend für mich. Es gab dort so gute Jazz- und Impro-MusikerInnen. In Wien beobachte ich jetzt einige Entwicklungen, die es damals in Berlin schon gab. So Sachen, wie sie damals schon Stargaze angestrebt hat. Oder das Ensemble Kaleidoskop oder Resonanz in Hamburg. Eine Offenheit, die mir damals in Wien gefehlt hat.
Auch ihr geht es um die Musik selbst. In deinem früheren Quintett David Six’ Matador ist sie auch dabei. Du hast aber auch ein neues Trio: Karunadevi. Das klingt nach Indien.
Der Titel rührt eher von meiner buddhistischen Geisteshaltung. Karunadevi ist die Gottheit des Mitgefühls auf Pali. Mir gefällt das Bild, dass man diese Gottheit durch das gemeinsame Improvisieren ehrt. In dem Karunadevi-Trio spielt Mario Rom Trompete und Tilo Weber Schlagzeug. Wir haben gerade unser erstes Konzert in Baku, Aserbaijan gespielt. Tatsächlich gibt es aber demnächst sogar noch ein weiteres, sehr spannendes Trio, wieder mit Tilo Weber am Schlagzeug und dem ungarischen Saxofonisten János Ávéd. Im Herbst sind dafür Aufnahmen in Budapest geplant. Wir haben uns letztes Jahr kennengelernt und gemerkt, dass wir sehr gut miteinander funktionieren, gleich ein Label gefunden, BMC, dass die Aufnahmen produziert und jetzt freu ich mich schon sehr auf diese Arbeit.
Wann ist denn das Musikschreiben bei dir dazu gekommen?
Komponieren war von Anfang an Bestandteil vom Musikstudium. Mein Lehrer Martin Stepanik hatte mir das nahegelegt und für mich war das irgendwie selbstverständlich. Schon in unserer Jugendzeit bin ich mit ein paar Freunden öfter zu einem Sommerworkshop nach Salzburg namens Jims: Jazz and Improvised Music Salzburg vom Bassisten Peter Herbert gepilgert. Dort haben Koryphäen wie der Schlagzeuger Jim Black, der Bassist Skúli Sverrisson oder der Gitarrist Wolfgang Muthspiel unterrichtet. Und damals wurde schon klar, dass das Wichtigste für uns sein wird, einen eigenen Sound zu entwickeln. Ein gutes Tool dafür ist es natürlich auch die eigene Musik zu schreiben und so war der Gedanke, zu Komponieren, für mich von Anfang an mit dabei.
Die Suche nach dem eigenen Sound geht also damit einher, eigene Stücke zu denken?
Ja schon. Aber auch einen einzigartigen Spielstil zu entwickeln. Am Klavier zum Beispiel einen eigenen, wiedererkennbaren Anschlag zu finden. So etwas gehört zu den großen Aufgaben im Leben von uns PianistInnen. Für Ensembles zu schreiben, war für mich als Mitglied im Ensemble Stargaze dann irgendwie naheliegend und seitdem hab ich damit auch nicht mehr aufgehört.
Das Soloalbum Karkosh mit eigenen Stücken anstelle der Interpretation klassischer Werke ist also ganz folgerichtig für dich. Anschließend bekam deine Musik mit Moria und Dance with the Ghosts eine politische Komponente.
Genau, wobei das Album Karkosh nicht das erste meiner Alben war, auf dem ich die Musik selbst komponiert hatte. Davor kamen das Solo-Album In the Rosewood Forrest, ein Live-Album von David Six’ Matador und und noch welche, wo ich als Co-Leader komponiert hab.
Von Anfang an hast du über die Landesgrenzen geschaut.
Das erste Stück auf meinem ersten Album, genannt Maramuresh ist von rumänischer Musik inspiriert, aber auch Brahms’ späten Klavierstücken.
Du spielst ja auch Percussion und hast für Percussion-Ensembles komponiert. Ist das Klavier für dich ein Rhythmusinstrument?
Klar, man schlägt am Klavier eine Taste an und der Ton ist da. Es ist aber natürlich auch ein Melodieinstrument und in Sachen Harmonie ziemlich brauchbar. Das Klavier ist ein sehr universales Instrument. Klavier kann sehr vieles! Und das Spielen auf dem Instrument ist schon ziemlich geil, es macht Spaß und kann sehr erfüllend sein. Ich möchte jeder Person, die noch nicht Klavier spielt anraten, es doch gleich anzufangen!
Musikmachen ist immer spirituell, hast du einmal gesagt. Folge ich deiner Musik, spüre ich das sehr, werde zum Schweben gebracht und lande aber doch beizeiten sanft in einem Bass. Ist das für dich ein Erden, wie es Tahereh Nourani einmal beschrieben hat?
WAS das Klavierspielen ist, kann ich nicht genau sagen. Aber eine spirituelle Angelegenheit ist es auf jeden Fall. Und mich persönlich erdet das Spiel auch insofern, als dass ich mich selbst ohne zu Spielen gar nicht gut aushalten kann. Ich brauche es, um gesund zu sein.
Du nummerierst deine Stücke, schaffst einen Werkkatalog. Das verrät auch viel über dein Selbstverständnis und deine Organisation. Sind deine Werke wie zum Beispiel das Mallet-Quartet (op. 103) geplant?
Diese Arbeit war eine Auftragsarbeit vom Amsterdam Mallet Collective und dadurch schon eingeplant. Mich hat bei dieser Arbeit angesprochen, dass die zwei Marimbas und die zwei Vibraphone, für die ich geschrieben hab, zum Klavier sehr artverwandt sind. So sehr, dass ich diese wie bei der letzen Tour mit Stargaze auch manchmal selbst spiele.
Generell kann ich aber sagen, dass ich meine Werke nicht im Vorhinein plane. Manche Stücke kommen einfach von selberst, andere entstehen über längere Zeiträume. Die Nummerierung und Organisation in Opus-Zahlen hilft mir dabei, den Überblick nicht zu verlieren.
Es gibt von Dir auch das Buch Composing Techniques based on Indian Classical Rhythmical Structures. Das bezeugt viel theoretische Auseinandersetzung mit der indischen Kunstmusik.
Diese Musik beschäftigt mich schon lange, ja. In dem Buch geht dabei aber auch ganz viel um eigene, neue Theorien, die ich entworfen habe, um die komplexen rhythmischen Strukturen der indisch-klassischen Musik in Kompositionstechniken für westliche MusikerInnen umzumünzen. Im Prinzip sind die präsentierten Ergebnisse Matrizen, um rein rhythmische Ideen so zu adaptieren, dass daraus neue Melodien und oder auch harmonische Sequenzen entstehen können.
Gar nichts Rhythmisches?
Nein, das Ausgangsmaterial ist ja pure rhythmische Struktur. In dem Buch geht es mir um deren Verwandlung und um die Frage, was ich damit noch so machen kann. Das Ursprungsmaterial selbst ist dabei schon super spannend und quasi unendlich tief, man kann in diese locker ein Leben lang eintauchen. Für mich war aber auch die Frage interessant, was ich mit diesem Material, das mich so interessiert, am Klavier oder am Papier noch so machen kann.
Du hast probiert, Übersetzungen zu finden, und dann irgendwann gemerkt, dass es für ein Buch reicht?
Ursprünglich war da der Anlass nur das notwendige Schreiben einer Masterarbeit zu dem Thema. Meine Partnerin und ich haben zu der Zeit damals in Frankfurt am Main gelebt. Dort gab es aufgrund der fehlenden Musikszene für mich die Möglichkeit, mich sehr gut konzentrieren zu können. Und wenn ich nicht auf Tour war, hatte ich zuhause gut Zeit für mich selbst und mein eigenes Ding. Die Materialsammlung ist dort also gut gewachsen. Als ich damit fertig war, bekam ich so viel Anerkennung für die Arbeit, dass ich beschlossen habe, daraus ein Buch zu machen. Besonders schön ist, dass ich dadurch über die Jahre einige Menschen kennengelernt habe, die sich dafür sehr begeistern können.
Besonders schön an Frankfurt war außerdem, dass es dort eine Kirche mit einem tollen Klavier gab, zu der ich den Schlüssel bekommen habe, um dort zu üben. Tag und Nacht. In dieser Kirche war ich schlussendlich deutlich häufiger in der Kirche als der Pfarrer der Gemeinde. Dort findet sich vielleicht auch ein gewisser Anknüpfungspunkt zum angesprochenen Thema der Spiritualität in meiner Musik. Ich habe quasi zwei Jahre in dieser Kirche verbracht.
Und dort dein Klavierspiel ausgefeilt zum eigenen Klang.
So ein großer Kirchenraum mit toller Akustik bringt einen schon dazu, die eigene Rolle als MusikerIn zu überdenken. Mich hat es dort oft sehr weggespaced. Man kann dann gar nicht anders, als das Musikmachen auch als eine spirituelle Angelegenheit anzuerkennen. Es wäre vielleicht anders, würde ich Lyrics schreiben und diese singen. Es gäbe dann immer einen Bezug zu etwas Konkretem, meinetwegen Profanem, oder erkannt-Emotionalem. Beim Instrumentalspiel ist man aber freier und losgelöster. Die Musik kann für sich selber sprechen.
Bei Dance With the Ghosts gab es dann aber doch einen viel konkreteren Umgang mit Material zur Stückentwicklung.
Das stimmt. Ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass Menschen aus meinem Publikum mir nach einem Konzert erzählen, wohin die Musik sie gebracht hat und ich mir bei aller Freude dabei aber auch denken musste, dass diese Orte so ganz andere waren, als diejenigen, die ich als Komponist selbst ansteuern wollte. Das hat mich oft auch irritiert. Also hab ich mir für das Projekt Dance with the Ghosts überlegt, dass ich diese Richtungen, in die die Gedanken meines Publikums beim Musikhören wandern, etwas mehr vorgeben möchte. Als eine Art zwanglose Empfehlung.
Bei Dance With The Ghosts nehmen die meisten Stücke Bezug zu Themen, von welchen ich glaube, dass sie von gesellschaftlicher Relevanz sind. Das entspricht dann meiner Meinung nach auch mehr der Verantwortung, die man als kunstschaffender Mensch trägt, wenn man seine künstlerische Tätigkeit auch als nützliche Funktion innerhalb einer Gesellschaft verstehen will, abseits der unterhaltenden.
Welche Geister meinst du?
Mit dem Projekt ist auch eine existenzielle Frage verbunden: Wer bin ich? Und welche Aufgaben übernehme ich in der Gesellschaft? Hier in Mitteleuropa geboren zu sein, Klavier zu spielen und die eigene Musik einem aufgeschlossenen Publikum präsentieren zu können, manchmal dafür sogar eine öffentliche Förderung zu erhalten, dazu noch das Glück, eine Partnerin und eine Familie zu haben, die einen solchen Lebensentwurf unterstützt, das ist schon ein großes Privileg und wunderschön. Aber die Frage nach der eigenen Rolle erklärt sich dadurch nicht automatisch. Mit dem Projekt Dance With The Ghosts möchte ich also versuchen, den Fokus, den meine Musik vom Publikum bekommt, auch für etwas zu nutzen, das ich außermusikalisch für notwendig und oder gar für übersehen halte. Und ich bin überzeugt, dass das Konzept funktioniert, denn es macht einen Unterschied, ob man zu einem eigentlich wichtigen Thema vielleicht jeden Tag kurz etwas im Newsfeed über-liest, oder man von ein Musikstück zu demselben Thema abgeholt und vielleicht berührt wird.
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Ein Auszug des Artikels ist erstmals erschienen auf www.musicaustria.at
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